TOM SCHIMMECKs ARCHIV
(2000)

am CERN

"Wir sind alle Publizisten"

Robert Cailliau, Miterfinder des Wold Wide Web,
staunt darüber, was aus seiner Kreation wurde.

Vielsprachiges Stimmengewirr herrscht in der Cafeteria. Sie ist der Marktplatz einer Kleinstadt der globalen Elementarforschung: Des CERN, des weltgrößten Physiklabors am Stadtrand von Genf. Knapp 3000 Menschen arbeiten auf dem großen Gelände voller Bürobauten, Baracken und Hallen, das teils auf schweizer, teils auf französischem Boden liegt. Die Straßen sind nach den Vordenkern benannt: Einstein, Newton, Hertz, Curie. Mit gewaltigem Gerät sucht man nach den allerkleinsten Teilen der Materie.

Hier in der Cafeteria saßen 1990 zwei Computerexperten des CERN, Tim Berners-Lee und Robert Cailliau, zusammen, um einen griffigen Namen für ihre verschrobene Idee zu finden, an die damals noch kaum jemand glaubte: Eine Datenbank, die Dokumente auf Rechnern in allen Kontinenten, allzeit und überall verfügbar und kombinierbar machen sollte. Das Ding, fand Cailliau, sollte nicht, wie es damals Mode war, nach einem Pharao oder einem griechischen Gott benannt werden. Nein, sagte Berners-Lee schließlich, "wir nennen es WWW, World Wide Web".

Tim Berners-Lee ist längst weitergezogen – und hat einen Großteil des Ruhms eingeheimst. Doch der leise Robert Cailliau, 53, arbeitet immer noch am CERN, nun schon mehr als ein Vierteljahrhundert. "CERN, das war die perfekte Umgebung für unsere Idee", schwärmt der fröhliche Flame, während er das Kantinenessen verspeist, "voller Idealismus und Ideen, ohne Zeitdruck und andere Pressionen." Nein, hier wird nicht gleich gefragt, wie riskant ein Gedanke ist und ob bei einem Experiment auch wirklich etwas herauskommt. "Man kann sich konzentrieren – fast wie im Kloster. Befreit von den Nöten dieser Welt."

Hätte er – als Miterfinder des WWW – nicht eine enorme Karriere machen, vielleicht sogar einer der ersten Multimillionäre des Internet werden können? Da kann Cailliau nur lachen. Höchst selten hätten Wissenschaftler die Fähigkeiten guter Geschäftsleute, meint er. Das Business hat ihn nie gelockt. Und manches, was heute auf dem Riesenjahrmarkt namens WWW stattfindet, ist für ihn nur "aufgeblasener Müll". Nein, da bleibt er lieber in seinem kleinen Büro in Haus 50, kümmert sich um den Web-Auftritt des CERN und um Bildungsfragen.

World Wide Web – das war 1990 ein übergroßer Name. Von dem weltumspannenden Netz existierte noch kein einziger Faden. Selbst die Manager des CERN schienen anfangs nicht allzu begeistert. Schließlich sollte hier Elementarphysik betrieben werden, keine Computerspiele. Andererseits brauchte man für die Suche nach den kleinsten Bausteinen der Materie enorme Rechnernetze. Schon in den 70er Jahren leisteten Rechner beim CERN Schwerstarbeit: 10 000 Kontrollparameter mussten in einer knappen Sekunde gemessen werden. Als dann der LEP gebaut wurde, jener 27 Kilometer lange Tunnelkreis, in dem Elektronen und Positronen in Lichtgeschwindigkeit gegeneinander gejagt werden, schwoll der Datenberg weiter an. Die Idee eines System, das Physikern in aller Welt leichten Zugriff auf alle benötigten Daten und Dokumente gewährt, war außerordentlich attraktiv.

Die Idee des World Wide Web stand auf zwei Pfeilern. Der eine war die Erfindung des Hypertext – die Vision elektronisch erfasster und verknüpfter Dokumente, die, mit einigen simplen Anmerkungen versehen, auf allen Computersystemen lesbar und verarbeitbar sein sollten. Letztlich, sagt Caillau, sei es darum gegangen, "Informationne leicht aus der Maschine heraus und in sie hinein zu bekommen". Der andere das Internet. Es wear revolutionäre, weil es mit Protokollen arbeitete, die sich selbst lenkende Datenpakete schufen und so eine globale, fehlertolerante Vernetzung möglich machten. Das Internet hatte seinen Ursprung in den USA, zunächst als Computernetz der Militärs und der Forscher, und war damals schon zwanzig Jahre lang in Betrieb, ohne dass außerhalb der Fachwelt jemand groß Notiz davon genommen hätte.

1989 hatten Berners-Lee und Cailliau unabhängig voneinander ein Hypertext-basiertes System für CERN vorgeschlagen. Dann taten sie sich zusammen und schufen HTML, die Hypertext Markup Language, die mit simplen Instruktionen das Erscheinungsbild eines Web-Dokumentes festlegt und der Software mitteilt, wo in aller Welt es sich andere Bestandteile zusammensuchen soll – Texte, Töne, Bilder, Grafiken und Videosequenzen. Ein HTML-Dokument kann zudem beliebig viele Links enthalten – Querverweise zu anderen Adressen im Internet, wo sich weiterführende Informationen finden lassen. Mit einem Mausklick findet man den Weg dorthin. "Ich sah es mehr als CERN-internes System", sagt Cailiau heute bescheiden. "Tim strebte gleich nach der ganzen Welt."

