High Noon in Otjiwarongo
Ein Kaff in Namibia in Zeiten des Umbruchs
1989
von Tom Schimmeck
Genaugenommen ist Tim schon ziemlich betrunken,
als wir mit Einbruch der Dunkelheit das Hotel Brumme verlassen, seinen
weißen VW-Bus entern und zur Karnevalsfeier im Pfadfinderheim fahren.
Er hat wohl, wie üblich, seit dem frühen Vormittag irgendeinen
Whisky, vermengt mit Soda, durch seinen schütteren Bart gegossen,
um gegen die trockene Hitze und das ganz generelle Gefühl von Leere
anzukämpfen. Aber die hagere Gestalt des Hotelpächters
Tim Wagener, Herr über 33 Angestellte und 21 Zimmer, hält sich
aus purer Gewohnheit noch halbwegs aufrecht.
Die Stadt ist zu dieser frühen Abendstunde schon wie ausgestorben.
Die weißen Einwohner haben sich hinter ihre Mauern und ihren Stacheldraht
zurückgezogen und die Alarmanlage angeworfen. Wachköter schrammen
kläffend an den Zäunen entlang; die Schilder, die vor ihrem zupackenden
Biss warnen, sind durchaus ernst zu nehmen.
Auf dem Parkplatz des Pfadpfinderheims stehen eine Menge gepflegter
Autos. Deutsche Schlagermusik weht vom mit bunten Glühbirnen erleuchteten
Innenhof herüber, wo rund vier Dutzend zum Feiern entschlossene Deutschstämmige
an langen, mit weißen Papierdecken und Plastikgrün verzierten
Klapptischen niedergelassen haben. Ordentlich gekleidete weiße Kinder
produzieren gedämpften Lärm. Zwei Paare versuchen sich kichernd
beim Dart, aber die Zielsicherheit scheint getrübt. Die Party währt
schon eine Weile.
Skeptisch, aber interessiert inspizieren Tims beste Kumpel den Eindringling
aus Europa, reichen Bier zum Anwärmen und plaudern vom schönen
Leben in Südwest. Das Wort führt Manfred Paetow, meist schlicht
"das dünne M" genannt. Er ist Tischler und Vorsitzender der Rotarier
Otjiwarongos, die in Tims Hotel jeden Freitag zum Lunch einkehren. Der
schmächtige Frühfünfziger in Shorts und Polohemdchen versucht,
den Blick eindringlich und ein wenig belehrend auf das Auditorium gerichtet,
die Balance zwischen offenem Wort und diplomatischem Verschweigen zu finden.
Europäische Ohren, das weiß man hier, sind manchmal ein wenig
überempfindlich. Da will erst einmal sondiert werden, wes Geistes
Kind der Fremde ist.
An den Wänden hinter der widerspenstigen Zapfanlage, die das Bier
nur in dünnem Strahl freigibt, sind die Wimpel der Otjiwarongo Boy
Scouts aufgehängt, Embleme der Sippen Reiher, Adler und Wildschwein.
Ganz frisch eine Urkunde des südwestafrikanischen Hauptquartiers zum
dreißigjährigen Bestehen vor einem Monat, die den Scouts einen
wohlgesetzten Glückwunsch "für hervorragende Leistungen und den
Beitrag zur Erziehung vorbildlicher Landesbürger" ausspricht. Ob denn
das Pfadpfinderheim für alle offen ist? "Jaja, es ist für alle,
aber faktisch...", das dünne M windet sich ein wenig. "Weisst du,
die Eingeborenen schaffen die Organisation nicht, und die Beiträge..."
Man dutzt sich gnadenlos in dieser kleinen Schicksalgemeinschaft, wo jeder
jeden seit Jahrzehnten kennt. Aber die Frage ist nicht sonderlich willkommen.
