Tod dem Computer

Der Unabomber steht nicht allein: In den USA wächst die Zahl der Maschinestürmer. Sie kämpfen mit Büchern und Bomben

1996 
von Tom Schimmeck 

Es geschah in der New Yorker Stadthalle, vor 1500 Zuschauern. Eigentlich sollte es eine ganz artige Diskussion werden. Doch dann trat ein Referent hinter dem Pult hervor, wuchtete einen Vorschlaghammer über den Kopf und ließ ihn auf einen Computer vor sich niedersausen.

„Es war wunderbar“, bekannte der Schläger hernach. „Dieses Geräusch, das Hervorquellen der zweifellos giftigen Innereien, der Staub, der in der Luft hing. Einige haben applaudiert.“

Etwa ein halbes Dutzend PCs hat Kirkpatrick Sale auf diese Art schon zerlegt. Sale gilt als Leitfigur einer neuen Generation von Maschinenstürmern, die in den USA auf dem Vormarsch ist: die „Neo-Ludditen“. Namensgeber waren Handwerker, die Anfang des 19. Jahrhunderts im Raum Nottingham unter einem mystischen General Ludd gegen die ersten Textilmaschinen fochten, die sie arbeitslos zu machen drohten.

Die Neo-Ludditen, eher von der intellektuellen Sorte, kämpfen gegen den Siegeszug des Digitalen. Zu lange, sagen sie, seien die Technik-Vergötterung der Cyber-Apostel, ihre Arroganz und ihr krauses Vokabular unwidersprochen geblieben. Sie gruseln sich vor der sinnlichen Verarmung und Vereinsamung der Menschheit. Sie fürchten den finalen Triumph der Techno- über die Biosphäre. Man liebe dieses Morgen nicht freiwillig, schreibt Autor Pascal G. Zachary, „sondern so, wie eine Geisel ihren Geiselnehmer liebt“.

Echte Neo-Ludditen wie Sale empfinden schon beim Telefonieren „physischen Schmerz“, andere leben in Lehmhütten ohne Stromanschluß. Plötzlich sind sie überall. Man könne heutzutage an keiner Bar mehr stehen, klagt ein entnervter amerikanischer Computerfreak im Internet, ohne daß „man von einem langweiligen Neo-Ludditen mit dessen Küchenphilosphie über das technologische Teufelswerk bearbeitet wird“.

In der Regel sind die Antitechniker harmlos, schlachten allenfalls mal ein ausgedientes Notebook, um ihr Mütchen zu kühlen. Nur einer in den USA galt bislang als wirklich gefährlich: der „Unabomber“. Der Serientäter, vom FBI so getauft, weil seine Anschläge sich vor allem gegen Mitarbeiter von Universitäten und Airlines (Fluggesellschaften) richteten, hat mit selbstgebastelten Paketbomben in den vergangenen 18 Jahren drei Menschen getötet und 23 verletzt. Vor zwei Wochen endlich wurde ein dringend Tatverdächtiger festgenommen: Theodore Kaczynski (53), Harvard-Absolvent und ehemaliger Mathematik-Dozent an der Universität Berkeley in Kalifornien. In seiner abgelegenen Berghütte, 60 Meilen nordwestlich von Helena in Montana, fanden die Fahnder vier halbfertige Bomben und Ingredienzen zum Bombenbau.

Kaczynski war ein brillanter, höchst penibler Wissenschaftler, bevor er vor Jahren in der Hütte verschwand. Sein Bruder hatte beim Ausräumen des elterlichen Hauses in Chicago alte Briefe gefunden, die in ihm den Verdacht aufkeimen ließen, Theodore könnte der langgesuchte Terrorist sein.

Der Unabomber war keineswegs schweigsam. Im vergangenen Jahr drohte er mit einem Anschlag auf ein Linienflugzeug – nur um danach einen Handel anzubieten: Er sei es müde, teilte er mit, jeden Abend komplizierte Bombenteile zu feilen. Sollte eine große Zeitung einen Essay von ihm drucken, würde er im Gegenzug mit den Anschlägen aufhören, allenfalls noch ein paar Sabotageakte verüben – ohne menschliche Opfer.

Im September veröffentlichte die „Washington Post“ ein enormes Manifest aus seiner Feder – etwa so lang wie 20 Seiten dieser Zeitung. Der erste Satz lautete: „Die industrielle Revolution und ihre Konsequenzen sind ein Desaster für die menschliche Rasse gewesen.“ Auch das Manuskript fand sich in der Berghütte.

An den Yale-Professor David Gelernter schrieb er, nachdem er ihn im Sommer 1993 schwer verletzt hatte: „Wenn Sie einen Funken Verstand hätten, würden sie bemerken, wie viele Menschen die Art und Weise verabscheuen, in der Techno-Spinner Ihres Schlages die Welt verändern.“

So bedrohlich und irre seine Taten waren, so sehr wurde er dennoch zum Symbol. Der Unabomber hat in den USA über die Jahre Kultstatus erlangt. Nicht nur das FBI, auch Wissenschaftler, Journalisten und Schriftsteller wie Douglas Coupland („Generation X“) zerbrachen sich den Kopf über das Phänomen. Im Internet gibt es – Ehrensache – eine Newsgroup „alt.fan.unabomber“. Die Nachricht von der Verhaftung wurde dort höchst ungläubig zur Kenntnis genommen.

