Halt! Kontrolle!

Links und rechts der neuen tschechisch-slowakischen Grenze mag man sich nicht trennen

1992 
von Tom Schimmeck 

Am Rand des Dörfchens Sudomerice steht eine Planierraupe. Ein knalloranger Kranwagen wuchtet Betonplatten von zwei LKW; die werden morgen als Fundament für die neue tschechische Grenzstation herhalten. Ein halbes Dutzend Arbeiter schaufelt Sand, rückt die Platten zurecht. Das Zollhäuschen soll bis zum 1.Weihnachtstag fertig sein.

Ein paar Schritte weiter hat die „Slovenská Republika“ schon ihre Tafel aufgestellt, gleich neben einem gepfählten Heiligenbildnis. Die frisch gepflügte slowakische Erde dahinter ist katholisch bis zur letzten Furche.

Die Arbeiter, Männer aus dem Umgebung, fühlen sich ein wenig wie der brave Soldat Schwejk. „Wir wissen nicht, was das hier bedeuten soll. Wir sind doch zusammengewachsen“, sagt Bauunternehmer Milan Horacek. „und haben uns vermischt“. Er knetet zur Illustration heftiger Durchmischung die großen, kalten Hände ineinander, „das hat uns sehr gut getan.“ Horacek ist drüben in Skalice, auf der slowakischen Seite, geboren. 

Sie amüsieren sich über die neue Staatsgrenze. „Zwischen uns hat sich nichts verändert“, sagt der Kranfahrer. „Wir arbeiten schließlich hier wie drüben“, ergänzt ein anderer, „pendeln alle hin und her.“ Ein Dritter imitiert mit einer Holzlatte den künftigen Schlagbaum: „Halt! Kontrolle!“, ruft er lachend.

„Das ist eine traurige Sache“, meint eine alte Dame, die in Haus Nummer 169 lebt, dem letzten Gebäude der Tschechischen Republik. Unruhig verfolgen ihre Augen das Treiben auf der kleinen Baustelle. „Ich bin Slowakin“, meint sie schließlich empört, „aber deswegen ziehe ich doch nicht von hier fort.“ 

Chef Horacek läßt einen scharfen Schnaps kreisen. Die slowakische Seite hat bei ihm schon vorgefühlt, ob er ihnen wohl auch so ein schönes Häuschen bauen würde. Das klare Gebräu treibt die Kälte aus den Knochen. „Schnaps und Kinder“, dröhnt er, „macht hier jeder zuhause.“ 

Es scheint fast unmöglich, entlang jener xxxhundert Kilometer (suche noch) langen Linie zwischen Polen und Österreich, die ab 1. Jänner die Staatsgrenze der tschechischen und slowakischen Republik markieren wird, einen Befürworter der Teilung zu finden. „Alle halten das für Blödsinn“, verkündet ein Kneipenwirt von Sudomerice. „Und die wenigen, die das gutheißen...“ - er beendet den Satz nicht, tippt sich nur vielsagend an die Stirn. Der junge Mann ist ebenfalls Slowake, wird demnächst zweimal täglich die Staatsgrenze passieren müssen, um am Zapfhahn zu wirken. In seinem Ärger greift er immer wieder zu seiner einzigen deutschen Vokabel: „Scheiße, Scheiße.“

„Das ist alles Unfug“, sagt Teenager Marcela in Adamov. „Es ist wie eine Scheidung“, meint eine Lehrerin in Raková: „Und wie bei einer Scheidung werden die Kinder draufzahlen. Ich habe Angst vor einer Eskalation. Vielleicht reicht es schon, wenn irgendjemand Parolen sprüht oder etwas zerstört, damit die Leute auf dumme Ideen kommen.“

„Es macht ja keinen Sinn“, findet eine Sicherheitsbeamtin in der Tabakfabrik CSTP in Hodonin. Da ist die Frühschicht zuende und Dutzende strömen durch die Kontrolle: „Ich bin enttäuscht“; „Ich bin dagegen“; „Meine Kinder sind drüben, was soll das?“; „Mir gefällt das überhaupt nicht“; „Das ist Quatsch.“

Auf dem Land hört man zuweilen ein Echo der slowakischen Propaganda, die jetzt, wo es ernst wird, alle Verantwortung lieber bei den beiden Vaclavs ansiedeln will, bei Ex-Präsident Havel und dem tschechischen Premier Klaus. Auf der Haupstraße des Dörfchens Kopcany hecheln ein Invalide und ein Rentner das ganze Arsenal der Schimpfwörter durch - gegen die in Prag: Das seien Diebe, Ganoven, Räuber - auch weit gröbere Ausdrücke fallen - ja, nur die hätten es gewollt. „Die Slowakei ist für nichts gut, außer, daß wir keine Arbeit haben“, flucht der eine.