Manfred Paetow hat es vor einem Vierteljahrhundert von Hamburg-Rissen
nach Südwest alias Namibia verschlagen, wie genau ist nicht mehr so
recht so rekonstruieren. Bei denen, die nicht hier geboren sind, waren
es meist alte familiäre Bindungen oder eine Freundin in Südwest
oder schlicht der Wunsch, der europäischen Hektik zu entfliehen. Tim
etwa, geboren in Neumünster und jetzt fast 50, hat in jungen Jahren
irgendwann beschlossen, daß die Jobs in Deutschland nichts für
ihn sind und sich nach Afrika aufgemacht. Er versteht sich mit den Deutschen
in Otjiwarongo, und auch mit den Buren, auch wenn er sie "Schlappohren"
nennt. Die kleinen weißen Zirkel sind überschaubar, jeder hat
seinen festen Platz, man ist sich, meistens, einig. Eine Art dörflicher
Gemeinschaft, geborgen in strengen, aber leicht erlernbaren Regeln, zusammengeschweißt
in einem diffusen Gefühl der Bedrohung durch die Überzahl von
Schwarzen. Da draussen in Orwetoweni, dem Township Otjiwarongos, abseits
des weißen Zentrums gelegen, wo rund 11 000 Schwarze, vier Fünftel
der Einwohner, sich ein Fünftel der Stadtfläche teilen. "Uns
geht es gut, wir haben alles hier", sagt Tim und zählt gemeinsam mit
dem dünnen M die soziokulturellen Errungenschaften des weißen
Otjiwarongo auf. Zunächst die Rotarier und die Karnevalsgesellschaft
natürlich und dazu den Reitverein, den Squash-, den Tennis-, den Golf-
und den Faustballclub. Dazu vier Kegelvereine. Das könne sich doch
sehen lassen, meinen sie.
Und nun bricht die Demokratie herein und selbst die Karnevalsgesellschaft
"Frohsinn und Humor" ist von ihr nicht verschont geblieben. Weil die Karnevalsprinzessin
als Wahlhelferin eingespannt war, mußte der Eröffnungsabend
dieser Saison um einen Tag verschoben werden - und nun ist sie doch nicht
gekommen. Sitzungspräsident Dr. Tietz hebt trotzdem zur Büttenrede
an, holpert Vers auf Vers in die klatschende, Helau-rufende Runde und müht
sich, seinen irritierten Mitkarnevalisten in dieser unruhigen Zeit ein
wenig entspannende Ablenkung zu verschaffen. Er spöttelt über
die Politiker, die im Wahlkampf das für ihn so geschwollen klingende
Englisch bevorzugten. "Macht Euch also keine Sorgen, meine Lieben / Für
uns ist das Wahlergebnis jetzt schon bekannt/ Ab 11.11. regiert die KKP
im ganzen Land!" KKP, erläutert Dr. Tietz im weiteren Verlauf seiner
Reimattacke, das sei die Karnevalskoalitionspartei. Und die Zuhörer
finden das brüllend komisch.
Herr Remmert, der Leiter der deutschen Schule, ist da und Herr Brockmann,
Besitzer des örtlichen Fahrradgeschäfts, Enkel eines der ersten
deutschen Missionare im Land. Und das "Grosse M": der selbständige
Buchhalter (-führer ???) Manfred Mai, Tims besonderer Spezi, ein kerniger
Kumpeltyp mit Vollbart und rotem Käppie über dem runden Gesicht,
ein Schulterklopfer aus Berlin. Nachdem die Büttenrede überstanden
ist, wenden sich die Männer ein wenig der Politik zu. Ihr Deutsch
ist mit afrikaansen und englischen Einsprengseln durchsetzt. Sie sagen
mooi und lekker für alles gute und schöne, bikkie für ein
bisschen und allright und bloody. "Kommunismus, das choppt nicht mehr",
meint einer am Tisch, "es muss gearbeitet werden und das tun nur die Weißen."
Man sei beileibe nicht rassistisch gesonnen, erläutert Rotarier Paetow
eilig. "Der Schwarze hat einfach eine andere Mentalität. Der
kann auch den ganzen Tag unter einem Baum sitzen und sich mit dem Schatten
bewegen. Das ist dann auch die einzige Bewegung, die er macht." Genau,
findet ein rotgesichtiger Farmer. Einer seiner Arbeiter, der habe nach
vier Jahren einfach gekündigt, weil er nicht mehr arbeiten wollte.
"Das ist das", schnaubt der Farmer, "aufm Arsch sitzen und nix mehr tun."