Bei solcher Verehrung ist auch Frust im Spiel. Ernüchterung über eine durchcomputerisierte Welt, die sich allmählich als weit weniger wunderbar erweist, als ihre Propheten vorhergesagt haben. Längst ist die digitale Zukunft von der Ansichtssache zur Glaubensfrage mutiert. In den USA sind ein ganzer Schwung Bücher auf dem Markt, die die großsprecherischen Verheißungen des neuen Zeitalters nun auf ihren Wahrheitsgehalt abklopfen. Plötzlich gefragt sind: Widerworte, Zweifel, sogar Furcht. Die heilige Computer-Kuh hat Rinderwahnsinn.

Die digitalen Gurus werden frontal angegangen: Was redet ihr da? Was wird aus unseren Jobs, aus unserer Kultur, was passiert mit der Natur, dem Alltag, den Gefühlen? So fragt die neue Generation der amerikanischen Techno-Skeptiker. Was ist der Preis des verchipten Daseins? Was bringt den Menschen diese Zukunft wirklich? Ist es wirklich so großartig, wenn unsere neuen Kühlschränke genau wissen, wann die Milch alle ist?

Ewiges E-Mailen und Online-Chatten, argumentiert etwa der Autor Clifford Stoll, zerstöre menschliche Kommunikation und Intimität. Er träumt statt dessen von handgeschriebenen Briefen in Umschlägen mit spuckegeklebten Briefmarken, die in alten Schuhkartons gesammelt werden.

Schon jetzt, meint Autor Sven Birkerts („The Gutenberg Elegies“), leben wir „in einem intellektuellen Notstand“. Wenn Bibliotheken durch CD-Roms und vernetzte Massenspeicher ersetzt würden, wenn Klassenräume zugunsten von Lernterminals verschwänden, litten Kultur und Geist. Schreiben werde durch Textverarbeitung verdrängt, der Zufall der Entdeckung und die Ästhetik des Blätterns blieben dabei auf der Strecke.

Dazu kommt handfeste ökonomische Kritik: Die Geschichte der modernen Datenverarbeitung, sagt der Autor R. Dennis Hayes, sei eine Geschichte von „Betrug und totalem Scheitern“. Die Arbeitslast sei nicht, wie proklamiert, reduziert, die Produktivität oft nicht wirklich erhöht worden – im Gegenteil. Statt dessen hätten die Maschinen der Menschheit eine Epidemie chronischer Erkrankungen wie das Repetitive Stress Syndrome (DIEWOCHE vom 31. März 1995) beschert. Sie hätten das Tempo erhöht – ohne die vielen versprochenen Vorteile zu liefern.

Erfahrungen, die auch die Ludditen zu Zeiten der ersten industriellen Revolution in Großbritannien machen mußten. Sie waren davon überzeugt, daß die maschinellen Webstühle ihren Stolz und ihren Arbeitsplatz vernichten, ihre auf Tradition fußenden Preise verderben und obendrein weit schlechtere Qualität liefern würden. Die Bedrohung war keine Einbildung: Alles wurde teurer, nur ihre Arbeit brachte viel weniger ein. Als die Weber-Guerilla Ende des Jahres 1811 die ersten Webrahmen zerstörte, soll die Unterstützung aus dem Volk beträchtlich gewesen sein. Bald kam es zu Kämpfen, wo auf der einen Seite an die 1000 Ludditen standen, auf der anderen Werkschützer und schließlich die Armee. Es gab Tote.

Die modernen Ludditen aber seien keine bedrohten Werktätigen, sondern elitäre Verschwörungstheoretiker, die sich künstlich erregten, meint der „New York Times“-Kolumnist James Gleick. Typen, die nur „unverschämt bevormundend sind“, die „für dich entscheiden wollen, welche Technologie du benutzt“. Der Computer-Prophet verachtet die digitalen Analphabeten: in seinen Augen die letzten Saurier einer untergegangenen Ära.

Viele Softwarebastler halten sich für Revolutionäre. Sie meinten es womöglich gar gut, räumt Autor Stoll ein, „aber ich glaube ihnen nicht. Denn es gibt keine simplen technologischen Lösungen für soziale Probleme.“ Stoll, ein Astrophysiker, ist Experte für Computersicherheit, seit Urzeiten online. Seine Botschaft: kein Nein, eher ein strenges „Ja, aber“. Kritikern seines Schlages geht es um die Entzauberung der virtuellen Welt. Sie wollen den überbordenden Technik-Optimismus auf die Füße stellen. Laßt die heiße Luft aus den Prophezeiungen, sagen sie, cut the hype.

LITERATUR

CLIFFORD STOLL Silicon Snake Oil. Second Thoughts on the Information Highway (Doubleday)

SVEN BIRKERTS
The Gutenberg Elegies.The Fate of Reading in an Electronic Age
(Faber & Faber)

KIRKPATRICK SALE
Rebels Against the Future.The Luddites and Their War on the Industrial Revolution
(Addison Wesley)

STEPHEN L. TALBOTT
Future Does Not Compute. Warnings on the Internet (O’Reilly & Associates)

JAMES BROOK
Resisting the Virtual Life. The Culture and Politics of Information
(City Lights)

DANIEL BURSTEIN
Road Warriors: Dreams and Nightmares Along the Information Highway (Dutton)
 

© Schimmeck