Ein Tiger kämpft selten allein

Im Osten Asiens rüsten große und kleine Mächte rapide auf. Droht ein pazifischer Krieg?

1993 
von Tom Schimmeck  Es ist nur eine Kette kleiner Inseln, Korallenriffe und Sandbänke, die größte Erhebung keine 40 Hektar groß. Doch die Spratly-Inseln im südchinesichen Meer haben bei Strategie-Experten einen großen Namen: Es sind die derzeit wohl heiß umstrittendsten Fleckchen Erde im Fernen Osten. 

Der Konflikt ist so notorisch, daß er etwa für Politik-Studenten an der englischen Universität Bristol zum Standard-Repertoire bei Planspielen zum Ausbruch eines Krieges im Pazifik gehört. Die Spratly-Inseln, im Zweiten Weltkrieg Herberge einer japanischen U-Boot-Basis, liegen nah an wichtigen Schiffahrtslinien. Und obendrein werden in der Umgebung Öl und Erdgas vermutet. 

Ein halbes Dutzend Länder meldet Ansprüche auf das das Insel-Reich an. Taiwan hatte schon 1946 ein Marine-Batallion auf der Hauptinsel Itu Aba stationiert. Auch Malaysia, Brunei und die Philippinen fühlen sich als partielle Besitzer. Zwischen China und Vietnam, die beide alles wollen, entbrannte 1988 gar eine kleine Seeschlacht - Vietnam wurde von mehreren Atollen vertrieben. Trotzig vergab das arme Land Anfang Juli Bohrrechte für Öl- und Erdgaserkundungen an zwei britische Firmen - im "Feld des blauen Drachen" in der Nähe der Inseln. Auch die Festlands-Chinesen haben Bohrrechte vergeben - an eine US-Firma. 

Chinas Gebahren auf den Spratlys und den benachbarten Paracel-Inseln gilt als symptomatisch für neue Großmachtgelüste der boomenden Nation. Dieses Jahr sollen Chinas Verteidigungsausgaben erneut um fast Prozent wachsen. Experten schätzen das in vielen Etats versteckte Gesamtbudget der Militärs auf bis zu 24 Milliarden US-Dollar. 

,Seht China nicht mit Angst an", appellierte unlängst Außenminister Qian Qichen an seine ostasiatischen Kollegen. Doch die werden sich hüten: Die Modernisierung der Volksbeifreiungsarmee hat bei sämtlichen Nachbarn große Furcht losgetreten. China kauft Schiffsflotten, Flugzeuge und Raketensysteme. Neben ihren drei Millionen Kämpfer, unzähligen Panzern und Flugzeugen verfügen Pekings Generäle über acht Interkontinental- und 60 Mittelstreckenraketen, ein Atom-U-Boot und 200 Bomber, um ihre nukleare Feuerkraft ins Ziel zu bringen. 

Doch das Shopping-Fieber hat nicht nur China erfaßt, in fast allen fernöstlichen Metropolen beugt man sich über die Offerten der Rüstungshändler. Schon 1991 kaufte die Region ein Drittel aller weltweit angebotenen schweren Waffen. Angestachelt wird der Kaufrausch durch gutes Wirtschaftswachstum: Die Militärausgaben Japans und der sechs ,kleinen Tiger" - Indonesien, Malysia, Singapur, Südkorea, Taiwan und Thailand sind von 1979 bis 1989 um 62 Prozent gestiegen - auf zusammen 51,4 Milliarden Dollar. Dank ihres enormen technologischen Fortschritts können einige Staaten immer mehr Hi-Tech-Waffen selbst herstellen. 

Vor allem die Seestreitkräfte werden - mit Blick auf das potentiell umkämpfte südchinesiche Meer - kräftig ausgebaut. Japan baut an zerstörern, Fregatten und U-Booten, Singapur fabriziert Korvetten mit deutscher Lizenz, Taiwan Fregatten mit US-Lizenz. Thailand hat Schiffe in China und Spanien gekauft, Malaysia in Großbritannien, Indonesien in Deutschland. Vorbereitungen für ein gigantisches Schiffe-Versenken? Bis 1997, fürchten japanische Experten, könnte China den ersten Flugzeugträger fertig haben - ein Drohmittel, um seine gewaltigen See-Ansprüche entlang seiner 12 000 Kilometer langen Küste zu unterstreichen. 

