Die Baracken des Imperiums

In den Slums rund um Lissabon leben die
Verlierer des einstigen Kolonialreiches

1989 
von Tom Schimmeck 

Auf den ersten Blick ist der Greis eine würdevolle Erscheinung. Erhobenen Hauptes schreitet er, auf seinen Stock gestützt, die abschüssige, unebene Gasse hinab. Der blendend weiße Umhang, der seine schlanke Gestalt umhüllt, strahlt gegen den Dreck der Barackensiedlung an, der rote Schal belebt sein tiefbraunes, faltiges Gesicht. Er grüßt freundlich.

Ein Leben für Portugal. Adulai Seidi, fast 80, war einst Soldat in Guinea-Bissau, später Wachmann für die portugiesische Verwaltung. Als 1961 der lange Kampf um die Unabhängigkeit begann, hat er die Kolonialkrieger in den Urwald geführt, gedolmetscht und vermittelt, wenn gerade einmal nicht geschossen wurde. Bis dem Späher eine Mine das linke Bein abriß. Der Orden, den er dafür bekam, ist ihm schon vor langer Zeit abhanden gekommen.

Adulai Seidi ist ein gebrochener Mann. Seine Erinnerungen sind verschwommen. Er hockt auf dem Boden seiner Steinbaracke, die Beinprothese umklammernd, und lobt mit angelernten Worten, was Portugal für Afrika getan hat. Als kleiner Junge hat er die ersten Weißen gesehen und sich erschrocken. "Ich dachte, daß seien Statuen, die auf den Boden fallen und zerbrechen könnten." Den Rest seines Lebens hat er für sie gearbeitet. "Viele Guineer haben für Portugal gekämpft. Wir waren Freunde der Portugiesen."

Die Loyalität ist gegenseitig. Vom Staat erhalten die schwarzen Ex- Soldaten, die an Krücken durch Lissabon laufen, eine kleine, aber akzeptable Rente. Schweigen ist ihr letzter Dienst für Portugal.

Damit sind sie weit besser dran als die meisten Slumbewohner, die, auf Gelegenheitsjobs hoffend, am Rande der Haupstadt hausen. 98 Slums gibt es laut Statistik in Groß-Lissabon. In 35 bis 40 000 Baracken, schätzt die Caritas, leben vielleicht 90 000 Menschen. Oder auch mehr.

In dem Slumgürtel, der um das Zentrum in Jahrzehnten gewachsen ist, leben die Verlierer des alten Portugal. Landflüchtige, die aus den bettelarmen Provinzen kamen, um in Lissabon ihr Glück zu suchen. Provinz kamen, um in der Hauptstadt ihr Glück zu suchen. Vor allem aber die menschlichen Überreste von 500 Jahren Kolonialgeschichte: Arbeitsemigranten von den Kapverdischen Inseln, die seit den sechziger Jahren kamen, um Arbeitskraft zu ersetzen, die in endlosen Kolonialkriegen gebunden oder ins reichere Nordeuropa abgewandert war. Flüchtlinge aus den Mitte der 70er Jahre vom neuen Portugal eilig aufgegebenen Kolonien in Afrika - aus Angola, Mozambique, Guinea-Bissau und Sao Tom‚.

Und "Retornados", Zürückgekehrte - ein portugiesischer Begriff für all jene, die sich damals, als die Kolonialmacht plötzlich keine mehr sein wollte, fürs "Mutterland" entschieden: Nicht nur die weiße Kolonialherrenrasse, sondern auch Schwarze, die für Portugal geputzt, gestempelt, geschossen hatten und mitkamen, weil sie sich von einem unabhängigen Afrika nichts, von einem Leben in Europa aber eine ganze Menge versprachen.

Es mußte schnell gehen im Jahre 1975. Monatelang flogen allmorgendlich saubere, leere Jets gen Afrika, um rund eine Million Wartende abzuholen. Auf den Flughäfen der Kolonien saßen riesige Menschentrauben auf Säcken und Kisten, weiße Farmer, schwarze Schwiegermütter und unzählige Kinder. Bald war der Flughafen von Lissabon übervoll mit campierenden Afrika-Heimkehrern, für die es keinen Platz mehr gab. Selbst an der Algarve waren die Hotels bis zum Dach mit Retornados gefüllt.

