Für eine Hand
voll Mark
In Nicaragua bewirken kleine Städtepartnerschaften
mittelgroße Wunder
1989
von Tom Schimmeck
Einige hundert Lehrer wiegen sich zu Mambo- und
Salsarhythmen auf dem Schulhof des Instituto Benito Mauricio Lacayo in
der Abenddämmerung. Bei Limo, Cola und Victoria-Bier wird der Dia
del Maestro, der Tag des Lehrers begangen, ein Feiertag zur moralischen
Erbauung der bald 35000 völlig unterbezahlten Lehrkräfte Nicaraguas.
Trommeln lassen die schwülwarme Tropenluft vibrieren.
Beim Festakt am Nachmittag hat auch Luis Felipe Perez Caldera, Bürgermeister
von Leòn, die Verdienste der Pädagogen gepriesen. "Wir haben
vollkommenes Vertrauen in euch", versicherte er ihnen von der geschmückten
Guckkastenbühne der Schulaula herunter, keiner sonst habe für
die Zukunft des Landes "soviel Verantwortung wie die Lehrer". Wo doch fast
die Hälfte der dreieinhalb Millionen Nicaraguaner Kinder sind.
Nun steht er lachend am Rande der wogenden Masse, nicht weit vom Buffet,
und berichtet einer kleinen Schar von seiner letzten großen Fahrt
nach Hamburg, wo er im Mai mit SPD-Bürgermeister Henning Voscherau
bei vollem Protokoll eine Städtepartnerschaft besiegelt hat. "Auf
der Grundlage der gegenseitigen Achtung, Gleichberechtigung und des wechselseitigen
Nutzens", heißt es in der gemeinsamen Erklärung, wolle die reiche
Hansestadt im deutlich kleineren und noch viel ärmeren Leon "zur Verbesserung
der Lebensbedingungen" beitragen. Luis Felipe ist froh, daß der Kontrakt
endlich zustande kam. Aber im steifen Hamburg fühlte er sich zuweilen
doch ein wenig fehl am Platze.
Sein ehrgeiziger Versuch, einmal selbst die Türklinke des dicken
Daimlers zu berühren, mit dem der Gast durch die Großstadt kutschiert
wurde, schlug fehl, weil "immer jemand zur Stelle war, der vorher den Verschlag
aufriß". In seinem Domizil, dem stinkvornehmen Hotel Vier Jahreszeiten,
entschied er sich mangels profunder Weinkenntnisse schließlich, einfach
nur das teuerste von der Karte zu wählen. "Irgendwie", meint Luis
Felipe, "muß man ja Anschluß halten."
Staatspräsident Daniel Ortega, der beim Hamburger Festakt - olivgrün
gewandet wie stets - persönlich zugegen war, hatte seinen Luis Felipe,
als er ihn im just erworbenen neuen Anzug erspähte, angefrotzelt:
"So wie Du aussiehst, mach ich Dich zum nächsten Außenminister."
Die nun durch schwungvolle Bürgermeister- Unterschriften offiziell
gewordene Partnerschaft hatte ein zähes Vorleben. Die CDU meuterte,
Sozialdemokraten hatten Bedenken: Die Hafenstadt, das Tor zur Welt der
Kaufleute, solle es sich mit keinem Handelspartner verderben. Ein Pakt
mit den Nica-Revolutionären sei ein Affront gegen die Bundesregierung,
die hartnäckig jede Entwicklungshilfe für das Land sperrt, viel
mehr noch gegen die US-Regierung, der die Beendigung des Experiments im
Hinterhof schon lange zur Obsession geworden ist. Am Ende leistete man
sich dennoch die kleine Extratour. "Die Pfeffersäcke", lobt ein wichtiger
Hamburger Rathausinsasse die Liberalität der Kaufmannschaft, "sind
nie von vornherein gegen Revolutionäre gewesen."
Die Idee zur Verbrüderung war schon 1983 entstanden, als der Poet
und Priester Ernesto Cardenal, damals Kulturminister von Nicaragua, von
Voscherau-Vorgänger Klaus von Dohnanyi an der Elbe als Staatsgast
Empfangen wurde. Dohnanyi fand: "Wer mehr Freiheit in der Welt will, muß
diese Freiheit nähren, wo immer sie sich zeigt." Cardenal hielt, während
US-Flugzeugträger vor der Küste seines Landes kreuzten, eine
große Rede zur Lage Lateinamerikas und las das Gedicht eines zehnjährigen
Bauernjungen vor: Einmal war ich im Wald und sah
einen Mangobaum und einen Papagei, der fraß eine
reife Mango, und mir lief das Wasser im Mund
zusammen und ich stieg auf den Baum und
pflückte mir auch eine.
