"Die müssen krank sein"

Zwei Zehnjährige sollen in Liverpool ein Baby umgebracht haben - die britische Gesellschaft wird von Selbstzweifeln geplagt

1993 
von Tom Schimmeck 

Cherry Lane, ein schöner Name für eine kleine, triste Straße. Sie schlängelt sich an einem müllbedeckten Bahndamm entlang. Ein dÜsterer Gang führt zu einem Friedhof, gleich daneben residiert ein Grabsteinhändler, gegenüber ein Snooker Club. Viele Ladenfenster sind zugenagelt.

Am Ende der Cherry Lane, Ecke Walton Hall Avenue, liegt ein Blumenmeer. Darin schwimmen hunderte von Kuscheltierchen in allen Farben - Teddybären, Hasen, Pinguine, Snoopys. "Warum?" fragen Kinderzeichnungen, Gedichte, Gebete - geschmückt mit aus den Zeitungen ausgeschnittenen Fotos eines lachenden Babys. Wären die Beatles noch hier, sie würden einen Song darüber machen.

Ein ständiger Zug von Menschen - Junge, Alte, Männer und Frauen, ganze Familien kommen hierher, um den zweijährigen James Bulger zu betrauern, der am 12.Februar entführt, hier ermordet und dann von einem Zug verstümmelt wurde. Sogar die Post kennt die Adresse schon. Da liegt ein Teddybär in einer Plastiktüte mit einer Briefmarke darauf. Anschrift: Jamie Bulger Gedenkstatte, Cherry Lane, Liverpool.

Noch nach Mitternacht starren Menschen auf die wohl tausend Blumensträuße, beugen sich über die zahllosen Zettel, die mit Trauer und Wut vollgeschrieben sind: "Gott Schütze Dich, Baby James. Ruhe in Frieden. Jetzt kann Dir niemand mehr weh tun." - "Nun wird Gerechtigkeit geschehen" - "Sie haben denen, die haben Dich denen, die Dich liebten, weggenommen, sie fanden Dich auf dem Bahndamm, voller Blut... Mögen die Schuldigen für immer hinter Gittern verschwinden."

Die Schuldigen sollen zwei zehnjährige Burschen aus der Nachbarschaft sein - und diese Nachricht hat Liverpool und ganz Großbritannien endgültig die Fassung geraubt. In der BBC-Sendung "Crimewatch" sahen Millionen, wie Klein-Jamie in dem fast fünf Kilometer vom Tatort entfernten Strand Shopping Centre von zwei Jungen mitgenommen wurde, während seine Mutter nach ihm suchte - aufgenommen von Videokameras des Einkaufszentrums. Minuten später erfaßten die öberwachungsgeäte einer nahegelegenen Baufirma die drei Kinder. 

Schon Tage vorher hatte die Polizei mit großem Aufgebot einen Zwölfjährigen festgenommen, was zu turbulenten Szenen in der Nachbarschaft führte. Der Junge wurde freigelassen - und lebt seither mit seinen Eltern in einem Versteck bei Liverpool. Kurz darauf wurden die beiden Zehnjährigen verhaftet. Als sie vergangenen Montag zwecks Anklageerhebung für wenige Minuten vor dem South Sefton Youth Court erschienen, drehten einige der rund 300 Zuschauer durch. Eier und Steine flogen auf die abfahrenden Polizeitransporter, Eiferer drängten brüllend durch die Polizeiketten, schlugen mit Fäusten auf die Fahrzeuge und brüllten: "Mörder", "Bastarde", "Abschaum". "Gebt sie heraus!", verlangten sie, "Hängt sie". Sechs wurden verhaftet.

Dabei hatte die Familie des Ermordeten an alle appelliert, sich zu beruhigen. Ein für Mittwoch geplanter Trauermarsch wurde schnell abgesagt - die Stimmung ist zu labil.