Viele, vor allem die Weißen, haben es geschafft. Sie waren irritiert, weil sie das neue Portugal nicht begriffen, sie haßten die junge Demokratie, die ihre Kolonien preisgegeben hatte. Einige hatten noch ihre Waffe im Rucksack, eine Weile waren Putschgerüchte im Umlauf. Doch dann machten sie, mit etwas Startkapital vom Staat, Restaurants und Discos auf, mit heimwehtriefenden Namen wie Luanda oder Mozambique, gründeten kleine Firmen, bewirtschafteten verlassene Höfe. Wer findig war, konnte aus der Staatskasse einiges herausholen. "Für einige war es ein Riesengeschäft", erzählt ein ehemaliger Retornado-Betreuer. "Jeder suchte nach einem Weg, den Staat zu bescheißen."

Die anderen, die zu alt, zu krank, zu durcheinander, zu wenig abgebrüht waren oder einfach zu spät kamen, landeten in den Barackensiedlungen.  Zusammen mit den Schwarzen, die von vornherein Retornados zweiter Klasse waren, leben sie in den elenden Hütten, meist versteckt hinter Müllkippen, Betonburgen und Mauern, die flüchtigen Blicken verborgen bleiben.

Das Viertel Santas Martes im Westen von Lissabon, die Heimat des greisen Adulai Seidi ist solch ein Quartier. Ein Hang voller Baracken aus Holz, aus Stein, aus Pappe, Plastikplanen und Blech. Die schmalen Gassen, die sich durch das Behausungsgewirr schlängeln, sind notdürftig mit Zement übergossen, damit nicht jeder Regen sie in Sturzbäche verwandelt. Gegenüber ragen Neubauten im gängigen europäischen Trabantenstadt-Stil auf; Wohnblocks, hastig hochgezogen und angepinselt, um die Unterschicht mit halbwegs geregeltem Einkommen zu beherbergen. Der charmante Kern der Hauptstadt ist keine sieben Kilometer entfernt. Doch Santas Martes schmeckt nicht nach Europa.

Immerhin ist hier noch Leben zu spüren: Ein paar Kneipen, sogar eine kleine Disco, und ein Freizeitclub, als Blickfang an der Wand ein Portrait und das politische Testament von Amilcar Cabral, dem auf den Kapverden geborene Kopf der Befreiung vom portugiesischen Kolonialismus. Ab und an spielt hier die Gruppe "Punto Final" auf, zu deutsch: Endpunkt.

Die Alteingesessenen haben es geschafft, den Drogenhandel von Santas Martes fernzuhalten. Drei spanische Nonnen kümmern sich um die vielen Kinder, Sonntags lesen die beiden Priester aus Holland, die in einer Holzhütte im Slum nebenan wohnen, im Kindergarten die Messe. Da sind nicht nur die Alten zu sehen. Auch einige Kaugummi kauende Jungs, die man eher beim Automatenknacken vermuten würde, erheben sich Sonntag um zwölf zum andächtigen Gebet.

Im Nachbarviertel mit dem rätselhaft-poetischen Namen Pedreira dos Hungaros, Steinbruch der Ungarn, wäre das undenkbar. Seitdem hier der Drogenhandel floriert, hängt die Gewalt wie ein Messer in der Luft. Die Portugiesen aus der Stadt, die sich im Slum mit Drogen versorgen, werden mit Böllerschüssen über neu eingetroffene Ware informiert.

Wird in Santas Martes ein Dealer gesehen, so erzählt Augostinho Luis Nazar‚ Afonso, kurz Luis, "dann rufen wir die Polizei oder schließen uns zusammen und schmeißen ihn raus." Luis, 37 Jahre alt, lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Baracke 305. Er stammt von der Kakao-Insel Sao Tom‚. Nach der Unabhängigkeit war er Bediensteter von Präsident Pinto da Costa, der heute noch im Amt ist. Er hat für ihn den Wagenschlag geöffnet, ihm die Tasche geschleppt und der Wache Befehl zum Spalierstehen gegeben, wenn Besucher kamen. Es hat im nicht gefallen. "Das ist ein Mensch, der alles für sich haben will", meint Luis und rümpft die Nase.

