TOM SCHIMMECKs ARCHIV
2005

Ach, Abendland

Die Türkei strebt mit viel Hoffnung und Elan gen Europa. Der alte Kontinent aber ziert sich.  Zu dumm.

 von Tom Schimmeck

W
ir grillen Fisch auf der Terrasse meines Freundes Jürgen, trinken Bier und blicken auf Europa. Und zwar gleich doppelt. Links läuft im Fernseher die Fußball-EM. Recht funkelt vor unseren Augen der Bosporus. Da fängt, qua Definition, Europa an. Jedenfalls aus Sicht von uns Fischgrillern – Jürgen wohnt auf der asiatischen Seite Istanbuls.

Mit einer kleinen Fähre hatte ich am letzten Wochenende mal schnell den Kontinent gewechselt, setzte vom Goldenen Horn nach Üsküdar über, für 600 000 türkische Lire, was seit den Inflationswellen der letzten Jahre nur mehr einem halben Franken entspricht. Ich stand auf dem sanft schaukelnden Schiff zwischen vielen Menschen, die von der Arbeit heimfuhren, schlürfte ein Glas Tee und versuchte den kontinentalen Unterschied zu erspüren. Aber keine Spur. Die Sonne schien auf beide Ufer. Hüben wie drüben war es schön.

Auch nur ein abstrakter Gegensatz. Absurd anzunehmen, von Oslo bis Istanbul-West wäre die Welt definitiv europäisch beschaffen und von dort an bis Singapur glasklar asiatisch. Und doch fragt man sich dieser Tage in den Hauptstädten der gewachsenen Europäischen Union, wo genau good old Europe denn zu Ende ist. Die Türkei möchte das nämlich sehr bald wissen.

Immer, wenn es ernst wird mit der
Integration
der Türkei, ruft flugs jemand
"Abendland" und "Christentum"

Wird auch Zeit. Schon 1963 stieß die EWG ihre Tür einen Spalt breit auf und schloss mit der Türkei ein Assoziierungsabkommen. Doch dann taumelte das Land durch Wirren und Militärcoups. Das allerdings verhielt sich beim benachbarten Feind Griechenland (EU-Mitglied seit 1981) kaum anders, ganz zu Schweigen von Spanien und Portugal (Mitglieder seit 1987). Im Madrid herrschte bis 1975 der Faschist Franco. Erst zu dieser Zeit klappte auch das alberne Kartenhaus der Kolonialmacht Portugal zusammen. Nordeuropa investierte trotzdem fröhlich. Und wurde reich belohnt – mit Urlaubszielen, Wein, Kultur, mit Stabilität, Prosperität und neuen Märkten.

Die Pro-Türkei-Allianz ist jetzt recht bunt: Gerhard Schröder und die Griechen, jawohl, stehen zusammen mit Tony Blair und George Walker Bush, als Irak-Machthaber neuerdings südöstlicher Nachbar der Türken. Will er mit ihnen das alte Europa aushebeln? Aber auch die Skeptiker, kolossale Kosten und eine EU-Überdehnung fürchtend, sind zahlreich. Immer, wenn es ernst wird mit der Integration der Türkei, ruft flugs jemand "Abendland" und "Christentum". Eine EU-Mitgliedschaft, brummte kürzlich Jaques Chirac, sei "kurzfristig gewiss nicht wünschenswert". Auch deutsche Konservative sind sehr prinzipiell dagegen. Geistesgrößen pinseln grobe, monochrome Gemälde, die den römisch-byzantinischen Gegensatz zeigen sollen. Wobei Byzanz für rückständiges Verharren, Rom aber für Säkularisierung und Aufklärung stehen soll. Sehr amüsant.

Auf der Terrasse am Bosporus erzählt mir Jürgen von Prinz Cem, Sohn des Sultans Mehmet II., der 1453 aus Konstantinopel die Ottomanen-Kapitale Istanbul machte. Wo übrigens Christen wie Juden nichts zu fürchten hatten. Der junge Prinz Cem, seinem Bruder Bajazid im Erbfolgezwist unterlegen, ließ sich ausgerechnet vom Kreuzritterorden der Johanniter retten, die sich auf Rhodos festgesetzt hatten. Die holten Cem per Schiff, empfingen ihn mit Pomp, nur um ihn sogleich als Geisel zu nehmen, mit Gold belohnt von Bruderherz Bajazid II. Cem wurde nach Frankreich verschleppt, endete schließlich in der Obhut zweier Päpste, die für das Kaltstellen des Prinzen vom Sultan ebenfalls kräftig kassierten. Nach 13 Jahren Geiselhaft schleppte ihn der französische König Charles VIII. auf einen Kreuzzug gen Osten. Cem starb, mit 36 Jahren, schon in Neapel. Ein Prosit auf das Abendland.

Welch ein hübsches Stück europäischer Diplomatie, voller Skrupellosigkeit, Verrat und Gier. "So", sagt Jürgen und greift grinsend zum Bier, "wurde das Osmanische Reich zum European Player". Er hat gerade ein Buch geschrieben, in dem er Luther zitiert. Der fand auch schon, dass die "Papisten die schlimmeren Feinde denn die Türken" seien.

Die Türkei blieb hernach eine feste Größe im europäischen Ränkespiel, verbunden mit Frankreich gegen Spanier und Habsburger, im 19. Jahrhundert dann mit den Engländern, im ersten Weltkrieg schließlich mit den Deutschen. Vor 80 Jahren goss ein Mustafa Kemal, der dadurch zu Atatürk, dem Vater der Türken, wurde, das Fundament für die Säkularisierung und Verwestlichung der Türkei, beendete Sultanat und Kalifat, führte die europäische Schrift ein, entschleierte die Mädchen und schickte sie zur Schule.

Seit über einem halben Jahrhundert ist das Land Mitglied der NATO, geostrategisch so wichtig, dass selbst Bürgerkrieg und Folter bis zum Ende des Kalten Krieges kaum störten. Jetzt reformiert es sich im Galopp. Man will Europa gefallen,  Europa ist hier Synonym für Hoffnung. Aber Europa zickt, kapiert nicht, wie wichtig dieser Brückenkopf ist: Sein Wohlergehen schafft die wahre Allianz gegen den Terror.

Wir schauen auf die Brücke über den Bosporus. Dicht fließt der Verkehr von Kontinent zu Kontinent. Letzte Woche stand die 14-Millionen-Metropole Kopf, da gipfelte hier die Organisation islamischer Staaten. Nächste Woche wird alles stillstehen. Dann kommen alle NATO-Granden, Bush inklusive. Aber wir sind sicher auf unserer Terrasse. Schwelgen in Geschichte. Und stoßen an aufs Abendland.


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