Ein gefährlicher Pfirsichschnaps macht die Runde und setzt die
ganze Pein des weißen Arbeitgebers frei. "Wenn der Schwarze...",
brummt einer, "mein Schwarzer...", sagt das Dünne M und erzählt
von einem Angestellten in seiner Tischlerei, der nach ein paar Monaten,
höchstens anderthalb Jahren immer einen Rappel kriegt und eine Zeit
lang aufhört. Der verdient, teilt er auf vorsichtige Nachfrage hin
mit, 350 Rand im Monat, knapp 250 Mark. Und irgendwie ärgert sich
das Dünne M, daß der dann einfach so geht. "Wenn ich ihn nicht
mehr haben will, muß ich ihm 14 Tage vorher Bescheid sagen." Eigentlich
empfindet er es auch als ein ziemliches Unding, daß auch die Schwarzen
mit 18 Jahren schon wählen durften. "Die hätten das auf 25 raufsetzen
müssen, weil der Schwarze noch gar nicht so weit ist."
Tim, der in der Zwischenzeit energisch gegen das Absinken des Whisky-Gehalts
in seinem Blut eingeschritten ist, bringt ein neüs, nicht minder drängendes
Problem ein - die Öffnung der deutschen Schulen im Lande nach der
Unabhängigkeit. Bislang haben die Deutschen in Otjiwarongo ihre eigene
Lehranstalt, überwacht von der Administration für Weiße,
im Wappen ein spitzes etwas, daß an ein Stück Stacheldraht erinnert
und darunter den Sinnspruch: "Bauet am Erbe". Vor allem in den Internaten
sei die Aufhebung der Rassentrennung tückisch, orakelt das Dünne
M, "weil der Schwarze ja rein naturmäßig viel weiter entwickelt
sei als die Weißen." Die Väter scheuen sich, das etwas konkreter
auszuführen. Aber ihre Minen verraten, daß ihre Phantasie wahre
Horrorszenen produziert. Die unschuldigen hellhäutigen Töchter,
im gleichen Internat mit gutgewachsenen, potenten schwarzen Jungs -
das sind die wahren Schrecken der Unabhängigkeit. Notfalls, meint
Tim, könne man die Schulen ja kaufen und privatisieren. Und die Schwarzen
würden die deutsche Aufnahmeprüfung sowieso nicht bestehen. Im
Gegensatz zu den Afrikaaner-Schulen, fällt ihm ein und ein schadenfrohes
Grinsen huscht über sein Gesicht. "Die Buren-Schulen sind am Arsch,
weil die Schwarzen Afrikaans sprechen. Die Südafrikaner haben sie
schließlich dazu gezwungen."
Plötzlich geht es schnell ganz bergab. Die Frauen räumen auf,
ihre Gatten müssen auf Streife. Seit einer Woche umkreisen die weißen
Männer der Stadt nachts in kleinen Gruppen mit ihren Autos die Häuserblocks,
nur zur Sicherheit, für alle Fälle, zehn Trupps zur gleichen
Zeit.
Lallend, alle Kernsätze zweimal wiederholend, disputieren Tim und
das Grosse M, allein zurückgeblieben, über die Zukunft des Karnevalsvereins.
Vor vielen Jahren war der Hoteldirektor einmal Karnevalsprinz - "Prinz
Tim 1 von Pils und Korn". Wir passen aufeinander auf", freut er sich. "Kennst
du schon die Geschichte von Tim und der Todesspirale?", fragt das Grosse
M und erzählt: Als Tim einmal nachts ins Hotel zurückkam, wollte
er der Geliebten des Hotelwächters, die sich mit ihrem Freund in einen
Tischdeckenstapel zurückgezogen hatte, zur Strafe in den Hintern treten,
wie es Sitte ist im Umgang mit dem schwarzen Personal. Aufgrund seines
nun schon bekannt labilen Dauerzustandes verfehlte der Hotelier sie jedoch
knapp, rotierte mehrfach um die eigene Achse und setzte sich schliesslich
auf sein eigenes Hinterteil. Die Episode muß schon unzählige
Male aufbereitet worden sein, aber das Große M scheint immer noch
recht begeistert von dem Vorfall. Und auch Tim lächelt trotz der traumatischen
Niederlage fast ein wenig stolz. Auch jetzt kann er nicht mehr richtig
laufen, aber seinen VW-Bus besteigt er wacker. "Besoffen", erläutert
Tim mit schwerer Zunge, fahren wir Südwester am besten." An der Heckklappe
klebt ein Sticker: "Deutschland ist größer als die Bundesrepublik."
