Taktiker mit roten
Ohren
Frankreichs Präsident Jacques
Chirac wollte sich eine Parlamentsmehrheit bis ins nächste Jahrtausend
sichern - und holte sich von seinem Volk eine Abfuhr
1997
von Tom Schimmeck
Sein erster Arbeitstag wird wohl der schönste
gewesen sein. Abertausende hatten in der Nacht zuvor seinen Sieg auf der
Place de la Concorde begröhlt. Nun stand er hier, noch etwas müde,
aber aufrecht und mit feierlicher Miene, vor dem Arc de Triomphe. Flugzeuge
färbten den Himmel blau-weiß-rot, Militärkapellen spielten,
Staatschefs im Dutzend drückten ihm die Hand. Es war der 50. Jahrestag
des Weltkriegsendes. Die Sonne schien. Und Paris duftete nach Weltmacht.
Sein brennendster Wunsch war erfüllt: Präsident dieser
Republik zu sein. Zudem hatte seine rechte Allianz eine brachiale Vierfünftel-Mehrheit
im Parlament. Sie dominierte in den Regionen wie in den Großstädten.
Durchmarsch, dein Führer heißt Chirac.
Zu schön, um wahr zu sein? Der Jubel war im Nu verrauscht. Der
neue Präsident hatte zuviel versprochen, eigentlich allen alles: Weniger
Arbeitslosigkeit, weniger Steuern, weniger Schulden. Bald meldeten die
Demoskopen eine rasante Talfahrt seiner Beliebheitswerte (von 59 auf 27
Prozent). Die Getreuen begannen zu rechnen. Allen voran sein nun geschaßter
Premier, Alain Juppé, der es genau so machen wollte wie Meister
Chirac: Er ist nebenher noch Gaullistenchef und Bürgermeister. Einst
hat er es als Daseinszweck der Partei definiert, Chirac, die „Inkarnation
der Hoffnung“, zu inthronisieren. Nun ist er der ideale Sündenbock.
Seit Jahresbeginn wurde hin- und herüberlegt, wie Macht zementiert
werden könne. Chirac war bis zum Jahr 2002 gewählt, doch eine
Mehrheit bei der Parlamentswahl 1998 galt als höchst zweifelhaft.
Zu groß der Spardruck und die Gefahr neuer Streiks und Unruhen. Juppés
Zirkel debattiert heftig: Soll Chirac die Regierung umbilden oder das Parlament
auflösen?
Man wußte um die eigenen schlechten Daten, doch den Gegner, die
Linke wähnte man noch viel tiefer im Keller, auch Le Pen angeschlagen.
Die Auflösung erschien als der bessere Weg: Ein frischer Start, eine
Amtszeit bis zum Jahr 2002 – hübsch synchron mit der des Präsidenten.
Chirac, der Taktiker, ging die Prognosen durch, Departement für Departement,
sah seine Chance und schritt zur Tat.
Ein Coup nach Chiracs Geschmack: Ein wenig riskant, aber kühn.
Zumal er auch andere Probleme zu lösen versprach: Galten ihm nicht
viele der 464 Mitstreiter im Parlament als illoyal, als Anhänger des
Konkurrenten Balladur? Mußte nicht schon wegen des Euros ein lähmend
langer Wahlkampf unbedingt vermieden werden? Zumal Chirac-Freunden manch
peinliche Affäre ins Haus stehen. Warten schien bedrohlicher als Handeln.
Das Kalkül war klar: Lieber jetzt etwas verlieren – und dafür
fünf Jahre Zeit herausschinden – als nächstes Jahr alles.
Klar, aber falsch. Denn nun läuft Chirac Gefahr, sofort alles zu
verlieren, volle fünf Jahre mit einer linken Mehrheit „cohabitieren“
zu müssen, mit der er nichts gemein hat. Er kennt dieses Spiel schon
aus der anderen Warte: Als rechter Premier unter dem Sozialisten Mitterand.
Er hat die Zeit nicht in guter Erinnerung.