Nach vielen selbstkritischen Worten des Bürgermeisters über
die Ausbeutung der Dritten durch die Erste Welt bekam Cardenal vom Hamburger
Senat damals einen Scheck über 25000 Mark. Ein Zuschauer rief dazwischen:
"Haben wir denn das noch in der Portokasse?"
Während bei Senat und Bürgerschaft noch jahrelang Angst vor
dem eigenen Mut herrschte und juristische Bedenken geprüft wurden,
entwickelten sich in der Stadt jenseits aller Diplomatie eine Fülle
von Beziehungen nach Nicaragua. Die Bilanz ist beträchtlich: Rund
drei Dutzend Gruppen werkeln in der Hansestadt für das Gedeihen des
kleinen Landes in Zentralamerika. Pastoren und Pensionäre, Ärzte
und Arbeitslose, Lehrer und Schüler, Gewerkschafts-, Frauen- und Stadtteilgruppen
haben Geld und Material gesammelt, eine Unzahl von Informationsveranstaltungen
und Festen organisiert und vor Ort, vor allem in Leon, selbst helfende
Hände angelegt.
Das in Ausdauer und Breite bislang ungekannte Engagement für ein
Land der sogenannten Dritten Welt ist symptomatisch für einen neuen
Internationalismus, der auch anderwo zu spüren ist. In der Bundesrepublik
gibt es mittlerweile 26 offizielle Partnerschaften mit Städten und
Dörfern in Nicaragua, schon 1986 wurden dort rund 400 von Alem nia
aus geförderte Projekte gezählt - Kindergärten, Werkstätten
aller Art, sogar eine Kooperative für ehemalige Prostituierte. An
die 12000 bundesdeutsche Solidaritätsreisende - Brigadisten, Experten,
Delegierte - sind für Stippvisiten oder auch langjährige Aufenthalte
auf dem Flughafen von Managua niedergegangen. Das Publikum in der
Flughafenhalle erinnert zuweilen an die Gäste auf der Fähre von
Teneriffa nach Gomera.
Doch es sind längst nicht mehr nur Junglehrer und Alternative,
die sich vom Charme dieses Abenteuerspielplatzes angezogen fühlen.
Ein Hamburger Rentner, der gemeinsam mit Jugendlichen im Berufsfortbildungswerk
alte Maschinen für neue Zwecke in Nicaragua aufmöbelt, hilft
"Freunden in Not" bei dem "Versuch, gerecht zu sein zu den Menschen". Einem
Elektriker aus dem Hamburger Hafen, der schon viermal seinen kompletten
Jahresurlaub drangegeben hat, um zusammen mit gleichgesonnen Handwerkern
Strom in Dörfer und Stadtteile zu legen, ist "die Revolution da sehr
sympathisch". Beim gemeinsamen Buddeln und schrauben sind Freundschaften
zwischen Nicas und Hanseaten entstanden. Im kommenden Jahr will der Trupp
ein Bario in Leon mit 120 Hütten elektrifizieren.
"Das ist die unblutigste und humanste Revolution, die mir bekannt ist",
meint auch der Maschinenbauer Günther Buhl, Sozialdemokrat aus Hamburg-St.Georg.
Für die reisenden Handwerker hat er ausgediente Strommasten und allerlei
Elektrozubehör bei den Hamburgischen Electricitätswerken und
Spenden bei den Genossen lockergemacht. Die Nicas, findet er, "haben das
Herz auf dem rechten Fleck".
Schulkinder, Kirchgänger, Krankenschwestern und Kneipenwirte sammeln
für Projekte in der mittelamerikanischen Partnerstadt: Ein Kleinbus
für die Sonderschule, Gerät für "Radio Venceremos", Maschinen
für die Lederfabrik, tonnenweise Hefte, Stifte, Radiergummis für
die Partnerschulen, Geld für ein Diagnose- Zentrum, für Rechtsberatung
und ein Soya- Ernährungskurs im Frauenhaus von Leon.