***
Otjiwarongo ist ein ganz gewöhnliches Städtchen in Namibia,
gelegen zwischen riesigen Rinderfarmen an der Kreuzung zweier Hauptstraßen.
Die eine führt vom einzig brauchbaren Atlantikhafen Walvis Bay, den
die Südafrikaner auch nach der Unabhängigkeit des Landes gern
behalten wollen zu den von den Kupfer-, Blei- und Zinkminen im Norden und
weiter hoch ins Ovamboland. Bis vor ein paar Monaten war der Norden nur
mit Passierscheinen von Polizei und Militär zu befahren, die Strasse
fungierte als Rollbahn für Südafrikas Truppentransporte. Nachschub
für den langen Krieg gegen die SWAPO und gelegentliche Ausfälle
gegen Angolas Regierungstruppen und die ihnen beistehenden Kubaner. Die
andere Teerpiste reicht von der Etosha-Pfanne, einen riesigen Nationalpark,
wo Busladungen von Ahnungslosen wilden Tieren hinterherschauen, bis zur
popeligen Haupstadt Windhoek.
Eine saftiggrüne, gut gewässerte Hecke umgibt Otjiwarongos
weißen Friedhof. Die Kohls, Dieckmanns und Schäfers ruhen hier
"in ihrer geliebten Südwester Erde", die van Rooyens, Du Plessis,
De Klerks, van der Merwes und Bothas in „liefdevolle Herinnering". Es gibt
eine Menge Doppelgräber für Ehepaare, nicht selten ist die eine
Hälfte noch unbenutzt. Drei schwarze Arbeiter, erschöpft vom
beständigen Harken des großen Areals, stützen sich in der
Mittagshitze auf Grabsteine.
Vornan ist ein Plätzchen zum Gedenken an die Geschichte ausgespart.
Drei nackte Fahnenmasten ragen in den blauen Himmel, drei sehr eckige Steine
sind davor im Halbkreis aufgestellt. Der größere in der Mitte
ist den in beiden Weltkriegen gefallenen Soldaten Südafrikas gewidmet.
Am 26.Juni 1915 besetzten sie auch Otjiwarongo und machten der deutschen
Herrschaft ein Ende :"At the going down of the sun/ And in the morning
/ We will remember them". Die beiden kleineren Steine an den Außenflanken
des Arrangements sind mit einer Art Cowboyhut verziert. Der linke dankt
"den Pionieren von Südwest", der rechte "unseren gefallenen Kameraden
der kaiserlichen Schutztruppe". Die haben am Waterberg, gar nicht weit
entfernt, vor gut drei Generationen den aufständischen Hereros gezeigt,
was gute deutsche Waffen sind. Als sich der Pulverqualm verzogen hatte,
waren 80 000 Schwarze auf der Strecke geblieben, viele von ihnen verdurstet
auf der Flucht.
Seine Existenz verdankt Otjiwarongo zuallererst der Bahnlinie, gebaut
Anfang des Jahrhunderts von der deutschen Kolonialmacht, um die weiter
nördlich gelegenen Mienen zu erschließen. Mitten in der dürren
Wildnis ward 1906 eine Eisenstange in den Boden gerammt. Dort entstand
die Hütte des Zugführer Krolls, der sich seine Perlhühner,
den Reis und das Brot in einem Termitenhügel zubereitete. Er war der
erste Weiße in jener Gegend, die die Hereros Otjiwarongo nannten
- zu Deutsch: angenehmer Ort. Man hat ihm ein Denkmal spendiert. Das erste
feste Haus war die Polizeistation.
