Bytes beissen nicht
Der Computer ist das Lernmedium der
Zukunft. Doch in der deutschen Bildungslandschaft gilt er noch immer als
Ungetüm
1997
von Tom Schimmeck
Offiziell sind wir modern. Wir blicken nach vorn,
schreiten mutig ins Informationszeitalter. Wir haben Zukunft. Sogar einen
Minister dafür.
Unsere Kinder sollen das Herrschaftswissen des nächsten Jahrtausends
erlernen. Es gibt eine Unzahl von Initiativen und Vereinen, von Symposien
und Modellprojekten, von Rahmenplänen und Handreichungen. Und die
Verantwortlichen lassen sich jetzt Reden schreiben, in denen Begriffe wie
"Bildungsoffensive", "Medienkompetenz" und "lebenslanges Lernen" Pflicht
sind. Sie geben sich "global", "vernetzt" und auf Anfrage gern euphorisch.
Doch das ist nur Schein. Gerade vier Prozent der deutschen Haushalte
sind heute "online". In den Schulen sieht es kaum besser aus. Vielleicht
pilgern die Grossen einmal pro Woche in den Computerraum. Eine echte Integration
von Computern und Datennetzen in den Unterricht aber findet kaum statt.
Die deutsche Informationsrevolution hat Ladehemmung.
Die Computerisierung des Bildungswesens liegt in der Hand einiger weniger
Macher, die fröhlich gegen Windmühlen anreiten: ein halbes Dutzend
Politiker, einige Unverdrossene in der Bildungsverwaltung, ein paar Verspengte
an den pädagogischen Instituten, eine kleine Schar abenteuerlustiger
Lehrer.
Sie verströmen emsigen Optimismus, zeigen stolz ihre Erfolge herum:
Wieder eine Schule online, eine chice Hompage im Internet, ein interessantes
Unterrichtsprojekt, ein Schüleraustausch per email.
Doch wer ihnen länger lauscht, hört tausend schaurig-schöne
Anekdoten aus dem Alltag, die sich zusammen nur einen Schluß zulassen:
Das Gros will nicht. Der Widerstand gegen alles digitale ist enorm.
Die Tücken von Hard- und Software, jedem "User" bestens bekannt,
sind das geringste Problem. Pädagogen, die mit ihren Schülern
hinaus wollen in die weite Welt der Datennetze, müssen zum großen
Hindernislauf bereit sein. Sie kämpfen gegen Lehrpläne und die
"Erlaßlage", gegen mürrische Hausmeister und mißtrauische
Schulleiter. Oft ist die Telefonrechnung ein Problem. Gern wird verboten,
daß eine Firma, die Geräte spendet, eine Anzeige auf der Schulhomepage
schalten darf. Es soll verzweifelte Pädagogen geben, die schließlich
mit der privaten Bohrmaschine in die Schule schleichen, um die Telefonleitung
anzuzapfen.
Sind die Schüler endlich online, kommt der Datenschützer aus
dem Gebüsch. Die offizielle "Learn-line" des Landes NRW etwa schreckt
den Lehrer mit dem Hinweis, es sei gemäß $ 19 Schulverwaltungsgesetz
verboten, Schülerbeiträge mit Namen zu versehen - selbst wenn
die Erziehungsberechtigten zustimmen.
Am meisten aber schrecken die Pioniere ihre Lehrerkollegien - einer
Phalanx von Bedenkenträgern, eine merkwürdigen Allianz aus sturen
Bürokraten, konservativen Kulturhütern und sehr prinzipiellen
Alt-68ern. Die, so klagt ein Pauker in einem Online-Diskussionsforum, haben
"null Ahnung und Interesse".
Nirgendwo, klagen auch die Macher in den Vereinen und Arbeitsgemeinschaften,
würden so viele Zweifel umgewälzt, so viel über Verrohung
und Verblödung, über Vereinsamung und Sehschäden disputiert
wie in Deutschland. Sie sagen das stets "off the record" Weil sie fürchten,
die nächste Endlos-Debatte vom Zaun zu brechen.
Nicht, daß der Computer im Unterricht noch heiß umstritten
wäre. Die Angst vor dem elektronischen großen Bruder, dem allmächtigen
Superapparat ist abgeflaut. Es scheint heute Konsens, daß der Computer
ein "gesellschaftsprägendes Zentralgerät" ist, daß die
neuen Wege der Kommunikation, des Lernens und Begreifens, die das Internet
bietet, in der Schule "irgendwie" vorkommen müssen. Nur selten noch
argumentiert jemand inhaltlich gegen den Computer in der Schule. Wie etwa
der Ex-Bildungs-Staatessekretär Wolfgang Nowak, der in Potsdam gerade
ein Medienwissenschaftliches Institut aufbaut. Wenn Computer angeschafft,
dafür aber die Klassenfahrten gestrichen würden, findet er, züchte
die Schule "Internet-Autisten" heran, denen sie "elektronische Halsbänder
umlege".
