Rot sind nur die Kirschen

Frankreichs Sozialisten haben eine zarte Chance zu siegen. Doch der Streit um Europa könnte das Linksbündnis zerreissen

1997 
von Tom Schimmeck 

Im kleinen Versammlungssaal der Gemeinde Carpens hängen sie alle: Von Napoleon Bonaparte bis François Mitterand. Vorne, hoch über dem Kandidaten, grinst ein zufriedener Jaques Chirac. "Da oben", meint ein Parteifreund, "müsste er eigentlich hängen". Der Kandidat lächelt. Er hat keine Zeit für Scherze.

Lionel Jospin geht routiniert auf Tuchfühlung, schüttelt Dutzende von Händen - bonjour, bonjour, bonjour - verwuschelt Kindern das Haar, verströmt Mitgefühl. Ja, er weiss um die arbeitslose Jugend und den trockenen Boden. Der gute Onkel Jospin, 59, ein Pädagoge mit Regierungserfahrung, spricht klar und korrekt. Selbst als ihn eine etwas bärbeissige Kommunistin festzunageln sucht, bleibt er verbindlich.

Hier unten in der Haut-Garonne, nicht weit von Andorra, hat der Sozialistenchef seinen Wahlkreis. Als die französische Rechte 1993 477 (von 577) Parlamentssitze eroberte, verlor auch Jospin sein Mandat. Enttäuscht kritisierte er damals den allmächtigen Parteifreund François Mitterand und verliess die Parteiführung.

Nur zwei Jahre später hatte die Partei wieder Bedarf nach ihm - weil er nicht als machtverliebt und korrupt galt. Lionel Jospin wurde Präsidentschaftskandidat, ein bisschen auch aus Verlegenheit. Umso erstaunter war man, als er gegen Jaques Chirac 47 Prozent Frankreichs zusammenbrachte. Ein Überraschungsverlierer mit Zukunft.

Seither müht sich der per Urabstimmung inthronisierte Parteichef um die Erneuerung der Partie socialiste (PS). Er hat allerlei Kommissionen berufen und zielstrebig am Aufbau einer linken Allianz gestrickt. Mit Radikalsozialisten (PRS) und Grünen wurde im Januar gemeinsame Plattformen verfasst. Auch mit den Kommunisten und der Bürgerbewegung des Jan-Pierre Chevènement gibt es Absprachen.

Die Vereinbarung mit den Radikalen ist ein eher allgemein gehaltenes Klagelied über das Elend in den betonierten Vorstädten und den Neoliberalismus in der Welt. Das rot-grüne Papier dagegen wird recht konkret, enthält bereits das Rumpfprogramm, mit dem Jospin & Co nun in die vorgezogene Schlacht ziehen: Die Einführung der gesetzlichen 35-Stunden-Woche und 700 000 Jobs für arbeitslose Jugendliche, die Hälfte davon in Staatsbetrieben. Der grüne Teil verlangt unter anderem eine Ökosteuer, mehr Bahn, das Einfrieren des Atomprogramms, insbesondere den Stop des Plutoniumreaktors "Superphénix" und ein neues Superministerium für Oekologie.

Ein gutes Dutzend Wahlkreise haben die Sozialisten an die Grünen abgetreten. In Dole etwa kandidiert die blonde Grünen-Chefin Dominique Voynet - wobei der sozialistische Verzicht hier erst durch eine Abordnung aus Paris durchgesetzt werden musste. In fünf Wahlkreisen konnten sich Sozialisten, Radikale, Kommunisten und Grüne gar auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen - eine Abwehrmassnahme gegen die rechtsradikale Front National. 

Kniffliger ist der Pakt mit der kommunistischen PCF, dem ersten seit 20 Jahren. Er kam erst zustande, nachdem Präsident Chirac die Nationalversammlung Ende April überraschend auflöste. Zwar hat PCF-Chef Robert Hue, ein gelernter Krankenpfleger, den stalinistischen Traditionsverein behutsam in die Neuzeit geführt, Hammer und Sichel eingemottet und das Zentral- in Nationalkommittee umbenannt. Jospin ist gleichwohl bemüht, möglichst wenig Worte über den Partner zu verlieren. Zumal sich Hue "berufen" fühlt, "an der Regierung Frankreichs teilzunehmen". 

Als strittigstes Thema schält sich immer deutlicher das Thema Europa  heraus. Die PS ist traditionell proeuropäisch, Sozialisten wie Mitterand und Jaques Delors haben massgeblich am Einigungsprojekt mitgearbeitet. Die Grünen und die Radikalen dagegen, die Bürgerbewegung und auch die PCF, sind euroskeptisch bis offen anti-europäisch. Robert Hue spricht schon mal vom "Würgeeisen von Masstricht".

Der Widerspruch führt zu allerlei Rhetorik. Jospin ("Ich bin kein Euroskeptiker, ich bin Eurorealist") macht die Einführung des Euro nun von einigen Bedingungen abhängig: Am Euro sollen "alle grossen Staaten Europas", namentlich auch Spanien und Italien teilhaben (Italiens Schulden sind derzeit doppelt so hoch wie nach den Maastricht-Kriterien erlaubt). Zugleich soll der europäischen Zentralbank eine "Wirtschaftsregierung" entgegengestellt werden. Denn die Vorstellung, dass ein Stück politischer Souveränität an diese ungewählte Institution übergehen soll, die obendrein auch noch in Frankfurt residiert, ist der national gestimmten französischen Linken - wie auch vielen Rechten -  besonders widerwärtig. 