Nicht, daß er die einstigen Kolonialherren deshalb lieben würde. "Sie wollten uns zu Sklaven machen, wie auf den Kapverden, in Angola und Mozambique. Wir haben die Sklaverei nicht akzeptiert und deswegen haben sie uns massakriert." Luis ist ein wacher Typ, der sich nicht nur in der Geschichte seiner Heimat gut auskennt, ein skeptischer Katholik, der sich kümmert und den vielen Freunden in Santas Martes Tips und Hilfe gibt.

Als er vor vier Jahren seine Hütte für umgerechnet 85000 Escudos erstand, war es eine morsche Holzhütte. Stück um Stück hat er sie in ein Häuschen aus Stein verwandelt, mit Wasser und Strom. Es gibt einen Fernseher, sogar eine billige Stereoanlage, auf Raten gekauft, und eine Menge bemühte Gemütlichkeit. Die Töchter haben ein Michael-Jackson-Poster an die Wand gepinnt, seine gläubige Frau eine Abendmahlszene, in dem enormen Wohnzimmerschrank, der den kleinen Raum beherrscht, drängeln sich ausgestopfte Vögel und allerlei Bildchen. Luis hat auf einer Werft ganz gut verdient, bevor ein Arbeitsunfall, durch den er halb blind wurde, ihn zu Gelegenheitsjobs als Klempner, Elektriker und was sonst gerade so anfällt, verdammte. Nummer 205 ist noch immer eine der nobelsten Baracken im Viertel.

Bauen ist illegal. Wie alle, die ihrer Behausung werkeln, hat auch Luis nur nachts, im Schutz der Dunkelheit arbeiten können - und sich dabei Lungenentzündung geholt. Tagsüber brausen zwei Teams von Kontrolleuren auf Jeeps durch die Slumviertel, auf daß keine neuen Baracken entstehen, daß Hütten nicht mit ein paar Steinen stabiler gemacht werden, daß ja kein Zimmerchen angebaut wird. "Wenn sie einen Ziegelstein auf dem anderen entdecken, reißen sie das ab", erzählt der Priester im Nachbarslum: "Sie kommen mit Arbeitern und der Polizei, bewaffnet mit einer G3. Die Bewohner revoltieren und sagen, daß sei wie in Südafrika."

"Heute", meint Luis, "könnte ich bis zu 800 000 Escudos hierfür verlangen." "Dann verkauf doch", funkt die elfjährige Ever begeistert dazwischen. "Wohin sollten wir dann gehen?", fragt ihr Vater zurück. Um in eine richtige Wohnung umgesiedelt zu werden, müsse man gute Beziehungen haben, "Vitamin B", grinst Luis, "und einen Paten".

Sein Freund Domingos etwa, der auf Sao Tom‚ noch als Sklave geschuftet hat, lebt schon seit 17 Jahren hier. Domingos, 56 Jahre alt, humpelt auf zwei Krücken durchs Bairro. Er ist gezeichnet von lebenslanger Plackerei, an Arbeit ist nicht mehr zu denken. Zuwendungen seiner 10 Kinder und 14 Enkelkinder, die in anderen Barackenvierteln leben, halten ihn über Wasser. Wild gestikulierend erzählt der nervöse, ständig rauchende kleine Mann, wie er seine Hütte aus Pappe und Leintuch, in die er hier 1972 einzog, mit Hilfe von Freunden ganz allmählich und natürlich illegal in ein Steinhaus verwandelte. Einer seiner Söhne wollt es ihm unlängst gleichtun, hatte Steine gekauft, um für seine Familie einen stabileren Unterschlupf zu bauen -  die Stadt hat es wieder abgerissen. "Sie zerstören, was wir bauen", stöhnt Domingos, "dann nehmen sie noch das Material mit, das wir gekauft haben. Das ist nicht menschlich."

Obendrein wird kassiert. Luis zahlt nicht nur für Strom, Wasser und Abwasserentsorgung, er muß auch ein paar Tausend Escudos pro Jahr als Grundsteuer ans Finanzamt abführen, obwohl ihm der Grund gar nicht gehört. Ein kleines Schild an seiner Baracke signalisiert so immerhin, daß seine Behausung staatlich registriert ist. Das bietet einen gewissen Schutz vor dem Inspektor und seinen Abrißtrupps. Andere zahlen Sielgebühren, auch wenn sie gar keine Abwasserleitung haben. Protest entfällt aus Angst. "Die Stadtverwaltung", sagt Luis und kann nur noch lachen, "verdient an diesem Viertel."

