Die Summe der Nuancen

Das südfranzöische Kaff Vitrolles wird von der Front National "gesäubert"

1998 
von Tom Schimmeck 

Ein scharfer Wind heult am frühen Abend durch die Betonarkaden. Er läßt die Rolläden scheppern, die Straßenlaternen zittern; er zerrt kräftig an den Müllsäcken. Morgen wird man wieder fegen müssen.

Alles zu. Bis auf eine Bar, in der ein paar Jugendliche an letzten kurzen Sätzen kauen. Die Bedienung stellt gerade die Stühle hoch. Der Place de La Provence, Zentrum dieser kleinen, bösen Stadt liegt verlassen da. Aus verborgenen Lautsprechern, die tagsüber wohl müde Konsumenten animieren sollen, jault die Filmmusik aus „Bagdad Café“: „I am calling you“. Als ob sich irgendein Surrealist einen Scherz erlaubte.

Vor kurzem noch trug der Platz den Namen Nelson Mandelas. Doch die Stadtverwaltung hat wieder ein Zeichen gesetzt. Und die Avenue Mitterand heißt jetzt Avenue Marseille, liegt ja auch viel näher, nur ein paar Kilometer entfernt. Auch Salvador Allende mußte runter vom Straßenschild. Da hat jetzt Mutter Theresa eine Heimat gefunden. Wir sind schließlich katholisch.

Es ist nicht so, daß einen gleich grimmige Schwarzhemden stoppen würden, wenn man das südfranzösische Städtchen Vitrolles betritt. Die Veränderungen gehen ganz allmählich vor sich. Vor einem Jahr hat die rechtsradikale Front National hier 52,27 Prozent der Stimmen gewinnen können - und damit Schockwellen durch Frankreich geschickt. Seither ist der Ort eine Art Chemiebaukasten des Bruno Mégret, Chefideologe und Generalsekretär der Front, der zweite Mann und mögliche Nachfolger des Jean-Marie Le Pen. 

Offiziell ist dessen Gattin Catherine nun Bürgermeisterin von Vitrolles. Sie mußte einspringen, weil ein Gericht ihm  wegen Überziehung des Wahlkampfetas 1995 sein Mandat aberkannt hatte. Die Panne erwies sich als Glücksfall, brachte Madame, stets lächelnd, stets perfekt geschminkt, doch genau jenes Quentchen Reputierlichkeit mit, daß die Faschisten hier noch brauchten. Die Arzttochter aus Paris-Neuilly hat einen guten Schluck Oberschicht im Blut. Wenn sie dem Volk die Hand schüttelt, trägt sie weiße Handschuhe.

Am Montag nach ihrem Sieg nahmen Gatte Brunot, offiziell ihr „ehrenamtlicher Berater“, und seine Mannen das Rathaus ein. Sie selbst ist nur selten präsent. Der Triumph, meinte die Bürgermeisterin, sei ja „vor allem der meines Mannes“ gewesen. Als Catherine später doch einmal den Mund aufmachte und verkündete, daß „Schwarze genetisch anders sind“ und die gierigen Immigranten keine staatlichen Hilfen mehr bekommen sollten, brachte ihr das eine Massenklage ein. Vorwurf: Aufruf  zu Diskriminierung und Rassenhaß. Strafe: Drei Monate auf Bewährung plus 50000 Francs.

Nun beschränkt sie sich darauf, die „lieben Mitbürger“ regelmäßig im „Le Rocher“ zu grüßen, dem bunt gestalteten Amtsbulletin der Stadt. Zu Weihnachten teilte sie mit, daß sie bald zum zweiten Mal Mutter werde, jedoch weiter alles tun werde, um „das Alltagsleben meiner Mitbürger zu verbessern“. Und auch wenn sie – auf ärztliches Anraten – physisch wohl nicht mehr so präsent sein könne, „werde ich es gewiß im Herzen sein“. 

Das Bulletin ist betont unpolitisch. Stolz berichtet die FN-Verwaltung über jede ausgewechselte Glühbirne. Viel ist von Sauberkeit die Rede, von „Aufräumaktionen“ und „Verschönerungen“, die nun in Angriff genommen werden: Frisch gepflanzte Bäume, neue Parkplätze und Fahrradwege. Auch das Rathaus ist frisch gestrichen, in einem fleischfarbenen Ton, der die Häßlichkeit dieses Paradefalles französischer Vorstadtarchitektur erst so richtig herauskitzelt.