Die Banker sind verdächtig, nach "Thatcherismus" und "turbo-capitalisme" zu streben. Dahinter steckt die in Frankreich besonders verbreitete Angst vor dem Neoliberalismus, dem Hauptfeind der "französischen Ausnahme". Nach wie vor ist jeder vierte Arbeitsplatz in öffentlicher Hand. Dem Staat gehören neben Gas- und Stromlieferanten, Bahn und Post auch noch Firmen wie Air France, Aérospatiale (Luft- und Raumfahrt), GAN (Versicherung), Crédit Lyonnais (Bank), Thomson CSF (Rüstungselektronik) und Thomson Multimedia.  

Die Rechtskoalition versucht seit 1993, Teile des Staatsvermögens zu privatisieren. Die Linke, in dieser Frage staatstragend, stemmt sich dagegen, fürchtet, dass hierdurch wieder zehntausende von Jobs verloren gehen werden. Jospins PS schimpft über die "Verschleuderung unseres industriellen Vermögens", der Parteichef beschwört allerorten den Status Quo: Es werde "keine weiteren Nationalisierung und Privatisierungen geben".

Doch da gibt es ein Problem: Die Teilprivatisierung des Grosskonzerns France Télecom ist in vollem Gange. Die dadurch erwarteten rund 15 Milliarden Mark sollten zur Begleichung der enormen Verluste anderer Staatsunternehmen dienen. So ist die Privatisierung des Telekom-Giganten innerhalb der Jospin-Partei denn auch stark umstritten.

An solchen Stellen wird spürbar, dass die Opposition von Wahlkampf überrascht wurde. Jospin, Absolvent der Eliteschulde ENA, füllt die Lücken mit grossen Worten über Moral und Demokratie, das Individuum und die Nation. Mit staatsmännischer Geste und freundlichen Briefen an die "lieben Landsleute" positioniert er sich geschickt gegen den brüsken Chirac. Der Wahlkampf hat sich bereits so stark auf ihn konzentriert, dass mancher Parteifreund schon über einer Wiederholung der Präsidentschaftwahl 1995 spottet.

Jospin gehört nicht zum Kreis der "Kaviarlinken" (dem französischen Pendant der Toskanafraktion), er ist eine eher traditionelle Figur, ein alter Vorkämpfer für internationale Gerechtigkeit und Bildung für alle. Doch der Sozialist strebt mit Macht zur Mitte. Er ist bemüht, niemand zu verprellen. Auch nicht Chirac. Denn im Falle eines linken Sieges stünden einem Premier Jospin fünf Jahre "Cohabitation" mit dem gaullistischen Präsidenten bevor - eine Zeit, die man im Krieg nicht überleben kann. Zudem hätte Jospin gleich nach der Amtsübernahme ein enormes Programm, das klare Absprachen mit Chirac verlangt: Den Eurogigel im Juni, gleich darauf auch Spitzentreffen der G7 und der NATO. 

Penibel vermeidet seine Partei daher jedes kämpferische Pathos. Auf Plakaten und Broschüren dominiert ein warmer Grünton. Als Jospin am Sonntag in Paris auf dem Place des Abbesses auftritt, werden Chansons gesungen. Da einzig rote sind die Kirschen, die aus grossen Körben verteilt werden. 

Die Strategie scheint recht erfolgreich, das konservative Lager wirkt verstört. Die Nerven lagen zeitweise so blank, dass die Rechte versuchte, Britanniens siegreichen Blair als Bruder im Geiste zu vereinnahmen. Chiracs Kalkül, seine üppige Mehrheit ein Jahr vor dem regulären Termin zu opfern, um sich eine neue, wenn auch knappere, für die kommenden fünf Jahre zu sichern, bekam schon kurz nach Beginn des Wahlkampfes einen empfindlichen Dämpfer: Meinungsforscher sahen die Opposition knapp vorn. 

Dabei profitiert Jospin vor allem von der Unbeliebtheit des Premierministers Alain Juppé, der auch innerhalb der Rechten schon als Sündenbock feststeht, sollten die Wahlen tatsächlich verloren gehen. Juppés Versuch, den Linken die Schuld an allen Uebeln zu geben, wirken nach vier Jahren konservativer Regierung zunehmend holflos. Nur 44 Prozent der Franzosen würden nach den letzten Umfragen einen Sieg der Rechten gutheissen. Gleichwohl gegen 60 Prozent davon aus, dass Chriac/Juppé gewinnen werden.

Die Franzossen kennen die Finessen ihres Mehrheitswahlrechts. Ein Triumph der Linken schiene nur möglich, wenn sich die Anhänger von Le Pens Front National im zweiten Wahlgang am 1. Juni massenhaft auf die Seite der Linken schlagen würden. Das ist unwahrscheinlich - auch wenn Le Pen in der ersten Rage über die vorzeitige Parlamentsauflösung wütete, Chirac sei "schlimmer als Jospin".

Viele Franzosen, meint der "Nouvel Observateur", "haben ihr Herz links, ihren Verstand rechts und ihren Geist anderswo". Auch der Sozialistenführer weiss um die schwache Chance. Und ruft den Landsleuten Mut zu.

Er habe das Gefühl, sagt Jospin in den Pulk der Kameras auf dem Place des Abbesses, dass viele Franzosen, "Angst vor dem Wechsel" hätten. Doch das, deklamiert er, "wäre das Schlimmste". Wir müssen, ruft er fast flehentlich, "den Wechsel wagen".

© Schimmeck