"Die Leute gehen unbefangener 'ran, das steckt an", meint Jürgen
Gotthardt, Honorargeneralkonsul des Landes in Hamburg, "Veranstaltungen
zu Nicaragua" seien "selbst bei Regen und Sturm immer voll". Das Wort Honorar
in der offiziellen Bezeichnung ist irreführend - der 52jährige
gelernte Exportkaufmann, im Hauptberuf Geschäftsführer der Wirtschaftsstelle
evangelischer Missionsgesellschaften, repräsentiert Nicaragua "als
Privatvergnügen" und bekommt dafür allenfalls "vom Finanzamt
einen reingehängt".
"Mich reizt das einfach", erklärt der 52jährige Pragmatiker,
der auch in Afrika und Asien gute Freunde hat, seine ungewöhnliche
Nebentätigkeit. Neben der Weltkarte hängt in seinem Büro
die von Ortega unterzeichnete Ernennungsurkunde. "Weil die armen Typen
kein Geld mehr hatten, sich einen eigenen Konsul zu leisten", vertritt
Gotthardt seit zwei Jahren eine Revolution, auf deren Erfolg er hofft:
"Der US-Konsul begrüßt mich genauso freundlich wie der Russe."
*
Frühmorgens gegen fünf, halb sechs rumpelt der erste Zug mit
Getöse über das ausgeleierte, unkrautbewachsene Bahngleis Leons.
Der Zug schreckt die verrückten, ewig kreischenden Hähne auf,
die jetzt jene Hartgesottenen aus dem Schlaf holen, die der Zug nicht ohnehin
schon geschafft hat.
Frauen mit großen Schalen oder Säcken auf dem Kopf balancieren
Obst und Gemüse Richtung Markt, Straßenfeger schubsen abgelutschte
Mangokerne mit dem Besen übers Pflaster, von Ochsengespannen herunter
wird Feuerholz verkauft.
Die Märkte sind mit Waren gut gefüllt, das Gros der Bevölkerung
aber kann sich das feilgebotene kaum leisten. Seit Preise und Wechselkurse
freigegeben wurden, lassen Hyperinflation und rapider Reallohnschwund die
Einkaufszettel schrumpfen. Wer aus dem Ausland eintrifft, ist schon vor
der Paßkontrolle Millionär: 60 Dollar Zwangsumtausch bringen
derzeit anderthalb Millionen Cordoba. Die Reallöhne sind in zwei Jahren
um drei Viertel gesunken, die Inflationsrate betrug im letzten Jahr über
30000 Prozent. Jetzt, spottete eine pro- sandinistische Zeitung im Frühjahr
per Schlagzeile, habe Nicaraguas Inflation sogar die der Weimarer Republik
überboten.
Die Ökonomie des Landes - ein Wrack. Der x Jahre währende
Krieg der Contra hat Zehntausende das Leben gekostet, Milliardenschäden
verursacht und von Anbeginn stets gut die Hälfte der Staatsausgaben
aufgefressen; die 198x verhängte Wirtschaftsblockade der USA macht
nicht nur das Exportieren noch schwerer, die letzte Schraube muß
aus zum Teil atemraubenden Umwegen ins Land gebracht werden, so sie überhaupt
zu bezahlen ist. Selbst die Spendensammler in Europa spüren den US-Boykott.
Als der Hamburger Verein "Helft Nicaraguas Kindern" Pharmafirmen um Medikamente
für Nicaragua anging, teilten einige Firmen mit, sie seien Töchter
von US-Konzernen und könnten mit solchen Spendenquittungen nichts
anfangen.
Das übliche sowieso: immense Schulden, Kapitalflucht, Obstruktion
von Privatbesitzern, katastrophale Weltmarktpreise für Nica-Produkte
wie Kaffee, Zucker oder Baumwolle, Abwanderung von mühsam ausgebildeten
Fachkräften, die jenseits der Grenzen mehr Chancen sehen. Dazu Schädlingsbefall,
Dürre und Überschwemmungen, der Hurrikan "Joan" im letzten Oktober,
der vor allem an der Ostküste Krankenhäuser, Schulen und massenhaft
Wohnraum zertrümmerte, einmal quer durchs Land fegend die Wälder
abholzte. Es fehlt nur noch ein Erdbeben.
Polizisten fahren auf dem Lande per Anhalter zum Tatort, die Geldscheine
mit immer mehr Nullen werden im Ausland gedruckt. Bankschalter, in denen
sich die gebündelten Lappen türmen, ähneln Altpapier- Sammelstellen.