Es ist die Summe der Nuancen, die Wandel bewirkt. Die Rechtsradikalen können in ihren südfranzösischen Bastionen – in Toulon, Orange, Marignane und Vitrolles, nicht über Nacht die Gesellschaft umkrempeln. Aber sie können die städtische Bibliotheken „säubern“ und die Sportvereine an sich reißen. Sie können anordnen, daß moslemischen und jüdischen Schülern Schweinefleisch serviert wird. Und daß Wohltaten für Arme über ihren eigenen Verein, die Fraternité française, verteilt werden. Diese Fraternité sieht nur Franzosen als Brüder an.

In Vitrolles hat die Front National das Sous-Marin, ein suspektes Kulturzentrum dicht gemacht und alle Mittel für unliebsame Vereine gestrichen. Gefördert werden nur noch Tierheime, Folkloregruppen und Feste aller Art. In Vitrolles wird viel gefeiert, seit die Mégrets regieren: Fahrrad- und Boule-Tourniere, Hirtenfeiern, Volkstanz-Wettbewerbe und Weihnachtsmärkte. Kein Brot, aber viele Spiele.

Im Rathaus, sagt ein Gewerkschafter, herrsche „ein Klima der Angst und des Mißtrauens, in jeder Abteilung sitzen zwei, drei Spione der Front National.“ 140 städtische Bedienstete sollen die FN-Leute bereits gefeuert haben. Viele Immigranten sind darunter. Auch zwei Kellnerinen, die sich gesträubt hatten, FN-Politiker zu bedienen. Die Leiterin des Kommunalen Kinos ist geflogen, nachdem sie sich geweigert hatte, einen Schwulenfilm aus dem Programm zu nehmen. Der Ersatzmann hat früher in einem Pornokino gearbeitet. Ein Handwerker, der in einer Kneipoe im Immigranbten-Ghetto sitzt, sagt, er bekäme keine städtischen Aufträge mehr „seitdem diese typen an der Macht sind“. 

Am härtesten trifft es die sozialen Dienste. Alle Streetworker wurden entlassen. Dafür hat Vitrolles seine Gemeindepolizei, die Police Municipale, mehr als verdoppelt, von 36 auf 80 Mann. Die Bürgermeisterin hat angeordnet, daß sie auch die Schuleingänge bewachen sollen, damit da keine „Rowdies“ ein- und ausgehen. Als die Police Municipale unlängst auch in Vitrolles streikte, weil Frankreichs Innenminister Chevènement sie entwaffnen will. stärkte  Madame Mégret ihren Jungs den Rücken – und mokierte sich über die „Laxheit“ der nationalen Polizei.

Die neuen Polizisten, heißt es in Vitrolles, seien überwiegend Front-Anhänger.  Gerüchte kursieren, einige von ihnen würden sich nach Feierabend in einem Haus der Altstadt treffen, um mit maskierten Gesichtern zu „Sondereinsätzen“ im Immigrantenviertel ausschwärmen. Bei den Straßenblockaden französischer LKW-Fahrer im vergangenen November betätigten sich ein FN-Abegordneter und zwei städtische Angestellte, mit Eisenstangen bewaffnet, als Streikbrecher. Einer von ihnen war der Chef des Sicherheitdienstes im Rathaus, ein Ex-Chauffeur von Bruno Mégret.

„Ich schäme mich, hier zu leben. Ich fühle mich schlecht, richtig physisch elend“, sagt eine Lehrerin am Gymnasium Mendès-France. „Ich war so wütend nach der Wahl.“ Diese Äußerung setzt im Lehrerzimmer eine kleine Debatte in Gang. Ein paar ihrer Kollegen setzen sich mit an den Tisch und sprechen darüber, was man denn tun könne. „Das ist keine informierte, intellektuelle Wahl gewesen, das ist nur eine Reaktion“, ruft einer. Schuld seien die sozialen Brüche in der Vorstadt, die Verunsicherung, die hohe Arbeitslosigkeit. „Das schlachtet die Frontisten aus“. „Ja, die FN hat die Leute getäuscht“, meint eine junge Lehrerin, „aber wie macht man ihnen das klar?“ 

Es gäbe durchaus Menschen, die sich wehrten, meint die depremierte Lehrerin, viele FN-Leute seien isoliert, würden von ihren Nachbarn geschnitten. „Aber die Rechten werden immer selbstbewußter“, erwidert ein Kollege, „sie kleben sich Aufkleber ans Auto und werden laut. Und im Zeitungsladen gibt es plötzlich lauter rechte Blätter.“ „Die Leute sind immer schwerer zu erreichen“, sagt die junge Lehrerin. „Sie können sich jetzt auf eine gewählte Instanz berufen. So werden die Rechtsradikalen qua Amt zu honorigen Leuten.“