Die klassische Bedrohung, die Sowjetunion, ist entfallen. Auf dem ,asiatischen Waffenbasar" (The Economist) verramschen die Russen - Weltmacht ad‚ - ihr Arsenal. Malaysia möchte von ihnen MIG-Flugzeuge im großen Stil kaufen, China greift beim russischen Discount am kräftigsten zu: Bomber, Abfangjäger, Aufklärungsflugzeuge, Kampfpanzer und Raketen sollen bereits gekauft worden sein. Der Erwerb eines Flugzeugträgers ist im Gespräch. 

Zwar halten Rußlands Streitkräfte im fernen Osten noch immer ein beträchliches Arsenal von U-Booten, Raketen, Schiffen und Flugzeugen. Doch die Moral ist minimal, nur ein Drittel der russischen U-Boote, schätzt Derek da Cunha, Forscher am Institut für südostasiatische Studien in Singapur, sei überhaupt einsatzbereit. Bei anderem Gerät sieht es mangels Benzin und Ersatzteilen nicht viel besser aus. 

Das Ende des Kalten Krieges hat die Lage eher verschärft. Der alles überschattende Konflikt der Supermächte ist vielen regionalen Problemen gewichen: Dem Disput um die Inseln im südchinesischen Meer, um die zwischen Japan und Rußland umstrittenen Kurilen, der Hochspannung zwischen Nord- und Südkorea, wo sich 1,8 Millionen Soldaten gegenüberstehen und gelegentlich feuern, dem noch immer schwelenden Problem Kambodscha. Manches könnte nach Ansicht von Michael T. Klare, amerikanischer Professor für Welt-Sicherheitsforschung, leicht ,Funken schlagen, die eine regionale Feuersbrunst auslösen". Auch das gewaltige Gefälle zwischen den Reichen und armen Ländern wie Kambodscha, Vietnam, Nordkorea und den Philippinen, dürften, gepaart mit ethnischen oder religiösen Differenzen, als Kriesverursacher nicht unterschätzt werden. Besonders beunruhigend aber sei , so Klare, daß der fernöstliche Rüstungswettlauf keinerlei Bremsmechanismen habe, ,alle Zeichen von Beschleunigung über die nächste Jahre" zeige. 

Es gibt in der Region keine Tradition, gemeinsamer Verhandlungen und Friedenspakte. Das Verhältnis der meisten ostasiatischen Staaten ist von heftigem Mißtrauen geprägt. Neben den großen Bedrohungen - China, Japan und Nordkorea, gibt es eine Fülle kleinerer Mißstimmungen - besorgt verfolgt etwa Singapur Malaysias Aufrüstung, Vietnams Mammutarmee bietet dem thailändischen Militär einen Vorwand, nachzurüsten. Taiwan fürchtet, trotz wachsender wirtschaftlicher Kontakte mit dem Festland, noch immer Chinas Invasion. 

Allein das dichter werdende Handelsnetz hält die Region zusammen, schafft ein gemeinsames Interesse, die guten Geschäfte nicht zu gefährden. Die USA, bislang mächtigster Garant des Friedens in Fernost, drängen die Staaten, Abkommen über die Nicht-Verbreitung atomarer, biologischer und chemischer Waffen beizutreten. Präsident Bill Clinton muß drastisch sparen, will das Militär-Engagement in der Region weiter zurückschrauben. Doch selbst bei einem weitgehenden Rückzug - schon wegen Nordkoreas Drohung mit der Atombombe sehr unwahrscheinlich - bleibt Stabilität in Fernost eine Priorität für die USA: Rund 40 Prozent des US-Handels finden im Pazifik statt, eineinhalb Mal mehr als in Westeuropa. 

Clinton, Prophet einer ,neuen pazifischen Gemeinschaft", will im November Repräsentanten des Pazifik nach Seattle bitten. Ende Juli bereits durfte Außenminister Warren Christopher in einem anderen multilteralen Novum beiwohnen, einem Treffen der Asean-Staaten (siehe Karte) mit den den sieben wichtigsten Handelspartnern (USA, Japan, Kanada, die EG, Südkorea, Australien und Neuseeland) sowie Rußland China, Vietnam, Laos und Papua-Neuguinea. In Bangkok soll 1994 das erste offizielle Treffen des neuen Forums steigen. 

Die Zeit drängt. Gelänge es nicht, den Asiens Osten in Waffen-Begrenzungsabkommen einzubinden, warnt US-Forscher Klare, könnte die Region "der Ort periodischer militärischer Zuckungen im 21. Jahrhunderts werden, so wie es Europa im zwanzigsten Jahrhundert war". 
 