Eigentlich sei es ein "Wunder", fand Präsident Ortega, im Lande
meist nur Daniel genannt, bei den Feiern zum zehnten Jahrestag der Revolution
am 19.Juli, daß das ganze noch nicht zusammengebrochen sei. Neben
den wütenden Attacken der Opposition, in 21 Parteien zersplittert
und von zankenden Klein-Caudillos beherrscht, ist seit Ende des Krieges
im vergangenen Jahr auch viel Selbstkritik der Sandinistas zu vernehmen.
"Wir haben eine Reihe von Fehltritten begangen", fand unlängst Innenminister
Thomas Borge, "ähnlich einem Blinden, den man in ein unbekanntes Zimmer
voll mit Möbeln stellt." Der Kapitalismus habe, glaubt Borge heute,
"durchaus auch positive Werte", der Sozialismus hingegen gleiche einer
"schönen, aber schlecht gekleideten und nachlässig geschminkten
Frau".
Mit harten Eingriffen, die manch linken Unterstützter schon an
die fatalen Roßkur- Rezepte des Internationalen Währungsfonds
erinnern, suchen die Commandantes den Kollaps zu verhindern: Zehntausende
von Staatsdienern wurden entlassen, Nahrungsmittelsubventionen gestrichen,
ineffiziente Staatsbetriebe dichtgemacht. Selbst das hohe Niveau auf den
Sektoren Bildung und Gesundheit, präsentabler Erfolg der Revolution,
droht zu schwinden.
Städtepartnerschaften und Solidaritätsprojekte nehmen bei
dem Versuch, das Elend trotz wirtschaftlichen Niedergangs in Grenzen zu
halten, einen immer bedeutenderen Stellenwert ein. Die 60 Parterschaften,
die sich in der Region II rund um Leon etabliert haben, helfen bei der
Versorgung mit Trinkwasser und Strom, bei Kanalisation und Müllabfuhr.
In seinem von österreichischen Freunden geschenkten Notizbuch (Aufschrift:
"Ein Leitfaden für Überlebenskünstler") hat Tomas Donaire
Juarez, Verantwortlicher für die Außenbeziehungen der Region,
Kontakte in Liverpool und Barcelona, Oberhausen und Utrecht vermerkt. Rotterdam
und Bremen sind offiziell mit der Hafenstadt Corinto verbrüdert, auch
Cinandega und Chichigalpa, Puerto Morazan, El Viejo und Somotillo haben
Partnerschaften mit Gemeinden in Europa und Nordamerika - das Städtchen
Telica, inoffiziell, sogar mit dem Fürstentum Liechtenstein.
Die Hilfe von außen bringt nicht nur hunderttausende von Dollars
in die Region, sie schafft auch, meint Tomas Donaire, einen gegenseitigen
Lernprozeß. "Leute im Ausland, die für Städtepartnerschaften
arbeiten, wissen genau was hier geschieht", sagt der Koordinator: "Das
ist unsere potenteste Waffe: die Wahrheit."
Nicaraguaner hätten im Gegenzug gelernt, "daß nicht alle
Menschen mit blonden Haaren und blauen Augen Yankees sind". Durch persönliche
Beziehungen zwischen Schulen, Kirchengemeinden und Stadtteilen über
den Atlantik hinweg, sagt Donaire, "haben wir gelernt, daß die Welt
größer ist - und daß es nicht nur Blonde gibt, die uns
schaden wollen".
Den Lerneffekt streicht auch Stefan Chrobot, Referent für Entwicklungszusammenarbeit
in der Hamburger Senatskanzlei, heraus. Die neuen Nord-Süd- Partnerschaften
"können die Entwicklungshilfe des Bundes nicht ersetzen", sagt Chrobot,
aber "bewirken, daß auch bei uns Bewußtsein wächst und
Verantwortung für Nord-Süd-Fragen entsteht". Hamburger Entwicklungsprojekte,
heißt es in einer gerade erschienen offiziellen Darstellung, solle
dazu beitragen, "den Gedanken einer solidarischen Zusammenarbeit mit den
Ländern der Dritten Welt zu verbreiten und zu festigen". Rund acht
Millionen Mark, o,x Prozent des Haushalts, ließ der Stadtstaat 1988
für mehr Weltgerechtigkeit springen.