Meist gibt es gute Sichtblenden zwischen Lissabons erster und dritter Welt. Nur an wenigen Orten prallen die Gegensätze hart aufeinander. Im Stadtteil Oleias etwa. Auf der einen Seite Neubauten gehobenen Niveaus, solide, funktionale Phantasielosigkeit in pink und hellgrün, auf der anderen Seite ein Terrain, das irgendein Zyniker vom Amt "Bairro Portugal Novo" getauft hat: Ein abgewetzter, mit Graffiti übersäter blauer Wohnklotz in Schlichtbauweise, ein paar Wohncontainer aus Holz und die unvermeidliche Mischung aus Pappe, Blech, Holzlatten und Plastikplanen. Ein paar Ziegen knabbern an spärlichen Grasbüscheln, der Wind treibt einem Sand in die Augen.

Mittendrin ragt das Centro Commercial Oleias, ein schniekes Einkaufszentrum zum musikbeschallten Flanieren mit Kreditkarte. Der Sicherheitsmann, ein schneidiger Kerl mit Schnauzer und kämpferischem Barett, müht sich täglich, den Anblick des Elends zu tilgen. "Das schafft eine schlechte Athmosphäre", findet er und lenkt einen angewiderten Blick in Richtung Baracken. "Aber die portugiesische Polizei ist gut, die haut sofort zu", sagt er und verzieht keine Miene. "Die Stadtverwaltung versucht, diese Leute hier zu vertreiben und woanders unterzubringen, damit die anderen Anwohner, die ziemlich reich sind, hier ungestörter leben können." Einen kleinen Rotzbengel, der seinen Exkurs zu stören droht, wedelt er fort. "Neger, das ist eine Rasse, die ich nicht mag."

Doch wer nur ein wenig sucht, findet die Slums überall. In Prior Velho etwa, im Norden der Stadt, wo, viereinhalb Schritte neben der Autobahn Richtung Porto, eine Ansammlung klappriger Holzhütten im Staub steht. Die Kulisse: Auslieferungslager großer Autofirmen, ein paar Catarpillars, eine Hochspannungsleitung. Eine zehnköpfige Familie aus Angola lebt in einem Häuschen aus Kistenholz, überall gestempelt mit dem Schriftzug "Made in Japan". Eine junge Afrikanerin fegt vor ihrer Hütte, die mit dünnem Blech verkleidet ist - alte Druckmatritzen der Tageszeitung "A Capital", auf denen, seitenverkehrt, noch die Überschriften zu entziffern sind. "Wir haben uns etwas anderes erwartet", sagt sie mit spöttisch- resigniertem Blick, wendet sich ab und fegt weiter gegen den Dreck an. Eine Boeing hebt auf dem nahen Flughafen ab, das Geräusch wird vom Lärm der Autobahn verschluckt.  Anklagend zeigt eine Mutter auf die Beine ihrer Tochter, die mit kleinen Wunden übersät sind. "Rattenbisse", flucht sie, "hier gibt es nur Ratten und Schlangen."

Oder in jenem riesigen, teils eingestürzten, teils angekokelten Gemäuer auf der anderen Seite des Tejo-Ufers in Porto Brandao, wo sich hunderte eingenistet haben. Es muß vor langer Zeit ein Kloster gewesen sein, irgendwann auch eine Art Internat. Eine alte, halb verblichene Wandinschrift rät: "Höre Deinem Lehrer mit großer Aufmerksamkeit zu, er läßt Deine Seele erblühen." Zuletzt sei es wohl ein Irrenhaus gewesen, erzählen die beiden jungen Frauen im kleinen Krämerladen nebenan, an dessen Tür ein striktes Verbot aufgemalt ist, mit nacktem Oberkörper einzutreten.