Zugleich werkelte das Duo an Browsern, also der Software, die diese Dokumente sichtbar macht und all die Verknüpfungen ins Netz verfolgt. Getreu den zuvor kreierten Verkehrsregeln für den Transport von Hypertext-Dokumenten im Internet, dem Hypertext Transfer Protocol (HTTP). Nach allerlei Bastelei ging 1990 der erste Web-Server in Betrieb: http://info.cern.ch/. Heute steht "http:" vor Abermillionen von Web-Adressen.

Die ersten Fans waren die Physiker. 1992 stellten Labors in Chicago, Amsterdam und Hamburg Server ins Web. Doch der Web-Virus griff schnell auch auf andere Bereiche über. Die Treffen, auf denen Berners-Lee und Cailliau ihr WWW vorstellten, nahmen bald Woodstock-Charakter an. Tausende drängten sich um Teilnahme. Cailliau organisierte die Konferenzen. Die Idee eines offenen, frei verfügbaren, weltweit zugänglichen Supernetzes hatte enorme Ausstrahlung. Computerenthusiasten arbeiteten überall an immer ausgefeilterer Software und neuen Anwendungen. Schnell wurde das World Wide Web zum Lieblingskind des Internet, war bald so populär, dass es dessen ungeahnten, sagenhaften Boom auslöste.
Ist er stolz auf diese Leistung? "Sicher", meint Cailliau und blickt ein wenig hilflos drein, "aber nicht im klassischen Sinne". Es sei ja kein Wettrennen gewesen, das man nach hartem Training schließlich gewonnen habe. Nur ein Produkt von "klarem, langfristigen, sauberen Nachdenken".

Wenn Cailliau sich heute anschaut, was aus seiner Schöpfung wurde, amüsiert er sich köstlich. Nie hätte er gedacht, welch allgegenwärtiges Werkzeug ihr WWW werden würde, ein Medium, auf dem nicht nur Experimente und Doktorarbeiten veröffentlicht werden, "sondern das auch von Kindern und Großmüttern benutzt wird". Die Web-Erfinder konnten nicht ahnen, welch enormes geschäftliches Potential das Web haben würde. Und dass Softwarefirmen einen "Browserkrieg" um die Vorherrschaft über die Zugangssoftware vom Zaun brechen würden. "Das ist doch völlig absurd", meint der Computerexperte kopfschüttelnd. Besonders erheitern ihn US-Amerikaner, die regelmäßig verblüfft sind, wenn sie erfahren, dass das WWW in Europa erfunden wurde und ausgerechnet ein Flame daran beteiligt war. "Das", schmunzelt er, "haben die überhaupt nicht auf der Landkarte."

Der Spaß hört für ihn da auf, "wo das Vertrauen des Users mißbraucht und seine Ahnungslosigkeit ausgenutzt wird", etwa durch übereifrige Marketingleute, die mit Hilfe sogenannter Cookies und anderer Tricks enorme Informationen über den User anhäufen. Es werde eine ewige Anstrengung sein, prophezeit Cailliau, den universellen, einfachen und offenen Standard des Web aufrechtzuerhalten. Weil Firmen immer wieder versuchen werden, sich durch kleine Veränderungen etwa an der Software Vorteile zu verschaffen. "Aber das ist völlig falsch", sagt Cailliau. "Genauso wie jedes Telefon in jedem Land jederzeit und von überall anwählbar sein muss, damit das ganze System Sinn macht. Doch leider es dauert immer eine Weile, bis die Massen merken, was clevere Leute ihnen angetan haben."

1995 half Cailliau, die Weiterentwicklung des Web vom überforderten CERN auf ein globales Konsortium zu verlagern. Heute schaut er aus der Distanz zu, hat schon "längst nicht mehr das Gefühl, irgendeine Kontrolle über die Entwicklung zu haben" ("Die haben wir etwa 1994 verloren.") Doch das hindert ihn nicht daran, Vorschläge zu machen. Cailliau verlangt etwa nach einem Führerschein für alle Internet-User. Zum einen, sagt Cailliau, "weil wir heute alle Publizisten sind und im Netz schreiben können, was wir wollen. Da muss es ein paar Regeln geben, für jedes Individuum und auch für kommerzielle Unternehmen." Zum anderen, weil das Web wie jeder andere öffentliche Raum ein Grundwissen über Umfangsformen und Gefahren verlange: "Keiner soll sich beschweren können, er habe nicht gewusst, dass es etwa Porno-Sites gebe. Genauso wenig wie jemand sagen kann, er habe nicht gewusst, dass er seinen Sicherheitsgurt tragen muss, wenn die Versicherung sich weigert zu zahlen." Verantwortung ist sein wichtigstes Stichwort. Er ist auch kein Anhänger der These, dass selbst Neonazis und Kinderpornographen im Web alle Freiheiten genießen sollen

"Was mich besorgt", sagt er, während wir die Tabletts auf das Laufband der CERN-Cafeteria stellen, "ist diese Tendenz, die virtuelle Welt der realen vorzuziehen. Die reale Welt ist voller politischer und ökologischer Probleme. Aber wir haben das Web nicht geschaffen, um vor diesen Problemen zu fliehen, sondern um sie lösen zu helfen."

Literatur: James Gillies & Robert Cailliau: How the Web was born; Oxford University Press, 2000


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