Was macht Nicaragua für Hilfswillige im Norden so viel attraktiver
als alle anderen Länder der Welt? "Die Leute haben gemerkt, in was
für einer Situation wir hier stecken," vermutet Natalia de Pilar Ballestero
Flores, Leiterin einer Schule in Quezalguaque bei Leon, die mit dem Hamburger
Geschwister-Scholl-Gymnaisum verschwistert ist: "Sie wollen, daß
wir es schaffen." Aus der Hamburger Partnerschule kommt dringend benötigtes
Material, aber auch Karten und Briefe. Die Schüler in Quezalguaque
rätseln in Gedichten und Zeichnungen, wie es in Hamburg wohl zugehen
mag. Meist malen sie riesige Gebäude mit vielen Fenstern. Das kommt
der Wirklichkeit ziemlich nahe.
Auch Conny, Isabel, Angela und Aylin, Schülerinnen in der Theodor-Haubach-Schule,
Hamburg-Altona, können sich nicht so genau vorstellen, wie es in Nicaragua
aussieht. Aber beim Projektunterricht sind die vier Mädchen, 14-15
Jahre alt, "irgendwie auf den Geschmack gekommen", erzählt Conny,
"wir haben überlegt, wie die da leben". Sie stellten eine große
Spendentonne in der Schule auf und zogen durch alle Klassen, um zu sammeln.
Die Kleinen haben furchtbar viele Fragen gestellt, bei den Größeren
wars schwierig, in der eigenen Klasse, der neunten, sind sie völlig
abgeblitzt: "Du hast doch selber nix", "Kannst Dich ja spenden".
Der erste Durchgang war eine Pleite, die Tonne nur viertel voll. Aber
obwohl sie "voll Lampenfieber" hatten, sind die noch einmal losgezogen.
Die ersten Spender kamen aus der Ausländer-Aufbauklasse, überwiegend
Kinder von Asylbewerbern. "Die haben ihr Radiergummi angeschleppt", erzählt
die Klassenlehrerin. Auf ihrem Matrizen- Flugblatt appellierten die
Mädchen: "Besonders die Kinder, die zur Schule gehen, brauchen EURE
Hilfe." Am Ende war die Tonne randvoll. "Das hat uns Spaß gemacht",
erklärt Aylin.
Sie mögen uns, meint Donisio Mora von der Lehrergewerkschaft in
Leon, "weil wir eine Revolution gemacht haben, die nicht so dogmatisch-schematisch
ist". Anders als Cuba etwa, das durch deftigen Dogmatismus, sagt Mora,
"viele Sympathien verspielt hat". Auf Besuch in der Bundesrepublik haben
ihm deutsche Nicaragua-Rückkehrer von Interesse, Vertrauen und Liebe
vorgeschwärmt, die sie dort erfahren hätten. "Das", sagt der
Lehrergewerkschafter ziemlich cool, "sind Faktoren, die Gefühle ansprechen."
"Menschlich gesehen sind die Nicas unheimlich gut drauf", findet Ulrike
Hanemann, geboren in Einbeck, seit über fünf Jahren Lehrerausbilderin
in Leon. Sie habe viel gelernt: Aufmerksamkeit, Empfindsamkeit im Umgang,
einen anderen Begriff von Zeit. Die Wahl-Nicaraguanerin, nebenher rastlos
auch als Koordinatorin der immer zahlreicheren Kontakte zwischen Hamburg
und Leon tätig, hat die immensen Improvisationskünste ihrer Freunde
schätzen gelernt: "In Extremsituationen haben die eine unglaubliche
Kapazität."
"Hier haben sie bewiesen, daß sie von sich aus in der Lage sind,
etwas zu machen", findet auch Gorgonio Ruedas, 59, aus Spanien stammender
Physiologe an der Hamburger Uniklinik, der sich mit einigen honorigen Hanseaten
für eine Partnerschaft der Universitäten von Leon und Hamburg
stark macht. Ruedas sitzt bei Reis, Bohnen und Tortilla in einem kleinen
Speiselokal von Leon und schwitzt und flucht - die Hitze, die undisziplinierten
Hähne und anderes Viehzeug haben ihn in der kleinen Uni- Gästewohnung
schon wieder um die Nachtruhe gebracht.