Die heute dreieinhalb Tausend Weißen, gut die Hälfte Buren,
knapp die Halfte deutschstämmig, beherrschen noch immer das Zentrum,
die Van Riebeeck und die Vortrekkerstraat, die Bahnhofs- und die Hindenburgstrasse,
mit ihren flachen Einfamilienhäusern, ihren Geschäften, Büros
und Handwerksbetrieben. Entlang der sauber gefegten Hauptstrasse reihen
sich Blumenhändler und Beerdigungsunternehmer, ein paar Banken und
mindestens ebenso viele Bottlestores. In der Spielzeugecke des Schreibwarenladens
gibt es für die Kinder Plastik-Casspirs zu kaufen, eine Miniaturversion
der minensicheren Patroullienfahrzeuge, die ein Stück weiter im Norden
zum Symbol südafrikanischer Unterdrückung geworden sind. In der
Bäckerei Carstensen ziehen Mütter mit Dauerwellen frisch gekämmte
blonde Kinder hinter sich her, auf weißen Tischdecken werden Kringel
und Schweinsohren, Berliner, Bienenstich und Stollen serviert. Zehn Schritte
daneben ein separater Eingang für die schwarze Kundschaft. Ein kleiner,
pflegeleichter Raum mit klobigem Verkaufstresen, Resopaltischen und robustem
Gestühl - die Schlichtversion ohne Topfpflanzen.
Otjiwarongos Ambiente erinnert an Wildwest-Filme der B- Klasse, in denen
hart schuftende, selbstgewisse Siedler ruppig aber gerecht für Ordnung
sorgen: Die Wilden sind bezwungen, alle Gewalt geht von den Zivilsatoren
aus. Die endlose Weite der riesigen Rinderfarmen rund um die Stadt strahlt
etwas beruhigendes, ewiggültiges aus. Wenn diese Ungewißheit
nicht wäre, die Stimmung wäre fast gelassen. Der Büttenredner
hat es gesagt: "Macht euch keine Sorgen, meine Lieben". Keine Spur von
Schuld.
Das weiße Otjiwarongo wartet ab. Viele hatten anfangs nicht recht
glauben wollen, daß die SWAPO wirklich die Wahlen gewinnen wurde.
An den Laternenpfählen der Stadt waren nur die Fahnen der siegessicheren
Turnhallen-Allianz zu sehen gewesen, jenes weiß-schwarzen Koalitionskonstrukts,
das jahrelang "Übergangsregierung" spielte, gefördert und gefüttert
von Südafrika, und plötzlich ganz eigenständig sein wollte.
Aber man ist auch nicht wirklich entsetzt. Diejenigen, die sich partout
nicht vorstellen konnten, je einem Schwarzen auch nur die Hand zu geben,
sind ohnehin längst abgehauen, in aller Regel nach Südafrika.
Doch die meisten blieben und haben behutsam ihre alte Angst abgebaut, von
den schwarzen Guerilleros nach der Machtübernahme alle an die Wand
gestellt zu werden. Kein Vergleich mit dem nördlichen Nachbarn Angola,
wo - Mitte der 70er Jahre - schon vor der Unabhängigkeit von Portugal
der Run auf die Flughäfen einsetzte und sich fast alle Weißen
in Windeseile verkrümelten.
Die Bedrohung ist eher abstrakt. Was heißt schon Unabhängigkeit?,
fragen sich die Weißen und fühlen sich unverzichtbar. "Wir brauchen
die Schwarzen und die Schwarzen brauchen uns", meint der Inhaber des Souvenierladens
in der Vortrekkerstraat, ein giftig dreinblickender Zeitgenosse. Seinen
Namen möchte er lieber nicht nennen - "wegen der vielen Lügen,
die über Südwest geschrieben werden", sagt er. "Hier ist es still
und ruhig, alles gibt's zu kaufen."
In seinem Laden türmen sich Berge von "Eingeborenensachen" - holzgeschnitztes
Getier, Masken, Geflochtenes - , fast alles importiert aus Südafrika.
Dazwischen einige gläserne Humpen und Aschenbecher mit aufgedruckten
Hakenkreuzen. An prominenter Stelle ist eine kaiserdeutsche Reichsfahne
an die Wand gepinnt. "Ach, das ist lange her", murmelt der Souvenirkrämer
betont beiläufig.
Er blickt durch das Schaufenster und verfolgt eines der allgegenwartigen
weißen Autos, auf die in schwarzen Großbuchstaben UN gepinselt
ist, die Dienstwagen der UNTAG, der United Nations Transitional Assistance
Group. "Die UNTAG-Leute aus dem Ostblock essen sich hier erstmal
richtig satt", brummelt er und seine Gattin hinterm Ladentisch meckert:
"Für die ist das ein wunderbarer Urlaub." Dann schimpft der Finsterling
über Südafrika, daß Namibia jahrzehntelang abhängig
gehalten habe. Es gebe keine einzige Getreidemühle im Land, keine
Käsefabrik, eigentlich überhaupt keine nennenswerte Produktion
außer von Rindfleisch und Bier. "Die Großen", die Diamanten-
und Uranbosse, hätten ihren Frieden mit der SWAPO längst gemacht.