Das Gymnasium ist eine Hochburg des Widerstands. Etliche lehrer und viele der 1500 Schüler haben im Dezember gestreikt, weil die Schulleiterin Monique Lheman auf Schmusekurs mit den Ultras gegangen war. Sie hatte Gedichte und Bilder gegen Rassismus entfernen lassen, unliebsame Veranstaltungen untersagt und die Bürgermeisterin mit offenen Armen empfangen („Sie sind hier zuhause“). Die Lehrer kritisierten ihre „Gefälligkeit“ und „Komplizenschaft“. Die Schüler skandierten: „Wir wollen eine normale Schule, kein Faschogymnasium.“

Vitrolles stammt aus einer Ära des Aufschwungs und der hochfliegenden Pläne. Die Stadt ist zu schnell gewachsen, sie hat keine Wurzeln, keine Seele. 1968 lebten hier 5000 Menschen, heute sind es fast 40000. Ein Trabant der schoner räumlich Marginalisierten. Leben findet nur in den gewaltigen Hypermärkten statt, bei Leclerc, Ikea und Co. Das Proletariat, das hier geballt ist, agiert nun tatsächlich als historisches Subjekt - nur ganz anders, als geplant. Es fürchtet sich vor der Arbeitslosigkeit, vor Europa und der Brutalität der Weltmärkte. 

Vitrolles ist ein geplatzer Traum. Früher hatten hier die Kommunisten oder Sozialisten die Macht abonniert. Heute regieren hier Pessimismus und Fremdenhaß. Der letzte sozialistischer Bürgermeister stand unter dem Verdacht der Korruption und Wahlmanipulation. Sein Lack war ab. Madame Mégret gewann gegen eine geschlossene „republikanische Front“ von Gaullisten bis Kommunisten. 

Jetzt kleben die Sozialisten ein „neues Gesicht“, den Doktor Dominique Tichadou, der nichts beschönigt. „Die FN macht hier gründliche ideologische Arbeit“, sagt er, „sie wollen den Geist der Leute ändern. Das ist vielleicht ein bißchen wie in den 30er Jahren in Deutschland.“

„Bruno Mégret“, sagt der Sozialist, sei viel besser als Le Pen – „kein Provokateur, sondern ein langfristiger Arbeiter“. Mégret saß von von 1979 bis 1981 im Zentralkommittee der gaullistischen RPR, er hat, wie das Gros der französchen Polit-Nomenklatura, Elitehuchschulen absolviert. Er ist viel geschliffener als der Poltergeist Le Pen. Im Vitrolles-Wahlkampf hat er nationale Klänge vermieden, sein Chef erst nach dem Sieg in der Stadt aufgetaucht. 

Mégret hat keine Eile. Seit ihr Präsidenten Chirac im letzten Jahr vorzeitige Neuwahlen erzwang und sich dadurch eine linke Regierung einhandelte, sind Frankreichs Konservative schwer gebeutelt. Bei der Wahl im Sommer lag die FN mit 15,3 Prozent nur anderthalb Prozent hinter den Gaullisten. Schon treten immer mehr Konservative für eine „Entdämonisierung“ der FN, für Allianzen oder Absprachen mit den Ultras ein. Allen voran jene, die ihr  Mandat der Kooperation der FN verdanken.

Die Front hat der bürgerlichen Konkurrenz die Themen geraubt - Familie, Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Frankreichs Größe. Jetzt geht sie daran, die Gesellschaft zu durchdringen. Sie gründet Gewerkschaften und Berufsverbände, sie umarmt die Unternehmer, die Jugend, die Kirchen.

Spüren die Leute in Vitrolles echte Veränderungen? „Oh ja, zum besseren“, sagt eine adrette Mittvierzigerin vor dem Postamt Vitrolles-Süd. „Überhaupt nicht“, schimpft ein mürrischer Alter. „Es wird immer verrückter“, meint eine junge Frau, „hoffentlich hört der Spuk bald auf.“ „Man ist wenigstens sicherer jetzt“, findet ein Kerl, der kräftig nach Alkohol riecht. „Aber man darf ja nix sagen“, brummt er im Weggehen, „ sonst ist man gleich Rassist.“

© Schimmeck