Wahre Seife - nonstop

Amerika will Baseball, Bubblegum und Bill Clinton. Seit drei Jahren gibt es eine neue US-Strapaze: Court TV

1994 
von Tom Schimmeck 

Wer weiß schon, was das Volk wirklich will? Erwiesen scheint: Es will Fernsehen. Aber will es einen Kabelkanal, der 24 Stunden am Tag real sich hinschleppende Prozesse überträgt, mit stammelnden Zeugen, näselnden Experten, eitel disputierenden Rechtsverdrehern? Ohne Schnitt und mit meist miserablem Ton?

Ja, es will. Die abstruse Idee hatte der Journalist Steven Brill. Sie kam ihm, so geht die Legende, im Fond eines New Yorker Taxis, wo er im Radio dem O-Ton eines Prozesses lauschte. Brill zerrte das Funktelefon aus der Tasche, rief Steve Ross, Boss von Time Warner Inc. an. Der Gigant stieg ein, andere, darunter NBC,  kamen hinzu: Das Courtroom Television Network ward geboren.

Anwälte, die er vorab mit dem Konzept vom totalen Gerichtsreport konfrontierte, gesteht Brill heute, hätten einhellig gerufen: „Wie abscheulich“. Das Publikum empfindet offenbar anders: Court TV, seit drei Jahren auf Sendung, hat bis zu sieben Millionen Zuschauer. Neun der zehn größten US-Kabelgesellschaften bieten es an. In rund einem Viertel der circa 60 Millionen verkabelten Haushalte ist der Kanal schon verfügbar.

Tagsüber versenken sich vor allem Frauen in die live-Übertragungen aus den Gerichtssälen der USA, abends, wenn das Geschehen vom Tage in Sendungen wie „Prime Time Justice“ wiedergekäut wird, ist die Zuschauerkomposition ähnlich wie jene von CNN – „ein sehr interessantes Publikum“, jubiliert Vizechef Merrill Brown, „gehoben in vielerlei Hinsicht“.

Anfangs, berichtet Brown, hätten die Kanal-Schöpfer selbst gezweifelt, ob genug Interesse und Stoff für das Projekt vorhanden sei. Das Publikum hat sich als zäh erwiesen: „Die Leute schauen sich interessante Verfahren für lange Zeit an“, sagt Brown. Auch sei es kein Problem, aus jährlich zwei bis drei Millionen Gerichtsverfahren in den USA genug interessantes herauszufiltern. zusätzlich werden Spezial-Sendungen geboten:Bewährungs-Anhörungen („Lock & Key“), Haftrichter-Sitzungen („Instant Justice“), Justizpolitik („Washington Watch“) und Rechtsberatung für Zuschauer („Miller’s Law“). Der Sender könne „in ein paar Jahr profitabel sein“.

Etwa 130 Leute, in zwei Etagen eines Büroklotzes auf der New Yorker Third Avenue gedrängt, sind für den Sender auf der Suche nach „Themen, die in der Gesellschaft zünden“ (Brown), vor allem, so ein Programmmacher „Rassenfragen, Abtreibungen, Familiendramen, Verbrechen auf der Straße“. Mit Baby Jessica, Michael Jackson, der „Long Island Lolita“ Amy Fisher und der Schwanzabschneiderin Lorena Bobbitt konnte sich Court TV eine feste Fangemeinde schaffen. Der Kanal, lobhudelt der „Rolling Stone“, biete „die besten Geschichte“ mit der „intelligentesten Analyse“. 

Als absoluter Renner erwies sich der Fall der Menendez-Brothers: Lyle und Erik Menendez, die ihre Eltern ermordeten, angeblich nach Jahren sexuellen und seelischen Mißbrauchs. Court TV berichtete ein halbes Jahr lang, widmete dem Beverly-Hills-Drama mehr als 600 Stunden Sendezeit. Das Ende war besonders telegen: Im Januar ’94 beriet die Jury 25 Tage lang über Lyle Menendez – und konnte sich nicht einigen. Auch Eriks Verfahren scheiterte wegen Uneinigkeit der Geschworenen. Das Prozeß, beobachte die Washington Post, habe „tausende nette, ordentliche Menschen (und eine ganze Reihe Journalisten) in besessene Kult-Anhänger verwandelt”, sogenannte „Menendez-Junkies“. 

Längst gibt es eine Fangemeinde, die echte Prozesse ergreifender findet als alle Seifenopern, spannender als jeden Thriller. Sie sind hart im Nehmen: Court TV, oft nur mit einer stationären Kamera vor Ort, kann keine flotten Schnitte bieten, der Ton erinnert häufig an Unterwasser-Aufnahmen. Die Werber zaudern denn auch. Der live-Schwall von Absurditäten, Obszönitäten, und Peinlichkeiten bietet kein besonders planbares Umfeld für Commercials. Das häßliche Interieur düsterer US-Gerichtssäle läßt keinen rechten Markenartikel-Frohsinn aufkommen. 

