Schlackernde Psychen

Das Internet liefert einen würzigen Vorgeschmack auf die Jahrtausendwende: In der globalen Quasselbude drängeln sich Erlöser und Verschwörer, Prediger, Propheten und Psychopathen

1998 
von Tom Schimmeck 

Was genau geschehen wird, ist noch umstritten. Eines aber steht fest: Wenn anno 1999 das letzte Kalenderblatt fällt, steht Großes bevor: Ufos könnten endlich landen, die Saurier wiederkehren, Kometen einen zweiten Urknall auslösen, die Aum-Sekte uns doch noch alle vergiften. 

Millenium Madness: Die ganze Palette, von Erlösung bis Verdammnis, von totaler Erleuchtung bis Weltuntergang, ist im Internet stark vertreten. Alle Geheimnisse und Mythen, vom Alien bis zum Yeti, werden mit Blick auf den Anbruch des neuen Milleniums hervorgekramt. Hexen und Voodoopriester, Monster, Vampire und Superspinnen verstopfen die Datenautobahn. Der Anbruch des dritten Jahrtausends wird kein Zuckerschlecken. 

Das schnelle, weltumspannende Computernetz ist auch fürs Abstruse das ideale Medium. Hier ist die Freiheit zu Spinnen grenzenlos. Hier kann auch sich, durch keinen Redakteur oder Verleger gebändigt, auch der schillerndste Psychopath Luft machen. Und so schwingen sich Fantasten und Fundis aller Couleur fröhlich ins World Wide Web, auf daß ihre Botschaft über alle Kontinente verstreut werde. Auch Rassisten und Antisemiten stellen ihre Süppchen auf dieses Feuer.

Vor allem in den USA, auch auf dem Gebiet der Massenhysterie eine Supermacht, sind die apokalyptischen Reiter los. Die Kreation und Wartung opulenter Verschwörungstheorien wird dort zum Volkssport. Fast alle schlagzeilenträchtigen Ereignisse ziehen inzwischen einen Schweif digitaler Legenden nach sich, sei es der Absturz der TWA 800 vor Long Island, das Bombenattentat in Oklahoma City, der Sturm des FBI auf ein Sektenquartier in Waco oder der Fall O J Simpson.

Täglich wandern Gygabytes kruder Weltdeutungen durch das Netz. Der Dschungel der Mythen ist so dicht, daß bereits Websites wie www.conspire.com ("die 60 größten Verschwörungstheorien aller Zeiten") entstehen. Sie erleichtern Sinnsuchern und Generalanzweiflern den Einstieg. Sie bieten Links (Verbindung) zu tausend Welterweckern, Wunderheilern, Esoterikern und Radikalinskis aller Schattierungen. 

Standardware auf dem Jahrmarkt der schrillen Deutungen sind Geister, Gifte und Geheimdienste, Strahlen, Sekten und klandestine Supermächte. In Newsgroups wie alt.future.millenium, alt.ufo.reports, alt.conspiracy, alt.alien.visitors, alt.prophecies.nostradamus werden die kruden Stories rund um die Uhr fortgesponnen. Hier vermelden Ufologen, eine mächtige Untergruppe mit nun 50 Jahren Tradition, akribisch jedes Flackern am Nachthimmel. Hier erfährt die Menschheit, wer wirklich hinter Klimaschwankungen und Börsenstürzen steckt. Was die Yakutsa, die Islamisten und die Freimaurer wirklich planen. Was der Papst, Henry Kissinger und der ...tzi so alles angestellt haben. Und auch, daß Madelaine Albright einen kommunistischen Großvater hatte.

Je komplizierter das Konstrukt, desto besser. Besonders phantasiestimulierend sind prominente Todesfälle Ð von der Kreuzigung Christis bis zu Barschels Ableben in der Badewanne. Paul McCartney wird wieder und wieder durchgehechelt. Der Klassiker ist die Ermordung John F. Kennedys, für die abwechselnd der KGB, die Mafia, die Kubaner, das FBI oder Außerirdische verantwortlich gemacht werden. Womöglich auch die "New World Order", eine Organisation prominenter  Industrie- und Drogenbarone, Monarchen und Politiker, die sich aus dem verschwundenen Nazigold finanzieren soll. Deren Tun ist wenig ersprießlich: Sie soll auch Martin Luther King, Marilyn Monroe, Mahatma Gandhi, Anwar el Sadat und Olof Palme auf dem Gewissen haben.

Das Karrussell der Paranoia dreht sich immer schneller. Eine Stunde, nachdem die Nachrichtenagenturen das tragische Unglück der Princess of Wales gemeldet hatten, stand im Internet die erste "Diana Conspiracy Site" bereit. Nach einem Tag waren bereits 75 solcher Gerüchteküchen eröffnet.

Hier wurden alle Spuren verfolgt: Die amerikanischen Touristen am Unfallort, der Alkoholpegel des Chauffeurs, die Familienverhältnisse Dodis. Das einhellige Urteil lautetl: Mord. Nur Auftraggeber und Tathergang bleiben kontrovers: Landminen-Hersteller oder die Queen, die Kirche oder das MI6? Oder doch diese teuflischen Rockefellers, die verhindern wollten, daß die bösen Rothschilds Diana nach der Eliminierung von Hillary mit Bill Clinton verheiraten können? Abdere meinen, die Prinzessin sie - wie Elvis und Hitler - noch am Leben.

Woher kommt dieses phantastische Fieber? Was stachelt den spirituellen Hunger an? Wer sind diese Sinnsucher, die soviel Zeit und Eifer darauf verwenden, bizarren Spuren und Zeichen nachzulaufen? 