Hunderte haben sich in dem abgelegenen Steinlabyrinth eingenistet, mit Mörtel, Brettern und Pappe ein Stück Wohnung abgeteilt. Im Vorhof zerteilt eine dicke Afrikanerin Fische auf einem Lastwagengerippe. An dem Kabelwirrwarr, das die endlosen, vom Kindergeschrei widerhallenden Flure durchzieht, hängen offiziell 150 Parteien. Ein Ort der zerbrochenen Träume von einem besseren Leben in Europa. Die Verwandten in Afrika hätten keine Ahnung, wie elend das Leben hier sei, meint ein junger Kapverdianer, der sein Geld wie die meisten, die überhaupt Arbeit haben, ohne feste Anstellung beim Bau verdient. Nein, wer nach Hause fährt, leiht sich vorher den goldenen Ohrring von der Nachbarin und pumpt sich ein paar Escudos, um neue Kleidung zu kaufen. Den Mythos vom gelobten Land will keiner durch sein persönliches Scheitern entzaubern. "Zuhause denken sie, wir leben hier in einem Rosenmeer", sagt der junge Kapverdianer.

In Lissabon ist das Elend am Stadtrand kein Geheimnis - aber wen schert es ? Als Bürgermeister Nuno Abecasis, dessen Ära nun zuende geht, 1981 seinen Job antrat, versprach er: "Entweder die Baracken fallen oder ich falle." Sein Plan, städtischen Grund an Privatunternehmer zur Bebauung an Privatunternehmer zu vergeben und hernach 15 Prozent der so entstandenen Wohnungen der Slumbevölkerung zukommen zu lassen, von ihm als "das große Lissaboner Abenteuer" angekündigt, entpuppte sich bald, wie Zeitungen spotteten, als "Ei des Abecasis". Außer Zahlenspielereien ist nichts grundlegendes geschehen. "Wenn ich auf dem Rasen vor meinem Haus liege", jammerte der redegewandte Bürgermeister vor zwei Jahren, "ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich über dieses große Problem der Slums nachdenke."

Obwohl das Geld und die Grundstücke vorhanden sind, hat die Stadt binnen zwölf Jahren ganze 8127 Wohnungen gebaut, 1987 etwa nur ganze 43 Stück, 1988 genau null. "Die Funktionäre hatten sich das Arbeiten abgewöhnt", fanden selbst politische Freunde von Abecasis. Und auch der Leiter des staatlichen Sozialbauprogramms, das nun Abhilfe schaffen soll, klagt schon über desinteressierte Mitarbeiter und bürokratische Schikane. "Die Demokratie", sagt der kommunistische Stadtrat Victor Costa, "hat in Lissabon noch nicht gebaut."

"Wir spielen hier den Don Quichote", resümiert Pater Jos‚ Mendes Serrazina von der portugiesischen Caritas, die sich um Arbeitsplätze und bezahlbaren Wohnraum für die Barackenbewohner bemüht. Das Land, meint der elegante kleine Mann im Pierre-Cardin- Hemd, habe stets "eine extrem kapitalistische Politik betrieben, die mehr an die globale Entwicklung gedacht hat als an die ärmsten Bevölkerungsschichten" - vor wie nach der Revolution von 1974. Oft genug hat er miterlebt, wie Staatssekretäre, Stadtverwalter und Gemeindebürgermeister das Problem in endlosen Sitzungen aufeinander abwälzten. Nichts tut sich.

Bislang konnten sich die Verantwortlichen auf die Verdrängungskünste ihrer Landsleute verlassen, auf eine allgemeine stille Verklärung der großen imperialen Vergangenheit, die jede Sicht auf die Spätfolgen so wunderbar verstellt. Ganz behutsam tasten sich Dichter und Historiker an ein halbes Jahrtausend Kolonialgeschichte heran. Aber Sklavenhandel, Krieg - und auch die Dritte Welt am Lissaboner Stadtrand stören dieses im Perfekt steckengebliebene nationale Selbstbewußtsein, das wehmütig den geblähten Segeln der portugiesischen Weltbezwinger nachblickt.

Ein Monstrum von Denkmal, 70 Meter hoch, ragt am Tejo-Ufer in die Fluten, plaziert auf jenem Kai, wo sich Mitte der 70er Jahre in Kistenreihen bis zum Horizont die Habseligkeiten der Kolonie- Retornados türmten. Ein stilisierter Schiffsbug, an dessen Seiten übergroße Krieger und Christen mit Schwert und Bibel vorwärts- stürmen, gewidmet Heinrich dem Seefahrer, angestrahlt von starken, in zwei Weltkugeln installierten Scheinwerfern. Im Pflaster davor sind die Stationen der Eroberung eingelassen: Die Azoren, die Kapverden, Guinea, Angola, Mozambique, Brasilien, Timor.