Dabei war es doch Slowaken-Premier Vladimir Meciar, der sich nach den Wahlen im Juni 92 ganz „schnell und auf zivilisierte Weise trennen“ wollte. Schon am 17. Juli verabschiedete der slowakische Nationalrat mit überwältigender Mehrheit eine Soveränitätserklärung. Jetzt aber wirken die Preßburger Nationalisten fast perplex über das Tempo, mit dem ihnen ihr Staat zum schlechten Schluß in den Schoß fällt. Sagt Meciar: „Wir sind immer von einer viel engeren Zusammenarbeit ausgegangen als jetzt herauskommt.“

Wer den slowakischen Trommeln lauscht, könnte auch glauben, daß Prag eine Volksabstimmung verhindert habe. Tatsächlich hatten slowakische Nationalisten, unsicher über den Ausgang, ein Referendum hintertrieben, als Präsident Havel die Idee früh ins Spiel brachte. Erst in den letzten Monaten forcierte der konservative Tschechen-Premier Klaus die Trennung. Aus Furcht, der seit Mitte 1991 tobende Streit um die föderale Verfassung könne das gute Renomée seiner Wirtschaftspolitik im kapitalistischen Ausland endgültig runinieren, die Modell-Reform des Ostblocks stoppen. Prag betrieb die Ablösung der Slowakei plötzlich wie die Entfernung eines Krankheitsherdes.

„Wir kommen sehr gut miteinander aus“, sagt Stefan Stacho, ein alter Mann in einem zerschlissenen grauen Kittel. Er steht auf einer kleinen Brücke, die Arme auf dem Geländer überkreuzt, vertieft sich ins tausendmal betrachtete Panorama und erinnert sich an Weltkriegs-Zeiten: „Hier war früher das slowakische Zollhaus, und da drüben, wo jetzt die Satelliten-Schüssel hängt, waren die Deutschen.“ Sein Haus steht in Sance, einem Dorf in den Weißen Karpaten, zwei Meter von einem Bächlein entfernt - der Staatsgrenze. Erstaunlich behende springt er hinüber. „Wenn ich unbedingt hinüber will, hält mich keiner auf.“

„Das Ganze ist eine Tragödie“, meint 200 Meter weiter, im tschechischen Strání, die Inhaberin der ersten privatisierten Ladens. „Wir sind verheiratet miteinander, man fährt hier und dort zur Arbeit.“ Im Geiste geht die Frau die Hausflure in den umliegenden Wohnblocks durch - Tschechen, Slowaken, gemischte Familien. Man kennt sich in der schlichten, grauen Siedlung von Kindheit an, die meisten sind hier geboren. Sie ist Slowakin, wohnt seit 23 Jahren hier. Und hat jetzt, wie fast alle in ihrem Bekanntenkreis, die tschechische Staatsbürgerschaft beantragt: „Wenn ich nicht eine Ausländerin werden will, die sich dauernd bei der Polizei melden muß, bleibt mir doch nichts anderes übrig.“ 

Mindestens 300.000 Slowaken leben auf der tschechischen Seite. Sie können die tschechische Staatsbürgerschaft annehmen, sofern sie seit mindestens zwei Jahren in diesem Teil der zerfallenden Föderation ansässig sind. In Strání kursieren schon allerlei Gerüchte über Zollhäuser und Zäune, sogar über Soldaten an der Grenze. Vielleicht muß man sich beeilen mit der Entscheidung.

Die Staatsgründung, spekuliert manch Befragter, sei wohl „Ausdruck eines Wunsches der Slowaken nach etwas, das sie nie hatten.“ Über viele Jahrhunderte hätten schließlich Türken, Ungarn, und in gewisser Weise auch Böhmen und Mähren die Slowakei beherrscht. Villeicht käme Selbstbewußtsein durch Selbstständigkeit? Es sind meist Slowaken, die das sagen. Aber auf die konkrete Frage: „Wollen Sie die Teilung?“ zucken alle zurück: „Nein, ich nicht.“ 

Der einzige Befürworter findet sich in der Nähe der polnischen Grenze: ein katholischer Pfarrer. „Das ist ein historischer Vorgang“, jubelt Jurja Justin . „Wir sind ein eigenes Volk, 165 Jahre älter als die Tschechen.“ Er sagt es mit einem gekünstelten Lachen. „Die Slowaken werden nicht mehr zur Arbeit nach Böhmen gehen und die Geld bleibt hier. “ 

Aber seine Schäflein scheinen doch sehr verunsichert? Er weicht aus: „Die Heilige Schrift gibt uns Hoffnung. Wir sollen lieben und verzeihen.“ Nervös unterbricht er weitere Fragen, wischt Bedenken zur Seite: „Bis zur Normalität wird es zwei, drei Jahre dauern.“

Also frisch ans Werk. Die Meciar-Medien verheißen eine glorreiche Zukunft auf 49.000 Quadratkilometern Slowakei, preisen die Vorzüge der Teilung: Weg mit der ewigen, tausendjährigen Benachteiligung der armen Slowaken durch diverse Unterdrücker. Weg mit der knallharten Wirtschaftspolitik à la Klaus.  