Mit großem Herzen liebt der Physiologe die Nicaraguaner, lobt
die Nähe und die Menschlichkeit im Umgang an der Uni, die "enorme
Religiosität" und vergeht fast vor Zorn über die Ignoranz des
Nordens und die "verrückte, kriminelle Wirtschaftsblockade": "Wenn
÷ÒéÒòÒ von Moral reden, Kinder",
raunzt Gorgonio in die Runde, "das ist lächerlich."
Frust und Fatalismus, beinahe zwangsläufig erscheinende Folgen
der erdrückenden Situation, haben die Aufbruchsstimmung im Lande nicht
zunichte machen können. Manch Planungsfunktionär mag am
Revolver nesteln, manche Kooperative die Produktion nach endlosen Pannen
eingestellt haben. Solidaritätsgruppen aus Europa aber, die nicht
durch Selbstüberschätzung und undurchdachte Projekte selbst frühem
Verschleiß anheimfielen, zeigen sich weiterhin beeindruckt von Eifer
und Kooperationsgeist der nicaraguanischen Mitstreiter.
Nur lebensfremde Dogmatiker, die mit unbehauenen Uni-Theorien ins gelobte
Land aufbrachen, gingen vor Ort an Konflikten über die richtige Linie,
über sehr deutsche Fragen der Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit
zugrunde. Oder auch an falschem Übereifer: Eine kundige Frau im Ministerium
für Außenkooperation hat die rührigen helfer einmal mit
45-er Schallplatten verglichen, die auf einem 33- er Plattenspieler laufen.
"Der Glorienschein ist weg", meint der Hamburger Kinderarzt Jürgen
Steidinger, 46, gemeinsam mit einigen Kollegen seit langem für Nicaragua
aktiv, weil das Land es "tatsächlich geschafft hat, sich von einer
mörderischen Diktatur zu befreien". Umso wichtiger erscheint
ihm die Hilfe von außen: "Es geht ums Überleben." Offen räumt
der Alt-68er ein, daß Leute wie er dort "natürlich auch Sachen
hinterherlaufen, die wir in Deutschland nicht verwirklichen konnten".
*
Padre Donald Mendoza ist mit dem weißen Jeep seiner Schule auf
die Anhöhe vor der Stadt gebraust, wo sich Somozas Getreue im Juni
1978 verschanzt hatten. Der Diktator haßte die Stadt der Dichter,
Maler und Musiker, ließ Bomben auf das Zentrum und die Armenviertel
werfen. Hunderte Leonesen hatten die Nationalgardisten massakriert, bevor
sie aus dem Zentrum vertrieben werden konnten. "Leon, erste Hauptstadt
der Revolution", vermeldet stolz ein Schild auf der Plaza.
El Fort¡n, die Festung, ist von Unkraut überwuchert. In Kellern
und Schächten, wo Gefangene als letzte Geiseln schmorten, riecht es
muffig. Selbst in der grellen Mittagssonne wirkt die Anlage düster.
Der Padre, eine knallrote Schirmmütze auf dem Kopf, starrt durch seine
große Sonnenbrille nachdenklich auf die Zeugnisse der selbst erlebten
Vergangenheit.
"Wir glauben an die Kraft der Armen, daß wir Armen etwas tun können,
um eine bessere Welt aufzubauen", sagt der Befreiungstheologe. Er hat den
Pastor und seine Partnerschule in der Hamburger Trabantenstadt Mümmelmannsberg
besucht (und Monate gebraucht, dieses Wort aussprechen zu können):
"Ich habe den Eindruck, daß dort Freunde sind, die sich bemühen,
unsere Realität zu verstehen, die sich über unsere kleinen Erfolge
freuen können und verstehen, wenn etwas nicht klappt." Es gibt Briefkontakte
zwischen Schülern und Lehrern, auch Besuche - "Hamburg ist für
uns nicht mehr nur ein Punkt auf der Landkarte." Was sie von uns
lernen können? Der Padre lacht: "Daß wir uns nicht unterkriegen
lassen."
"Es ist derzeit eine sehr einseitige Hilfe", bedauert Reyna Escalante
in der Lederfabrik Macasa, "ohne ausländische Hilfe wären wir
praktisch tot." Mit einer Spezialnähmaschine aus Hamburg wollen die
Frauen aus den Bergen von Lederresten, die sich im hinteren Teil der Fabrikhalle
türmen, nun Kinderschuhe herstellen. Der Hamburger Senat will auch
beim Absatz der Produkte aus dem Macasa-Projekt behilflich sein. Bald sollen
sich zwei Experten auf den Weg machen.
