Der lächelnde König

Nelson Mandela auf Wahlkampftour. Und selbst seinen Feinden wird warm ums Herz

1994 
von Tom Schimmeck 

Der weiße Hubschrauber geht knattern nieder, eine riesenrote Staubwolke steigt gen Himmel. Sand wirbelt der Menge ins Gesicht, doch sie drängt vor, ihn zu sehen, zu hören, anzufassen. 

Alle schreien. 

Die Tür schwingt auf, schon sieht man das weiße Haar, dann sein Lächeln, die winkende Rechte. Er  steigt aus und dreht eine Ehrenrunde, schüttelt Hände, winkt. Das Volk brüllt: „Nelson Mandela". Freude pur: Es scheint, als begänne mancher erst jetzt, da er leibhaftig vor ihnen steht, an das neue Südafrika zu glauben; als sei heute der Tag, für den es sich zu leben lohnt. 

Seit Monaten ist der 75jährige auf Reisen durch sein Land - offiziell seine Wahlkampftournee, tatsächlich ein Triumphzug. Wo immer er auftaucht, brauchen Ordner alle Kraft, die Leute im Zaum zu halten. Die Botschaft ist klar: „Unsere Zeit", weiß Mandela, „ist gekommen." 

Selbst in weißen Kreisen ist diese fast kindliche Vorfreunde zu spüren, bevor Mandela eintrifft. Wenn er die Runde macht, kriegen gestandene Kerle feuchte Hände, manch junge Frau improvisiert den Hofknicks. 

Am wildesten jedoch ist die Stimmung draußen im Busch, in den abgelegenen Homeland-Dörfern, wo Menschen vom neuen Südafrika am meisten erhoffen. Das ist eine Ekstase wie damals bei seiner Freilassung, am 11. Februar 1990: Menschen tanzten auf den Straßen, umarmten sich und sangen. Selbst in den Abendnachrichten des staatlich kontrollierten Fernsehens spielten sie an jenem Tag den Song „Free Nelson Mandela". Bei seiner Ansprache im großen Fußballstadion nahe Soweto vibrierten die Tribünen. 

Siegestaumel. Gut ein Vierteljahrhundert lang hatte das Burenregime sein Bild und seine Worte verboten. Südafrika bekam ihn nicht zu Gesicht, der Rest der Welt war auf eine Handvoll alter Fotos angewiesen: Der junge Mandela in Stammestracht, der kräftig gebaute Boxer beim Training, der bärtige Anwalt in seiner Kanzlei in der Fox Street. 

Dann, nach 27 Jahren, mußten die Buren ihren weltberühmten Gefangenen herausgeben. Die Legende wurde wieder Fleisch, hatte wieder Gestalt, ein Gesicht, eine Stimme. Und aus dem Gefängnistor trat kein gebrochenes, sabberndes Wrack, sondern ein drahtiger, gutaussehender Herr, ein Staatsmann. Südafrikas Unterdrückte platzen vor Stolz: Sie feierten ihren Helden, seine Stärke - und sich selbst. 

Gleich nach seiner Freilassung ließ Mandela Johannesburgs Börsenkurse sacken, indem er Verstaatlichungen zum Kernpunkt des ANC-Programms erklärte. Heute redet er behutsam wie ein Sozi. Egal, was er sagt, die Welt liebt ihn: Er ist siebenfacher Ehrenbürger, hat zwischen New York, Havanna und Kuala Lumpur acht Ehrendoktoren eingesammelt, dazu Unmengen von Preisen. 

Er ist kein Mann der Theorie, eher ein Pragmatiker mit einem Schuß Afrikanismus, Sozialismus, Humanismus. Gewiß auch ein Meister des Spagats: Sein ANC bekam Geld von der Sowjetunion, Kuba, dem Iran und punpt heute vor allem im Westen. Mandela kann Ghaddafi loben, Arafat den Bruderkuß geben, und sodann Clinton, Major und Kohl herzlich die Hand schütteln. Der Brückenschlag wird selbst in den Biographien seiner Begleitmannschaft sichtbar: Ein Bodyguard wurde beim Stasi in Dresden ausgebildet, sein Fahrer hat den atemraubenden Kurvenstil beim amerikanischen FBI gelernt. 

Gut vier Jahre ist Nelson Mandela nun frei, ein öffentlicher Mensch, der hunderte von Interviews gegeben, tausende von Reden gehalten hat. Einer aus Fleisch und Blut; einer, der Fehler machen kann. Seiner Aura hat das nicht geschadet. Er ist ein Mythos geblieben. 

Mit seinem Lächeln kann er Scheu und Skepsis, selbst Zorn verfliegen lassen. Wenn er aufhört zu Lächeln, wird es ernst. Ein Anflug von Zorn in seiner Stimme - schon scheint es, als sei das Jüngste Gericht gekommen. Er fordert Respekt. Selbst weiße Herrenmenschen können sich dem nicht entziehen. Unlängst, berichten Chronisten, verlangte eine Gruppe rechtsradikaler Buren im Khaki-Outfit ein Gespräch mit ihm. „Wenn einem einzigen Weißen ein einziges Haar gekrümmt wird", zischelte ihr Wortführer, „bedeutet das Krieg." „Was für ein Krieg?", fragte Mandela völlig unbewegt - um in das Schweigen hinein selbst zu antworten: „Sie könnten ihn vielleicht entfesseln, aber am Ende, das wissen Sie, würden Sie ausgelöscht." Er habe sich vielleicht zu direkt ausgedrückt, meinte der Anführer nach einer Pause - „entschuldigen Sie, ich bin Militär." 