Die ökonomische Blitzreform des ehemaligen Finanministers und heutigen tschechischen Premiers will schnell viel Marktwirtschaft ohne soziales Federlesen. Eine recht gewagtes Lotteriespiel, daß die Slowakei besonders hart trifft. Nicht zufällig bekam die Meciar-Partei die meisten Stimmen im Zentrum der Slowakei, wo das Gros der unprofitablen Waffen- und Schwerindustrie angesiedelt ist.

In Preßburg möchte man schon deshalb nicht schuld an der Teilung sein, weil es der Slowakei sehr bald noch viel schlechter gehen könnte. Im Westen der alten Füderation, sagen die Prognosen, werden Exporte und Staatseinnahmen steigen, im Osten sinken (um 2,9 bzw. 4 Milliarden Schilling). Beide Seiten werden zunächst beim Bruttoinlandsprodukt verlieren, doch auch hier büßen die Slowaken prozentual fast dreimal soviel ein wie die Tschechen. Die Arbeitslosigkeit ist hüben dreimal so hoch wie drüben. Und wird, das räumt auch Meciar ein, noch weiter steigen. 

Auf Formalitäten immerhin hat man sich in letzter Minute noch geeinigt. Über 30 Abkommen über Details der Trennung sind unterzeichnet, das föderale Parlament hat im dritten Versuch ein Auflösungsgesetz verabschiedet. Tschechen und Slowaken werden überall die Grenze übertreten dürfen, eine Zollunion und, für einige Monate noch, eine gemeinsame Währung haben. Die alten Führer-, Waffen- und sonstige Scheine gelten noch fünf Jahre. In die Pässe kommt ein Stempel, der klärt, wer wohin gehört. 

Gütertrennung: Gold und andere mobile Schätze werden im Verhältnis 2:1 aufgeteilt. Auch ein Drittel der militärsichen Schlagkraft geht an die Slowakei. Unmengen von Waffen, Fahrzeugen und Fliegern und über 100.000 Tonnen Material werden derzeit gen Osten geschafft, wo bislang nur ein kleiner Teil der Streitkräfte stationiert war. Die Slowakei muß ihre neue Luftwaffe zum Teil auf Provinzflughäfen zwischenparken - sie hat noch nicht genug Stellfläche. 

Die Abwicklung wird teuer: Etwa 25 Milliarden Schilling, plus zwölf Milliarden Folgekosten. Ein paar absurde Problemfälle bleiben. Etwa der Bauernhof in Konecná, dessen Scheune im anderen Staat liegt. Oder jenes Gewerkschafts-Erholungsheim, das die Grenze in zwei Teile teilt. Die Lokalzeitung schlug schon vor, die Zimmer auf der Grenzlinie für gemischte Ehepaare zu reservieren. 

„Das haben die da oben sich ausgedacht“, meint der Slowake Jan Pavlik, 69, mit einer wegwerfenden Geste. Er lebt in der Nähe von Bumbalka, auf den schneebedeckten Höhen der Beskiden. Der freundliche Herr war Chemiearbeiter im tschechischen Ostrau, bis ihm eine Explosion das linke Bein abriß. „Der Meciar, der alte Kommunist, kann schnell den Mantel wechseln.“ Er zupft an seinem. „Der hat viel versprochen und die Leute sind drauf reingefallen.“ Im Schankraum der Masaryk-Hütte, benannt nach dem ersten Präsidenten der Tschechoslowakei, trinkt er ein Bier, bevor er seine Beinprothese mühsam in den Pferdeschlitten hievt. Jan Pavlik lächelt. Aber er hat Angst, daß es hier bald „so kommen könnte wie in Jugoslawien“.

Sein Freund, der alte Tscheche Martin Janosek, kann sich noch an den ersten slowakischen Staat erinnern, den von Hitlers Gnaden: „Die Slowaken“ waren sehr stolz, sie sind hier mit Lampions herumstolziert“. Und verdienten sich ein Zubrot als Schmuggler.

Und heute? „Mir ist es egal. Das hatten wir alles schon einmal. Aber es ist trotzdem schade.“
 

© Schimmeck