Kritik ist dringlich vonnnöten. Der Computer ist nicht die Lösung
aller Schulprobleme. Es mangelt an Erfahrung, an guten pädagogischen
Konzepten, an technischer Unterstützung, an Geld. Und im Internet
wird noch mehr Unsinn verzapft als auf dem Büchermarkt.
Doch formulierte Kritik ist nicht das Problem. Die praktische Erprobung
der neuen Möglichkeiten an der Schule scheitert eher an einem diffusen
Unbehagen gegenüber der digitalen Welt. Die Pioniere klagen an Deutschlands
Schulen klagen über einen fast schon kurioser Mangel an Elan, Neugier
und Experimentierfreude. Dahinter, glauben Insider, könne eigentlich
nur Furcht stecken. Die Herausforderung ist groß, die Informationsflut
enorm. Die Rolle des Lehrers als Wissenvermittler wird neu definiert. Schon
weil er plötzlich viel von den Schülern lernen kann.
Auch ihre Dienstherren, Deutschlands sechzehn Kultusminister gelten
bei den Protagonisten der Schulvernetzung als "total überfordert".
Zwar weihe manch Minister inzwischen stolz neue Internet-Zugänge ein.
Doch "inhaltlich läuft nix", heißt es in Bonn. Seit Anfang der
80er Jahre haben Kommissionen getagt und lange Ja-aber-Papiere verabschiedet.
Eine Änderung der Lehrpläne gilt von vornherein als aussichtslos.
Denn dafür müßten hundert Gremien tausend Entscheidungen
fällen. Und aus dem Kanzleramt heißt es: "Wir machen erst mal
die Steuerreform."
Neidisch blicken die Macher gen USA. Das Bildungssystem dort ist keineswegs
vorbildlich. Doch die Strukturen sind flexibler, die Schulen autonomer
und besser verankert in ihrer Gemeinde. Spenden fließen reichlich,
Tausende von Freiwilligen vernetzten die Schulen, das World Wide Web wimmelt
von pädagogischen Ideen made in USA. Auch politisch genießt
Bildung höchste Prioriät. Bis zum Jahr 2000 will Präsident
Bill Clinton alle Klassenzimmer online sehen. "Erziehung", lautet sein
Credo, "schließt die Lücke zwischen Fähigkeit und Möglichkeit".
In Frankreich hat Jaques Chirac, in Brittanien Tony Blair ähnliche
Ziele gesetzt. Italien will 15000 Schulen vernetzen und 100000 Lehrer ausbilden.
Finnland setzt 5000 Studenten in Marsch, um seinen Lehrern das nötige
Grundwissen beizupuhlen.
Auch in Deutschland, meint Michael Drabe, Pädagoge beim Verein
"Schule ans Netz", könnte moderne Bildung 1998 ein wichtiges Wahlkampfthema
werden. Der Verein, eine Art Joint Venture von Bundesbildungsministerium
und Telekom, hat bei Firmen mittlerweile einen höheren dreistelligen
Millionenbetrag aufgetrieben, um die Vernetzung deutscher Schulen voranzutreiben.
Der Vorsitzende Axel Hoffmann, Abteilungsleiter im Forschungsministerium,
will in drei Jahren 10000 Schulen vernetzt haben. Noch in diesem Jahr soll
der erste "Netday" nach US-Vorbild stattfinden
Leute wie Hoffmann und Drabe setzen darauf, daß auch deutsche
Dichter und Bedenkenträger letztlich auf den Geschmack kommen. Tatsächlich
sind die Lehrer-Fortbildungen inzwischen überbucht. Und allmählich
tauchen immer mehr deutsche Schulen im Internet auf - mit Diskussionsforen,
Schülerzeitungen und digitalem Unterrichtsstoff. Ihre Schüler
durchqueren online den Weltraum, recherchieren Geographie, Geschichte und
Politik, engagieren sich für Umweltprojekte, malen, dichten, komponieren
und plaudern mit Email-Freunden in aller Welt. "Unser Motto", sagt Hoffmann,
"lautet: Erstmal machen."
©
Schimmeck |