Über die Täter wird Stillschweigen bewahrt. Vor Gericht erschien ein Junge mit seinem Vater, der andere nur mit seinem Anwalt. Beide Familien, heißt es, waren den Sozialarbeitern wohlbekannt. Sie seien zerrüttet, sagen die Gerüchte, Arbeitslosigkeit, Armut, Alkoholismus im Spiel. Nichts so besonderes, hier schon gar nicht.

Die große Mehrheit ist ruhig und grübelt. Immer neue Blumen werden gebracht. Das "Liverpool Echo" ist voller Traueranzeigen, von Nachbarn und Freunden, von Firmen, Clubs, Pubs, Hotels, von Busfahrern, Putzfrauen, Managern und Schulklassen - 150 waren es letzten Montag, über 200 schon am Dienstag. Tendenz: steigend.

Motive, Gründe sind rar. "Jeder hofft, daß es eine Erklärung dafür gibt, was die beiden getan haben", erzählt eine Frau aus Kerkby, jener Vorstadt, in der Baby James lebte. Die Leute machen soziales Elend verantwortlich, mangelnde Fürsorge der Eltern, Fernsehen, Horrorvideos und Computerspiele, die Politik, die schwachen Gesetze, die schlechte Umgebung oder gar die Sünde schlechthin. Männer behaupten, diese Jungen hätten keinen Vater gehabt. Frauen bezweifeln das. "Die Kinder werden immer gewalttätiger", meint ein Vater, der, seine kleine Tochter auf dem Arm, zur Cherry Lane gekommen ist. "Die Leute haben kein Geld und keinen Stolz mehr. Das ist alles."

Auch am Eingang des Strand Shopping Centre häufen sich die Blumen. Das ganze Einkaufszentrum hat eine Schweigeminute abgehalten, genau wie tags darauf auch 40.000 Fußball-Fans im Stadion. Mütter und Väter halten ihre Kinder fest, einige ganz kleine sind sogar angeleint. Ständig kommen Menschen an, verharren vor dem Riesenberg von Sträußen, der mit MacDonalds-Ballons geschmückt ist. "Die Leute hier lieben die kids und leben für die kids", sagt einer stark tätowierter, fleischiger Typ mit Walkie-Talkie, ein Freiwilliger, der auf die Geldsammlung für die Familie aufpaßt. Aber weil es kein Verstehen gibt, wächst der Zorn: "Viele meinen, die beiden Jungen sollten in eine Zelle gesperrt werden und dort verrotten."

"Ich weiß nicht, was in ihrem Kopf vorging, ich bin schockiert und enttäuscht", meint einer, der einfach dasteht, ratlos wie alle anderen. "Das ist ein Schock", "Es ist verheerend", finden auch andere. "Daß Zehnjährige soetwas tun können, bricht mir das Herz", sagt eine Großmutter.

Jedes Detail ist tausendmal diskutiert worden. Vor allem, wie die Kinder bald fünf Kilometer durch belebte Stadtviertel laufen konnten, vorbei an Firmen, Schulen, Wohnhäusern, und nicht aufgehalten wurden, obwohl die beiden Größeren den Kleinen bereits geschlagen hatten. "Ich finde das sehr, sehr komisch", erklärt ein Mann, der seine zwei kleinen Söhne an der Leine hält. Die beiden zehnjährigen haben sogar eine alte Frau nach dem Weg zur nächsten Polizeiwache gefragt. Haben Sie ihre Pläne plötzlich geändert und Baby James umgebracht? Oder war es gar die perfekte Tarnung: "Wir bringen ihn zur Polizei."

Und das ausgerechnet in Liverpool, diesem verschrotteten Prunkstück der industriellen Revolution, Metapher für den wirtschaftlichen Niedergang, den "Urbanizid", wie die Fachwelt den Tod der Malocherstädte taufte. In den 80er Jahren lief hier das große Dichtmachen: Die Zuckerraffinierie, die Keks-, die Reifen- und die Zigarettenfabrik, Ford, Woolworth und die Werften, sie alle schickten ihre Arbeiter nach Hause. Etliche haben seither nichts Neues mehr gefunden.