"Egal, wer drankommt, deren Geschäft geht weiter", macht er seinem
mittelständischen Generalgroll Luft. Rundrum: Die Buren hätten
keine Kultur und würden sich an ihre Posten bei Verwaltung, Post und
Bahn klammern und die primitiven Schwarzen machten alles kaputt ("Wenn
die nur 'ne Schraube reindrehen"), auch wenn da, ein kleiner Anfall von
Liberalität, "gutmütige und gutherzige Leute bei sind". Und jetzt
würden auch die Schulen, wo noch "echtes Deutschtum gepflegt" werde,
für alle geöffnet. Das sei dann wie in Deutschland, wo wegen
fünfzehn Türkenkindern... Ich türme. "Politik ist
Scheiße," ruft er mir noch hinterher.
***
"Es gibt schon eine Menge Leute, die Rache nehmen wollen, aber die Führung
sagt Nein", meint Alfred, ein charmanter Junge aus dem Township. Die Führung,
daß ist mitnichten der Townshipverwalter Johann Meyer, ein bulliger
Bure mit Knubbelnase, Anfang 50, der irritiert in seinem Büro in Orwetonweni
sitzt und hofft, daß ihm die schwarzen Bewohner nicht an die Kehle
gehen. "Ich glaube nicht, daß es so drastische Änderungen
geben wird", sagt er, wie um sich selbst zu beruhigen und starrt auf den
Plan an der Wand, wo die Stammeszugehörigkeit in der Schwarzen-Siedlung
nach alter Apartheid-Sitte fein säuberlich mit verschiedenen Farben
markiert sind. Vor allem ist Meneer (Herr) Meyer ratlos. Seine Amtskarriere
hat er bei der Sicherheitspolizei im südafrikanischen Potchefstroom
begonnen, 1968 kam er nach Namibia - oder, wie er sagt, "Suidwes-Afrika".
Und nun geht es ihm wie seinen Kollegen im Rathaus, die lustlos mit ihren
Büroklammern spielen und nicht wissen, was wohl aus ihnen werden wird.
Die Führung, daß ist für Alfred und seine Freunde die
SWAPO. Weil sie den Mund zu weit aufgemacht hatten, sind sie von der Schule
geflogen und ziemlich weit gerannt, als der Direktor ihnen noch die Polizei
hinterherschickte. Wenn Alfred, gerade 16, "wir" sagt, meint er die Befreiungsbewegung,
Er zeigt mir die elendsten Ecken von Orwetoweni, wo Menschen, die vor dem
Krieg im Norden flüchteten, unter Blech und Pappe hausen. Einige grüßen
mit "Hi Comrades" und recken die Faust. Wir durchqueren die Okomboni, eine
Ansammlung von Baracken, wo Arbeitslose, alte Frauen und Kinder den Tag
vorüberziehen lassen. Hier und da bruzzeln auf verrosteten Tonnen
und anderem improvisierten Kochgerät dürftige, wenig verlockend
riechende Mahlzeiten. Die schiere Verzweifelung. An einem einsam
in der Mitte des Platzes stehenden Baum ist eine SWAPO-Fahne befestigt.
"Wir müssen hier viel ändern", meint Alfred sehr bestimmt. Ob
das weiße Otjiwarongo und das schwarze Orwetoweni je eine Stadt sein
werden? "In fünf Jahren", glaubt der durch nichts zu entmutigende
Junge, "wird das vielleicht zusammenwachsen."