In eifersüchtigem Zweikampf mit Spanien, das Christopher Columbus mit Pomp hochleben läßt, feiert Portugal seine "500 Jahre Entdeckung" bis ins Jahr 2000 auf Gedenkmünzen und Sonderbriefmarken, in hübschen Bildbänden und teuren Fernsehserien. Vaco da Gama und Magellan müssen gegen den portugiesischen Komplex antreten. Das zum letzten entschlossene Festkomitee kennt kein Erbarmen. Am Strand des südafrikanischen Küstenortes Mossel Bay sollte im Februar 1988 ein herzliches Willkommen der Ureinwohner für den Kapumsegler Bartolomeu Dias nachgestellt werden. Weil schwarze Südafrikaner keine Neigung zeigten, sich als Statisten an dem Spektakel zu beteiligen, mußten sich Weiße den Lendenschurz überzwängen und schwarz anmalen.

Auf dem Cancao Vencedora Festival '89 holte die portugiesische Gruppe Da Vinci mit einer Eroberungsschnulze den ersten Preis für Interpretation. Ihr Lied "Conquistador", ein Dauerbrenner im Radio, schipperte fahnenschwenkend noch einmal alle Stützpunkte des Ex-Weltreiches ab:

Es war ein ganzes Volk 
Das vom Himmel geführt wurde 
Es hat sich über die Welt verstreut 
Seinen Helden folgend

Sie haben das Licht der Kultur mitgenommen 
Sie haben Zärtlichkeitsbande geknüpft 
Es waren tausend Epen So voller Leben 
Es waren Ozeane der Liebe

Es waren Tage und Tage 
Und Monate und Jahre auf dem Meer 
Auf einer Straße voller Sterne 
Die zu erobern war 

Die Intellektuellen können ruhig spotten. Wen schert es, wenn der Essayist Eduardo Laurenco über den Vergangenheits-Wahn, über ein "autistisches Benehmen" seines Volkes herzieht, das im Geiste immer noch gen Indien segelt; wenn der Dichter Manuel Alegre, unermüdlicher Streiter gegen den falschen Seefahrer-Zauber, verkündet: "Seit Indien sind wir alle mehr oder weniger arbeitslos."

"Auch wenn sie es nicht sehen wollen: Es gibt immer Spuren, die nicht verwischt werden können", meint Pedro Correira, ein Flüchtling aus Timor, der vor zwölf Jahren vom Flughafen weg direkt ins Elendsquartier Val de Jamor verfrachtet wurde. "Wir sind in diesem Tal durch die portugiesische Kolonialgeschichte zusammengeführt worden."

Am oberen Rand des Tals, abgesondert von Afrikanern und Timoresen, leben auch einige weiße Retornados, die es nicht geschafft haben. Maria Da Silva Caldeira, eine alte Frau mit schlechten Zähnen und einem schweren, nie endenden Husten, teilt ihre enge, muffig riechende Baracke, die bei Regen von Sturzbächen durchflutet wird, mit 13 weiteren Bewohnern: ihrem Mann, ihren Töchtern, deren Männern und Kindern. Sie arbeitet als Putzfrau, eine Mietwohnung liegt in unbezahlbarer Ferne.

"In Angola hatten wir es viel besser", sagt Maria da Silva mit rauher Stimme. Da sind sich alle weißen Retornados hier völlig einig. Sie erzählen von ihren schönen Häusern und Gärten in Afrika, sehnen sich noch immer ins schönere, bequemere Kolonieleben zurück. Marias Nachbarin, eine müde, fast leblos wirkende Frau Anfang 50, blüht auf, wenn sie von Angola spricht. "Wir werden dieses Land nie vergessen. Es war eine andere Luft, wir haben anders geatmet. Hier kommt es mir vor, als würden wir immer gefangen leben."

Kurz vor der Unabhängigkeit verließ Maria da Silva 1975 ihr Haus in Südangola. Sie muß geahnt haben, daß es mit ihrem Afrika endgültig vorbei ist: "Ich habe die Schlüssel im Schloß stecken lassen und geheult." Seither erlegt sie nachts die Ratten in ihrer Baracke.  "Hier", sagt sie, "müssen wir kämpfen, bis der Tod kommt."

© Schimmeck