Premillenial tension nennt der britische Journalist das massive Comeback apokalyptischer Lehren. In seinem Buch "Endzeit" taucht er tief in die Menschheitsgeschichte und ihren ewigen Versuch ein, den großen Plan zu entziffern. Er kämpft sich durch Schwaden von Engeln und Teufeln, analysiert die aktuelle esoterische Inflation. Und wirft auch einen scharfen Blick auf die Kirchen, etwa auf jene abdriftendenden Protestanten, die in den letzten 20 Jahren angeblich 400 Millionen Menschen in Lateinamerika, Afrika und Asien missioniert haben.

Der Flutwelle von Panik und Paranoia hat sich auch  die Literaturwissenschaftlerin und Medizinhistorikerin Elaine Showalter angenommen. "Nichts könnte ein besserer Nährboden für Hysterie sein als die Wechselwirkung zwischen Jahrtausendpanik, neuen Psychotherapien, religiösem Fundamentalismus und der amerikanischen Politparanoia", meint Showalter. Auch die Verbreitungsbedingungen scheinen ihr optimal: "Mit Massenmedien, Telekommunikation und Email hatten wir nie bessere Mittel, diese Hysterie zu epidemischen Ausmassen zu treiben."

Auf der Suche nach Erklärungen Erklärung hat die Autorin eine umfassende Geschichte der Hysterie, ihrer Definitionen und Therapieversuche verfaßt. Der Begriff stammt vom griechischen Wirt hystera - die Gebärmutter. Die Heiler des Altertums, so Showalter, glaubten, Hysterie sei eine Frauenkrankheit, bei der die Gebärmutter hungrig durch den Körper wandere und dabei Krämpfe, Schmerzen und Erstickungsgefühl auslöse. Sie durchstreift die Medizingeschichte, die Psychoanalyse, den Feminismus, sie spannt den Bogen von der Literatur bis zur Politik. 

Für ihr Buch "Hystorien" hat Elaine Showalter eine Reihe von auch im Internet populären Themen untersucht - Berichte über die Entführung durch Außerirdische, satanistische Rituale, "Pseudo-Erinnerungen" an frühen sexuellen Mißbrauch und Krankheiten wie das chronische Müdigkeits- und das Golfkriegssyndrom. An diesem, behauptet eine Organisation namens "Christian Worldwide Internet", seien bis zu 200000 Golfkriegsveteranen erkrankt und rund 15000 bereits gestorben.

Die Symptome dieses Syndroms seien schwerwiegend, sagt auch Showalter, doch gebe es keinerlei Beweis dafür, daß sie etwa von chemischen Waffen des Irak herrührten. Viele Tests haben chemische oder bakterielle Ursachen ausgeschlossen. Vielmehr zeigten sich verblüffende Parallelen zum Krankheitsbild vieler Veteranen des II. Weltkriegs. Eine psychische Erkrankung aber gelte dem Gros der Amerikaner als "unmännlich und illegitim". So entstünden immer mehr Mißtrauen, Bitterkeit und eine "bedrohliche Epidemie von Verdächtigungen und Gerüchten".

Ihr Fazit: Die schon totgeglaubte Hysterie sei in den 90er Jahren "nicht nur äußerst lebendig, sie ist auch viel ansteckender als früher" Ð emsig verbreitet durch Talkshows, Seifenopern, Ratgeber und das Internet.

Doch nicht nur ernsthafte Analytiker nehmen sich der großen Verwirrung vor der Jahrtausendwende an. Im Internet laden Zyniker laden den Surfer ein, für nur 99 Dollar einem Selbstmordkult beizutreten. Eine andere Website bietet die Möglichkeit, online eine eige ne Verschwörungstheorie zu entwickeln ("Fülle die Felder aus, drücke den Knopf und du bist der Held auf deinem nächsten Miliztreffen.") Wer sich tatsächlich die Mühe macht, allerlei historische Ereignisse und Namen zu verknoten, wird nach Anklicken des OK-Buttons mit der Meldung konfrontiert: "Wenn ich Dir mehr sage, muß ich Dich vielleicht umbringen..."

Ein Paranoia-Sammler der Fachhochschule Furtwangen hat für den Besucher seiner Website zum Abschied den wohl wichtigsten Rat parat: "du.darfst.nie.die.nerven.verlieren"
 

    Links
    http;//www.conspire.com
    http://www.healey.com.au/~themagic/di.htm 
    http://4dreamland.com/cosarc.html
    http://www.MT.net/~watcher/april30.html
    http://www.capcon.net/users/lbenedet/conspire.htm
    http://www.parascope.com
    http://www.paranoia.com/~fraterk/conspire.html
    http://www.creativehealth.com/symbala4.html
    http://www.psispy.com/para/spirit/
    http://www.artbell.com/index
    hrrp://www.globaldialog.com/~tv/aliens.html
    http://shout.net/~bigred/cn.html
    http://www.informatik.uni-rostock.de/Kennedy
    http://gate.cruzio.com/~blackops/
    http://www.m-m.org/jz/intro.html
    http://www.ono.de/1999.html
    http://www.ufomind.com 
    http://www.zetatalk.com
    http://www.fh-furtwangen.de/~muellera/trash/trash11.html

    Newsgroups
    alt.future.millenium
    alt.ufo.reports
    alt.conspiracy
    alt.alien.visitors
    alt.prophecies.nostradamus 
    alt.tv.millenium

    Literatur
    Elaine Showalter:  Hystorien - Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien; Berlin Verlag 1997, 39,80 Mark 
    Damian Thompson: Das Ende der Zeiten: Apokalyptik und Jahrtausendwende; Claasen-Verlag 1997, 42 DM

    Musik
    Tricky: Pre-millenium Tension

 

© Schimmeck