Dem „Nouvel Observateur“ gebührt die Ehre, schon vor dem ersten
Wahlgang die Fehler beim „Pokerstreich“ des Präsidenten aufgelistet
zu haben: Er hat den Gegner unterschätzt. Er hat durch sein Bitten
um eine neue Mehrheit eine Art Referendum über sich selbst heraufbeschworen.
Und er hat seinen Coup nicht anständig begründen können.
Chirac selbst hatte einst getönt, der Präsident dürfe
das Parlament nur „zur Lösung schwerer Krisen“ auflösen. Daß
der Taktiker Chirac es dennoch tat, konnte das Wahlvolk nur als zynisch
empfinden.
Der Staatschef muß geglaubt haben, die Französen würden
ihm verzeihen. War er nicht immer der Draufgänger? Bilder aus jungen
Jahren zeigen ihn als Matrosen, die Zigarette lässig im Mundwinkel.
Sein Mentor Pompidou nannte ihn „le bulldozer“. Ein Biertrinker, der den
Kumpel mimt. Er liebt die Action, giert nach Bewegung. Chirac ist impulsiv,
energisch, eine „ungelenkte Rakete“ (The Economist). Kritiker halten ihm
vor, daß sein Schwung ohne Inhalt sei, daß er den Ball verlöre,
während er übers Feld presche. Seine beiden Einlagen als Premierminister
– unter Giscard d’Estaing und Mitterand – endeten recht schnell und laut.
Chirac ist kein Superhirn, seine Prinzipien passen in ein Reisenécessaire.
Aber er ist ein Profi, mit wirklich allen Wassern gewaschen. Ein Art gallischer
Kohl, nur unsteter und zugleich pompöser.
Er hat die Franzosen bearbeitet, ihn zu wählen. „Die Franzosen
lieben meinen Mann nicht“, hat Gattin Bernadette einmal gesagt. Umso mehr
ackerte er für den Erfolg, zog viele Jahre lang über Märkte
und Messen, durch Kneipen und Kuhställe, klopfte abertausende von
Schultern und schüttelte Millionen Hände. Als ewiger Bürgermeister
von Paris pflegte er eine feste Machtbasis, nicht weit vom Präsidentenpalast.
Dazu den Apparat seiner Partei RPR, eines Wahlvereins, der die Feste feiert,
wie sie Chirac gefallen.
Wie kein zweiter gehört Jacques Chirac zu Frankreichs politischem
Mobiliar. Er kennt sie alle hat alle Niederlagen und Auferstehungen erlebt,
jede Anbiederung und jedenVerrat. „Nichts liebt Jacques Chirac so sehr
wie Wahlkämpfe“, witzelte jüngst das Satireblatt Canard enchaîné.
„Das Problem ist, daß er in den Zwischenzeiten dazu tendiert, sich
zu langweilen.“
Und nun ein Wahlkampf ohne Chirac, der erste seit 30 Jahren. Als Staatschef
muß er die Form wahren, in seinem Elysée-Palast ausharren,
zurückgeworfen auf Telefon und Fax. Seither wirkt er zuweilen fast
melancholisch, führt Klage darüber, daß man so gar nichts
ändern könne in diesem „erstarrten“ Frankreich, schimpft über
zaudernde Bankiers und die ewig bremsendeVerwaltung. Ansonsten kennt er
nur einen Schuldigen: Die Linke. „Die Botschaft ist immer die gleiche“,
spottet „Le Monde“: „Die Zeiten sind hart, das Problem sind die anderen.“
Womöglich, meint sein Freund, der Schriftsteller Denis Tillinac,
habe Chirac erst jetzt entdeckt, „daß der Statschef ein nackter König
ist, mit beschränkter Macht.“
Dabei sind seine Aufgaben enorm: Die Arbeitslosigkeit ist hoch. In den
Vorstädten brodelt es. Das Sozialsystem hängt schief. Und Frankreichs
ganz spezielle Planwirtschaft will die Regierung im Zuge der europäischen
Verschmelzung in echten Kapitalismus verwandeln. Vor allem der enorme Staatsanteil
am Bruttosozialprodukt (54 Prozent), soll durch Privatisierungen reduziert
werden.
Bei Streitthemen wie Europa verlaufen die Fronten längst im Zickzack.