Gleichwohl bietet der Sender perfekte Unterhaltung für ein Land, das die wohl höchste Anwalts-Dichte der Welt hat, wo jeder jeden verklagt und die bizarrsten Probleme vor Gericht bringt. Selbst seriöse Zirkel geben sich gewogen: Court TV habe durchaus einen „gewissen Bildungseffekt“, findet etwa Doreeen Weisenhaus, Chefredakteurin des National Law Journals: „Manche von uns mögen es nicht, andere würden am liebsten Kommentatoren werden“. Langfristig allerdings laufe da Programm Gefahr, „Amerikas bestgehütetstes Geheimnis“ zu lüften: „Daß die meisten Verfahren schlicht langweilig sind.“

Die Zurschaustellung der Rechtspflege hat in den USA Tradition – schon seit die Cowboys sie per Strick betrieben. Ungezählte US-Spielfilme handeln von Angeklagten und Anwälten, von Anklägern, Richtern und Geschworenen. Seifenopern wie LA Law sind enorm erfolgreich. Zusätzlicher Vorteil für Court TV: Realität ist billiger als alle Fiction.

So lag es gar nicht so fern, dem Zuschauer „the real thing“ zu bieten. Gibt es einen Ort, wo die Niederungen des Menschseins kompletter, schonungsloser, ausführlicher ausgebreitet werden als den Gerichtsaal? Zumal in einer Zeit, da das Private schonungslos öffentlich gemacht wird, wo in endlosen Shows hemmungslos bekannt und bereut, geheult und gebrüllt wird? 

Verbrechen ist in. Tätern wie Opfern winken in den USA dieser Tage erkleckliche Einnahmen aus Showauftritten, Buch- und Filmrechten – wenn die Tat nur schrill genug ist. Kein großer Kriminalfall mehr, der nicht verfilmt wird, nicht von endlosem Spekulieren, Hintergrundreportagen, Bekenntnissen und Klugschiß der skurrilsten Art begleitet wird. Für den abgetrennten Bobbitt-Penis, für den Haß zwischen den Eiskunstläuferinnen Harding & Kerrigan öffneten selbst New York Times, LA Times und Washington Post ihre Titelseiten. 

Umso energischer sind die Court-TV-Macher bemüht, den Ruch des Verbrecherkanals zu meiden. „Ein Mordprozeß kann noch no sexy und schlagzeilenträchtig sein, wenn keine interessante Geschichte, keine Spannung, kein Gefühl dahinter ist, daß es zwei Seiten gibt“, beteuert Vizechef Brown, „werden wir ihn nicht bringen.“ Der Sender sei ein „seriöses Produkt“, fülle eine wichtige Lücke in der Wahrnehmung er Öffentlichkeit - zwischen blutigem Verbrechen, Verhaftung, und, nicht selten, der Freilassung der vermeidlichen Täter. 

Selbstbewußt empfiehlt man sich gar als „ideale Lehrhilfe“ für den Schuluntericht, bietet Ein-Stunden-Filme zum Mitschneiden über Drogentäter, Jugendgewalt, Bewährung. Stolz verweist man auf Auszeichnungen von diversen Anwaltsvereinigungen, auch darauf, daß alle Präsentatoren Jura-Abschlüsse haben.

Das Image ist wichtig für den Kampf um jenes große Ziel, dem sich der Sender aus naheliegenden Gründen verschrieben hat: der Öffnung aller Gerichtsverhandlungen fürs TV-Publikum. Schon erlauben 47 der 50 US-Bundesstaaten Kameras im Gerichtssaal. Knapp 30 gelten den TV-Machern als „gute Staaten“ – weil sie, wenn nicht gerade geschützte Kronzeugen oder Minderjährige involviert sind, die Übertragung fast aller Strafverfahren zulassen.

Widerspruch wird immer zweckloser: Nur gut 15 Staaten erlauben Zeugen oder anderen Prozeßteilnehmern überhaupt, Einspruch gegen eine Übertragung zu erheben. „Nicht akzeptabel“, schimpft Vizechef Brown. „Wir gehen doch nicht in ein Verfahren und verbringen Dutzende von Stunden darauf, und dann kommt der Schlüsselzeuge und wir können ihn nicht zeigen. Das ist absolut unfair gegenüber unseren Zuschauern und unser Mission.“

Für ihren Feldzug hat der Sender eigens eine Pressuregroup, die „Citizens For Court TV“ gegründet. Die Fernsehmacher fehlen auf keinem Hearing, wo es um Prozeßöffentlichkeit geht, kostenlos füttern sie andere Fernsehstationen mit ihrem Material – um die Akzeptanz von Prozeßübertragungen zu fördern. 

Mit Erfolg: Zögernd lassen Richter Kameras nun auch in Zivilverfahren zu, selbst die Bundesgerichte, bislang verschlossen, zeigen Aufweichungstendenzen. „Es ist keine Frage, daß am Ende jeder Verhandlungssaal eine Kamera haben wird“, sagt Brown siegessicher.

Welch rosige Zukunft. Man könne, spottet TV-Chef Brill ob des ungeahnten Erfolgs, weiter diversifizieren, einen „Vergewaltigungs–, einen Verstümmelungs– und einen Mordkanal machen“. Doch von der noch geballteren Ladung wäre der Zuschauer wohl „früher oder später angewidert – hoffentlich“. 

Bei anhaltendem Realitätshunger sind auch Programme aus anderen beliebten Branchen denkbar: Live-Shows aus US-Polizeiwachen oder ein Krankenhaus-Kanal, mit Übertragungen von komplizierten Operationen. Vielleicht könnte sich gar das Pentagon für einen „Marines Channel“ erwärmen – die besten US-Invasionen live. 
 

© Schimmeck