Wir hatten uns an einem Dienstagvormittag kennengelernt, in jenem kurzen,
aber historischen Augenblick, da das stille, gesittete Straßenleben
von Otjiwarongo aus den Fugen geriet. Übers Radio war das letzte Ergebnis
der Wahlen gekommen - aus dem Ovamboland, dem dichtbesiedelten Gebiet im
Norden, wo die SWAPO über 90 Prozent der Stimmen bekam. Der Sieg der
SWAPO stand fest. Im nächsten Moment ertönte draußen auf
der Straße ein vielstimmiges Hupkonzert. Schwarze Auto- und
Lastwagenfahrer kurvten jauchzend durch die Stadt. Mitten auf der Vortrekkerstraat
knäulte sich eine Ansammlung begeisterter SWAPO-Anhänger. Etwas
abseits stand ein vereinzelter Polizist, ein älterer Mann, der sich
am Gurt seiner über die Schulter gehängten Maschinenpistole festhielt.
"Die Ladendiebstähle gehen gleich los", haspelte er, dem inneren Weltuntergang
nah. "Dann gehen sie überall rein und sagen: 'Jetzt gehört uns
alles.'"
Doch die Spontandemo fiel nicht über die Bottlestores her, sie
zog im Laufschritt Richtung Township, begleitet von ein paar hupenden Autos,
an denen kreischende Jugendliche in dichten Trauben hingen. Vorbei am Hauptquartier
der unterlegenen Turnhallenallianz, wo sich ein Häuflein verschanzt
hatte, daß trotzig, aber recht verzagt "Viva DTA" rief, hielten die
Jubelnden Einzug in Orwetoweni. Staub aufwirbelnd stapften sie in Schlängellinien
durch das Viertel, pfeifend, klatschend und singend im Rhythmus der Schritte:
"One Namibia - one Nation!" "Auf diesen Augenblick", brüllte Alfred
mir ganz stolz ins Ohr, "haben wir verdammt lange gewartet."
Ein paar Tage später feiert die SWAPO von Otjiwarongo den Erfolg
ganz still im Kreise der Aktivisten. Im Garten von Mose Tjitendero, Chef
des örtlichen Büros und nun auch gewähltes Mitglied der
verfassunggebenden Versammlung in Windhoek, bruzzelt einiges auf dem Grill.
Er baut sich in seinem kurzärmeligen, beigen Anzug, einer Mischung
aus Safari und Zentralkomitee, im Mondlicht auf und unterbricht das gedämpfte
Plaudern. Tjitendero spricht sehr eindringlich von Verantwortung und Mäßigung,
von Spielregeln und dem guten Beispiel, was die SWAPO nun zu geben habe.
"Wer am Boden liegt, wird nicht auch noch getreten" Es ist eine lange Ansprache,
mit deutlich pädagogischen Zügen, aber nicht langweilig und alle
lauschen andächtig. Der Professor kann gut reden, er hat Psychologie
studiert und sein Vierteljahrhundert Exil auch sonst nicht verbummelt.
"Das soll kein SWAPO-Land werden, meine Freunde", sagt der Chef richtig
scharf, "macht da keinen Fehler."
In seinem Wohnzimmer hatten wir zuvor über die Zukunft geplaudert.
"Wir brauchen jeden", sagt Mose Tjitendero, Chef des örtlichen SWAPO-Büros,
"aber die Weißen fürchten immer noch die schwarzen Horden, die
ihr Leben und ihren Besitz zerstören. Man darf ihre Angst nicht unterschätzen.
Für sie ist sie real. Wir müssen ihnen zeigen, daß sie
grundlos ist."
In den letzten Monaten hat er sich ziemlich abgestrampelt, um, wie er
sagt, "den Mythos der blutrünstigen Terrortruppe zu zerstören".
Er war beim Bürgermeister und hat auch die Geschäftsleute Otjiwarongos
eingeladen. "Die sollten uns sehen, die menschliche Seite." Die Resonanz
war ziemlich bescheiden. "Das ist eine kleine Stadt, die auf sehr engen
Familienbeziehungen fußt", Tjitendero wirft die Arme resignierend
in die Luft. "Aufgrund seiner Lage könnte es ein Nervenzentrum sein,
aber es ist keins. Hier gibt es nur Sauberkeit und Konservativismus."
Am Mittag war ein Termin mit der Polizeiführung der Stadt anberaumt
worden, sicher deren erste Begegnung mit der SWAPO ohne gezogene Waffe.