Chirac will Europa seinem Volk als eine Art Ersatz-Empire, als neue „Weltmacht“
anbieten. Doch das Gros von Chiracs Gaullisten war gegen Maastricht, gemeinsam
mit den Kommunisten und der Front national. Chiracs Partner von der konservativen
UDF waren dafür, wie auch die meisten Sozialisten.
Hat Chirac die Gefühlslage verkannt? Die Enttäuschung über
das Versagen der herrschenden Eliten, sagen nicht nur die Soziologen, ist
enorm. Die globale Zukunft macht vielen Angst, Linken wie Gaullisten. So
sehr Franzosen ihren „flic“ an der Ecke auch hasst, so sehr rufen sie nach
dem Staat, wenn Unbill heraufzieht.
Da zieht eine Grundstimmung von nationalem Siechtum herauf, die weit
über das übliche Wehklagen hinausgeht. Die Kontraste sind noch
schärfer als in Deutschland. Auch der Präsident spricht von einem
„Bruch“. Andere sagen schlicht: „Klassenkampf“. Der hat sich bereits in
manchem Streik und Protest entladen: Bem öffentlichen Dienst, den
Lastwagenfahrern, den Bauern. Pariser Propheten erwarten noch viel mehr.
Der Staatschef wirkt ratlos, vertritt, wie sein Ex-Innenminister Paqua
meint, immer das mit Verve, was „ihm zuletzt zugeflüstert wurde“.
Sein Vorvorgänger Giscard d’Estaing sieht es als Chiracs „politischen
Initialfehler“, zu Beginn seiner Amtszeit keinen klaren Kurs bestimmt zu
haben.
Das Problem ist: Er hat ihn nicht. Als junger Bursche verkaufte Chirac
die kommunistische L’Humanité. Seither hat er alle Mäntel durchprobiert:
Von staatsdirigistisch bis wirtschaftsliberal, von tiefnationalistisch
bis glühend europäisch. Er hat die Bourgeoisie hofiert und die
Proleten umarmt. Sein Gaullismus wirkt wie ein großer Ballon, der
immer wieder aufgeblasen werden will.
Und so pariert Chirac die Krise mit Opportunismus. Er zündete Atomraketen
in der Südsee, aber vor den Lastwagenfahrern knickt seine Regierung
ein. Er flieht zu den Sportlern und Filmstars, läßt in der weiten
Welt die Fahne flattern. Seine Franzosen dürfen nicht das Gefühl
verlieren, daß ihr Land ganz besonders ist. Er bedient die Mythen.
Ausnahme: Zu Vichy und zur Judendeportation hat der Präsident erstaunlich
klare Worte gefunden.
Eine tragische Figur? Befragt, welche Rolle er Chirac geben würde,
sagte der Filmer Claude Chabrol: „Don Quijote, wie er vom Pferd fällt.“
JACQUES RENÉ CHIRAC, wurde am 29. November
1932 in Paris geboren. Er studierte Politikwissenschaft in Paris und Harvard
und absolvierte Frankreichs Eliteinsitut Ecole Nationale d’Administration
(ENA). 1962 wurde er Leiter des Privatbüros von Premier Georges Pompidou,
1967 erstmals Abgeordneter der Nationalversammlung und noch im gleichen
Jahr Staatssekretär. Nach Bekleidung diverser Regierungsposten ernannte
ihn Präsident Valery Giscard d’Estaing 1974 zum Premierminister. Konflikte
mit Giscards UDF führten 1976 zu Chiracs Rücktritt. Die neogaullistische
RPR wählte ihn kurz darauf zu ihrem Parteivorsitzenden. Von 1977 bis
1995 behauptete er sich als Bürgermeister von Paris. Ein Bündnis
von UDF und RPR machte ihn 1986 wieder zum Premierminister – unter dem
sozialistischen Präsidenten Francois Mitterand. Als Präsidentschaftskandidat
scheiterte Chirac 1981 und 1988. Beim dritten Versuch im Mai 1995 besiegte
er den Sozialisten Lionel Jospin mit 52,64 Prozent. Chirac und seine Frau
Bernadette Chodron de Courcel haben zwei Kinder, Laurence und Claude.
©
Schimmeck |