Seine einzige offene Flanke ist Winnie, die Frau, die so viele Jahre zu ihm hielt. Winnie, einst als „Mutter der Nation" verehrt, hatte sich von seiner unermüdlichen Unterstützerin, seiner Stimme nach draußen, in eine Furie verwandelt, die in Soweto eine private Schlägertruppe kommandierte. Viele sagen, ihre Integrität sei im Scheinwerferlicht zu vieler Kamerateams dahingeschmolzen. Wegen Entführung eines Jugendlichen und Beihilfe zu schwerer Körperverletzung wurde sie 1991 verurteilt. 

Längst ist die radikale Winnie Mandela, Rächerin der Ärmsten, Heldin der Township-Jugend, wieder auf dem Weg nach oben - als Chefin der ANC-Frauenliga, ab nächster Woche wohl auch Mitglied des neuen Parlaments. Ihrem Mann wirft sie vor, er schliefe „mit dem Gegner unter seidenen Decken". Seit er seine Beziehung mit Winnie im April 1992 der Sache opferte, führt er ein einsames Leben. 

Draußen in Ga-Sekgopo, im Homeland Lebowa, wo der Wahlkämpfer mit dem Hubschrauber niedergegangen ist, steht schon der BMW bereit - Mandela will zunächst den Dorfältesten seine Aufwartung machen. Der Wagen zwängt sich durch die Menge, auf der mit rotem Staub bedeckten Karosserie werden die Abdrücke unzähliger Hände sichtbar. 

Sie empfangen ihn in einem kargen Gebäude, der älteste Chief begrüßt den Gast mit einer kurzen Rede. Die Begegnung wirkt - nach dem Freudentaumel draußen - fast lautlos, ein wenig steif, sehr würdevoll. Mandela, selbst Sohn eines Chief, weiß aus familiärer Erfahrung, wie wichtig die Gratwanderung zwischen Tradition und Moderne ist. Er sei, sagt Fatima Meer, seine offizielle Biographin, ein moderner Führer „mit patriarchalischen Farben". 

Die Zeit ist knapp, er muß zurück zu den Massen. Seit Stunden warten sie dicht gedrängt auf dem kleinen Platz an der Mocheodi Secondary High School, Jugendliche haben sich in die Bäume gehängt, um ihn besser sehen zu können. Als er eintrifft, erschallt aus Lautsprechern ein poppiger Chor, effektvoll wird der berühmte Schlußsatz seiner Verteidigungsrede im Rivonia-Prozeß 1964 einblendet. Damals beschwor er das Ideal einer demokratischen und freien Gesellschaft, für das er leben wolle und zu sterben bereit sei. Auf das „Sterben" haben die Techniker ein Echo gelegt - albernes Pathos. 

Die Tambourmajorinnen in ihren Kunstfaser-Kostümen verglühen fast in der Sonne. Jungen bieten einen traditionellen Tanz. Ein kleines Mädchen trägt aufgeregt ein Gedicht vor, von dem nur eine Zeile klar zu verstehen ist - eine Frage: „Wie viele müssen noch sterben?" 

Die Zeremonie dauert keine Viertelstunde, dann geht es zur Sache. Der ANC-Chef hält kaum noch Ansprachen, stattdessen stellt er sich „Volksforen", bei denen die Leute fragen können, was sie bewegt. „Wir haben hier nichts, nicht mal einen Sportplatz, wir sind einfach nackt", sagt der erste Redner. „Wir leben hier zusamengequetscht, und die Weißen haben all das Land", meint ein junger Bursche. „Wir haben kein Wasser, keine Straßen, keine Schulen, bitte, Nelson Mandela, bring uns diese Dinge", ruft eine alte Frau. „Die Weißen haben alle Waffen", grübelt der nächste, „wie soll das enden?" 

Mandela lauscht reglos, nur die Augen wandern durch die Menge. Er bemüht sich, klar zu antworten, seine Versprechen behutsam zu dosieren - geteerte Straßen, Wasser in jedem Haus, gut ausgebildete Lehrer. Er spricht langsam, fast wie beim Diktat, mahnt zu Geduld und Mäßigung. Beim Anblick all dieser erwartungsvollen Gesichter wird er plötzlich nachdenklich: „Ich denke, ich werde nie ein Verräter sein", sagt er, „aber ihr dürft Euch trotzdem nicht auf mich verlassen, ihr müßt euch auf euch selbst verlassen. Man weiß nie, zu was ein Mann fähig ist." 

Nicht, daß er an sich zweifeln würde. Schon 1961 kabelte ein Korrespondent der Financial Times, der sich mit dem untergetauchten Mandela getroffen hatte, verblüfft nach London: „Er sprach mit lauter Stimme, tatsächlich mußte man ihn warnen, nicht die Nachbarn zu stören." 

Mandela weiß, wie wichtig er ist. Mit der Selbstdisziplin, mit der er Robben Island, die karge Gefangeneninsel vor Kapstadt überlebt hat, hält er sich weiter fit - um dem neuen Südafrika als Vaterfigur zu dienen. Solange ein Politiker da ist, der für seine Ideale im Steinbruch geschwitzt hat, scheint vielen ihr Leid erträglich. Schrecklich die Vorstellung, er könnte ermordet werden: Die Geduld der Mehrheit, ohnehin arg strapaziert, wäre mit einem Schlag zuende. 

Denn der Name Nelson Mandela - das ist die Formel für ihre Träume. 
 

© Schimmeck