Dieter Bauer, 63, pensionierter Medizintechniker aus Bergisch Gladbach,
ist schon vor Ort. Während sein Wanderverein auf den Lofoten herumstiefelt,
hat der Rheinländer im Auftrage der Hanseaten seine erste Reise in
die Dritte Welt angetreten, um im Regionalkrankenhaus Möglichkeiten
für sinnvolle technische Hilfe zu erkunden. Interessiert stochert
er in seinem Hotel- Morgenmahl herum und bemerkt: "Bohnen zum Frühstück,
das ist lustig."
Bei der Inspektion im Krankenhaus stolpert Bauer von Kabelbruch zu Totalausfall,
bestaunt ein abseits gestapeltes Arsenal zweckloser Geräte, die Hilfsbereite
aus aller Welt, ohne nach dem Bedarf zu fragen, mal schnell nach Nicaragua
verschifft haben. Schimmelnder Schrott ist dabei und komplizierte Maschinen,
mit denen nichts anzufangen ist. Vieles davon kommt aus den USA. "Wir werden
ein Solidaritätsmuseum einrichten müssen", witzelt die anwesende
Dame vom Gesundheitsministerium.
Das Krankenhaus, einst nur für Staatsdiener und Gutsituierte gedacht,
hat seine Kapazität seit der Revolution verdreifachen müssen.
Warteschlangen überall, über Lautsprecher wird zu einer Messe
eingeladen, ein kleiner Zeitungsjunge tobt durch die Rehabilitationsabteilung.
Im Keller halten wahre Helden die steinzeitliche Waschanlage in Schwung.
Nebenan ereilt Bauer fast der Schlag. Die Köchinnen bruzzeln mitten
in der Küche auf einem offenen Holzkohlenfeuer das Mittagessen - der
Elektroherd ist im Eimer. Hamburg hat viel vor.
Auch die Klimaanlage im Büro von Luis Felipe ist nicht in Bestform.
Hamburgs Bürgermeister Voscherau wird beim angekündigten Gegenbesuch
im kommenden Jahr Mühe haben, sein eigenes Wort zu verstehen. Im Regal
Zeugnisse der Weltläufigkeit des Bürgermeisters: Der Oxford District
Plan, Bilderbücher vom holländischen Urtecht, vom finnischen
Tampere und natürlich der Prunkband "So schön ist Hamburg". Dazu
kommen Partner in Dänemark, Italien, Österreich, Schweden, Spanien
und gleich drei in den USA. Mit den Spenden der Partnerstädte, sagt
Luis Felipe, würden schon gut 30 Prozent der kommunalen Investitionen
bewältigt.
"Jedesmal, wenn wir eine neue Partnerschaft aufnehmen", sagt der ehemalige
Juraprofessor, "durchbrechen wir den Isolierungsgürtel, den die USA
um uns aufgebaut haben." Sehnlich wünscht er sich, daß die Stadt
"wirtschaftlich auf eigene Füsse kommt und gleichberechtigte Handelsbeziehungen
mit den Partnern eingehen kann". Doch erst einmal gehe es darum, den Leuten
zu zeigen, "daß wir keine Menschenfresser sind, daß Nicaragua
ein kleines Land ist, das niemanden gefährdet".
Seine katholischen Mitarbeiterinnen haben auf dem Dienstkühlschrank
seines von Baseball-Trophaen dominierten Büros eine Maria plaziert.
Am liebsten hätte der Atheist Luis Felipe auch eine Verbindung mit
Krakau, der Geburtsstadt des Papstes. Und sei es nur, um das Gesicht seines
skeptischen Bischofs schräg gegenüber in der Kathedrale entgleisen
zu sehen.
Da drüben in der wuchtigen, etwas angenagten Kathedrale ist unter
einem großen, weißen, müden Steinlöwen der Dichter
Ruben Dario begraben. "Hamburg ist eine arbeitssame, dem Handel geweihte,
unabhängige Stadt mit einem gestrengen Senat," notierte der Dichter
bei einem Besuch Anfang des Jahrhunderts, "und es ist auch die Stadt, die
sich vergnügt, sich schmückt, mit dem Ausland kokettiert."
©
Schimmeck |