Das Klischee stimmt trotzdem nicht. Im Hafen, wo einst die Titanic zu ihrer Jungfernfahrt aufbrach, ist viel renoviert worden. In den Kneipen des hochglanzpolierten Albert Dock drängeln sich abends Yuppies zum Sundowner. Manch tristes rbeiterviertel wird seit Jahren aufpoliert. Im Zentrum läuft die Aktion "City Challenge", mit der Investitionen angelockt und Arbeitsplätze geschaffen werden sollen. Liverpool lebt mit der Krise, und kultuviert dabei einen gewissen Rock 'n Roll.

Selbst die Vorstadt Kirkby, wo 35 Prozent der Männer arbeitslos sind, wird ihrem miesen Image nicht gerecht, ist arm, aber durchaus ansehnlich. hier leben Leute mit starkem Gemeinschaftssinn, in jedem Viertel gibt es Sparerclubs, um Kredithaie zu vertreiben. Viele Häuserzeilen sind aufgehübscht worden. Die Gegend mit den Hochhäusern, wo der Baby James wohnte, wird gerade renoviert.

Doch für Rest-Britannien ist Kirby ein Hort der Hooligans, Sozialschmarotzer, Süchtigen und Ganoven, "Klein-Beirut", wie eine Zeitung schrieb. "Kirkby ist immer das Böse", ärgert sich Lokalpatriot Phil Thompson, ein Liverpooler Fußballstar und späterer Trainer, der seit 1957 hier wohnt. Angefangen hat es in den sechziger Jahren mit der britischen Krimiserie "Z Cars". Das allwöchentliche Verbechen spielte sich in einem fiktiven "Newtown" ab. Aber jeder Brite wußte: Drehort war Kirkby. 

"Wir sind angeblich alle drogenabhängig, werfen Steine und klauen Autos", empört sich Corinne, eine blonde 14Jährige, Schülerin in Kirkbys Brookfield School. "Wir werden beurteilt, ohne daß die Presse und die Politiker etwas über uns wissen", findet ihre Freundin Nicole. öber den Tod des kleinen James reden Schüler hier vernünftiger als viele britische Erwachsene: Sie tadeln gewalttätigen Zorn, zeigen Mitleid für die Eltern des Babys, aber auch für den fälschlich verhafteten 12jährigen und suchen - wie alle - nach Erklärungen. "Diese Jungen brauchen psychologische Hilfe", meint Corinne, "die müssen doch krank sein."  

"Der schreckliche Tod", sagte der Pastor bei einem Gedenkgottesdienst Liverpool, "erinnert uns an die sehr reale Möglichkeit des Bösen, des Bösen in jedem von uns." Doch die Briten zeigen auf die Stadt im Nordwesten, als könnten sie das Böse dadurch fernhalten.

Der Mord an Baby James hat eine laute und bizarre nationale Debatte entfacht. Die Strafen müssen drastischer werden, verlangt das aufgebrachte Boulevard. Der Premierminister höchselbst hat zu einem "Kreuzzug gegen das Verbrechen" aufgerufen. "Die Gesellschaft", fügte John Major hinzu, "muß etwas mehr veruteilen und etwas weniger verstehen." Im Frühstücksfernsehen rufen sogar Verbrecher nach schärferen Strafen. Eine findige Firma hat angekündigt, in den nächsten Wochen einen Apparat auf den Markt zu bringen, der beim Verschwinden von Kleinkindern einen Warnton ausstößt.

Es ist Stunde der Laienpredieger. Worte wie Richtung, Philosophie und Moral geistern durch die Leitartikel und Fensehdiskussionen. Politiker brechen sich in einer Spirale rhetorischen Wettrüstens fast die Zunge. Die Labour-Party will im Wettlauf um die Law&Order-Fans ganz vorne liegen. Das sei "ein neuer Zugang", prahlt Tony Blair, der hartes Durchgreifen als eine "neue Beziehung zwischen Individum und Gemeinschaft" verkauft. Labour, gibt Blair offen zu, steht "unter enormem Druck der Mitglieder". 