 

Interview 

Sehr viel steht auf dem Spiel 

Friedensforscher Gerald Segal über den Waffenrausch in Fernost. 

Wie explosiv ist die Situation im Fernen Osten? 

Gerald Segal Nicht explosiv im Sinne Bosniens oder des arabisch-israelischen Konflikts. Hier sind größere historische Kräfte am Werk, da gibt es nicht gleich ein Feuerwerk. Besorgniserregend sind die Menge der Waffen, die Höhe der Verteidigungsausgaben und die vielen ungelösten Konflikte - in einer Region von wirklich vitaler Bedeutung für die globale Marktwirtschaft. 

Die Russen ziehen sich zurück, die USA müssen sparen, China wächst rapide. Da scheinen gewaltige Kräfteverschiebungen am Werk. 

Segal Ja, das sind die drei Schlüsselfaktoren, plus ein vierter: das rapide Wachstum in der ganzen Region. Der Rückzug Rußlands ist vollzogen, die Großmacht China scheint eher eine Zukunftsfrage. Das gegenwärtig akuteste Problem ist die US-Position in Fernost. 

Ihr Rat an Clinton? 

Segal Offensichtlichster Trend ist ein Schrumpfen der amerikanischen und ein Wachsen chinesischer und auch japanischer Macht. Der einzige Weg, wie die Amerikaner ihre Präsenz dort einigermaßen sicher abbauen können, ist, stattdessen etwas neues zu schaffen - ein multilaterales Gebäude, das die USA einschließt. 

Gibt es noch nichts dergleichen? 

Segal Nur in äußerst unverbindlicher Form. Es gibt erste Schritte, aber das müßte viel flotter gehen, um auch nur die Basis für etwas zu schaffen wie etwa Europas KSZE. 

Wie groß ist da die Gefahr, daß Kleinigkeiten große Konflikte in Bewegung setzen? 

Segal Ein plötzlicher Krieg ist nicht das aktuell wahrscheinlichste. Sicher nimmt sich China Territorien mit Gewalt. Aber solange niemand China herausfordert, bleibt das ein sehr einseitiger Kampf. Nur die USA könnten die Ausdehnung Chinas im südchinesischen Meer stoppen. Und sie würden das allenfalls tun, wenn lokale Mächte, etwa Indonesien, darauf drängen. 

Noch alles ruhig also? 

Segal Das Wettrüsten ist im Gange. Einige Länder können sich sehr viel bessere Waffen leisten, teils, weil sie reicher geworden sind, teils, weil der Waffenmarkt zusammengebrochen ist und die Preise fallen. 

Wo liegt das Zentrum des Bebens? 

Segal Der Schlüssel liegt in der Innenpolitik einiger Länder. In Japan hat sich in den letzten Wochen vieles erstaunlich schnell und fundamental verändert. Und China, ein Land mit einem Nachfolge-Problem und mit wachsendem Regionalismus, hat ein großes Potential für Unordnung, Desintegration und Chaos. Die Innenpolitik beider Länder ist der Angelpunkt dessen, was wir Sicherheit in Ostasien nennen. 

China ist Atommacht, Nordkorea fuchtelt mit Sprengköpfen. Wie ernst ist die nukleare Bedrohung? 

Segal Für die amerikanischen Beamten ist das Nuklearproblem das drängendste, ich würde ihnen zustimmen. 

Und die japanische Regierung denkt gerade laut darüber nach, ob ihr Land noch lange auf Atomwaffen verzichten kann. 

Segal Das ist eine Debatte, die einige von uns seit Jahren heraufziehen sahen, die bislang aber immer versteckt war. Sie wurde ganz offensichtlich von den Ereignissen in Nordkorea ausgelöst. Mit dem Aufstieg Nordkoreas und der wachsenden Unsicherheit über den amerikanischen Beitrag ist es nicht überraschend, sondern nur logisch, daß Länder wie Japan beginnen, selbst über Atomwaffen nachzudenken. 

Mit welchen Folgen? 

Segal Wenn Japan entscheidet, seinen nicht-nuklearen Status aufzugeben, wird das ganze Nichtverbreitungs-Konzept zusammenbrechen, auf der ganzen Welt. Das brächte das Problem sehr viel näher an unsere Haustüren. Nicht nur in der Ukraine, auch in Deutschland würde das sicher etwas ändern. Da steht sehr viel auf dem Spiel. 

    Dr. Gerald Segal ist Senior Fellow für asiatische Sicherheits-Studien am International Institute for Strategic Studies in London. 
 
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