Die Jugend, so die gängige Klage, sei außer Kontrolle geraten. Schon hat die Regierung neue Gesetze angekündigt und mehr Geld für die sichere Unterbringung minderjähriger Straftäter bereitgestellt. Wieder kommt Sehnsucht nach der éra der Stockschläge und Besserungsanstalten auf. Dabei hatte die konservative Regierung 1979 schon einmal Camps für jugendliche Delinquenten geschaffen - nur um sie fünf Jahre später sang- und klanglos wieder aufzulösen. 

Tatsächlich ist die Zahl verwarnter und verurteilter Krimineller von 14 bis 18 Jahren zwischen 1985 und 1991 um ein Drittel gesunken. Doch "für die meisten Erwachsenen", äzt Times-Kolumnist Simon Jenkins, "ist der Gedanke, daß die britische Jungend keine konstante 'moralische Krise' durchmacht, psychologisch unerträglich." Und jetzt, fügt er hinzu, hielten sie ihrem Innenminister "einen Vortrag über die Vorzüge von Rute, Galgen, Kastration und Kerker".

Da vermengt sich die Empörung um den Baby-Mord mit der verheerenden Cricket-Niederlage vergangene Woche gegen Indien, dem Dauerfrust über das Siechtum des Königshauses und die Wirtschaftkrise: Die Zahl der Langzeit-Arbeitslosen liegt erstmals seit fünf Jahren wieder über einer Million. Hinzu kommt, wie er "Daily Telegraph" letzten Mittwoch diagnostizierte, ein allgemeiner "pesimistischer Fatalismus" - belegt durch eine Gallup-Untersuchung, die zeigt, das Briten auch auf das Wort des Gentleman und die Qualität der Industrieproduktion spucken. 

Der Name Liverpool ist den Briten ein Synonym ihrer Krise. "Sie behandeln uns wie ein fremdes, feindliches Land inmitten Großbritanniens", sagt der Chefredakteur des "Liverpool Echo". Das war schon bei der Fußball-Katastrophe von Hillsborough im April 1989 so, als 94 Menschen zu Tode getrampelt wurden - obwohl die Livepool-Fans die geringste Schuld traf.

Auch die schwarze Revolte im Liverpooler Stadtteil Toxteth 1981 hat den Ruf der Stadt nicht verbessert. In der Upper Parliament Road tobte damals der ersten schwarze Aufruhr Großbritanniens. Heute steht hier, zwischen fensterlosen Ruinen und ein paar neuen Parzellen eine hochsichere Filiale der Westminster Bank, die aussieht wie ein wohlarmierter Vorposten des Kapitalismus auf feindlichem Terrain.

Das große, neue Sozialamts-Bau im Zentrum von Toxteth sticht aus dem Meer der kleinen Backsteinhäuser heraus wie eine Raumstation. "Die Kinder werden einfach wild", sagt ein alter Mann in der Schlange vor der Tür. "Es ist schrecklich, eine Schande", sagt eine 39jährige Frau. "Wenn es meine gewesen wäre - die kämen nicht vor Gericht, die würden begraben." "Die Gesetze müssen viel schärfer werden", fällt eine andere ein. "Zuviele Leute kommen mit zuviel ungestraft davon, Vergewaltiger, Kidnapper, alle."

"Dieser Mord wird die Nation verändern", erklärt ein Mann, der seit 1981 arbeitslos ist. "Wir haben genug. Wir brauchen diese Politiker nicht, diese große Ideen aus London. Sie gehören in den Hintern getreten. Wo ist dieser Mister Major? Er hat sich das hier nicht angeguckt. Er traut sich nicht nach Liverpool."

© Schimmeck