"Ich glaube, die haben riesige emotionale Probleme", lacht Tjitendero,
"die waren etwas demoralisiert." Die Polizisten fragten ihn, was denn künftig
ihre Rolle sei. Er hat ihnen den Unterschied zwischen Ordnung und Unterdrückung
zu erklären versucht. "Die fundamentalen Änderungen", doziert
er, "werden Veränderungen der Haltung sein. Früher glaubte ich
immer, wie seien von schlaueren Leuten unterdrückt worden. Aber unsere
Unterdrücker sind genauso ignorant wie die Unterdrückten."
***
Als ich Tim zum ersten Mal in seinem kleinen Büro hinter der Public
Bar des Hotel Brumme beim Geldzählen störte, hatte er etwas von
einer gespannten Lage gemurmelt. Die Wahlen waren voll im Gange. "Alle
sind nervös, jeder ist gereizt", befand er, über kleine Häuflein
von Rand-Noten gebeugt, "ich bin froh, wenn es vorbei ist".
Er war deutlich in Sorge um die wirtschaftliche Zukunft des Hotels.
"Rein wirtschaftlich ist ja noch alles in Ordnung, auch wenn das südafrikanische
Militär weg ist. Den stand Namibia finanziell bis hier", sagte Tim
und rasierte sich mit dem Handrücken über die Kehle. Die vielen
UNO-Soldaten und -Polizisten, die mit ihren weißen Autos überall
herumstreunen, haben einen kleinen neuen Boom ausgelöst. Tims Hotel
verköstigt jeden Abend ein paar uniformierte Aufpasser, die von irgendwo
zwischen Dänemark und Kenia kommen. "Was früher das südafrikanische
Militär an Umsatz gebracht hat, bringt jetzt die UNTAG", meinte Tim
und warf einen beruhigten Blick auf den stabilen Tresor in der Ecke seines
Büros.
Nun steht das Wahlergebnis fest, aber das Hotel Brumme kann sowas nicht
erschüttern. Vielleicht werden ein paar Bier mehr als sonst getrunken.
Tim steht in der Bar, noch deutlich angeschlagen von den Exzessen der Karnevalsfeier.
Sein vorsichtiges Begrüßungslächeln entblößt
schlechte Zähne. Der Brauereivertreter aus Swakopmund, den sie den
weißen Riesen nennen, kommt energisch durch die schwingende Kneipentür
geschritten. Er hat das Endergebnis im Autoradio vernommen.
"So eine Scheiße", sagte er zur Begrüßung und schüttelt
Tim die Hand.
"Ja, wir haben verkackt", meint Tim.
"Aber 'ne gute Oppositionspartei ist auch was schönes", tröstet
sich der weiße Riese.
"Genau. Jetzt müssen die machen und wir gucken zu. Mal sehen, ob
die das besser können."
Am Abend lassen Männer in kurzärmeligen Hemden die Knobelbecher
in der Bar auf den Tresen knallen. Wimpel fast aller bundesdeutscher Fussballvereine
hängen über dem Getränkeregal, der Busen eines Pin-Up-Girls
auf einem Kalender ist mit zwei kleinen Aufklebern der Turnhallen- Allianz
verziert, der in dieser Kneipe favorisierten Partei. "Besser Fremdenverkehr
als gar keinen", verkündet einer der vielen Sticker, ein anderer zeigt
Franz-Josef Strauss. In einer Zigarrenkiste im Schrank verwahrt Tim ein
Autogramm des verblichenen Bayern.
Die würfelnden Stammkunden machen nicht viele Worte, Politik ist
tabu, außer daß sie sich gelegentlich in bitterem Scherz mit
Comrade anreden. Ein kleiner Steppke hockt auf dem Tresen und saugt mit
verdrehten Augen an Vatis Zigarette. Der Vater, ein Polizist, starrt versunken
in die Flaschenansammlung hinter dem Tresen. In gemessenem Abstand von
der Würfelrunde sitzen zwei schwarze Frauen, die Kleider in den rot-grün-blauen
Farben der SWAPO tragen, darauf ein Bild vom Anführer Sam Nujoma.
Schweigend, mit einem sehr entschlossenen Gesichtsausdruck, pfeifen sie
ein paar Flaschen Windhoek Lager ein. Keiner beachtet sie. Die Schlacht
ist geschlagen.
***
Schräg gegenüber, bei ST Motors, versucht man schon, sich
auf die neue Zeit einzurichten. Der alte Van Pittius ist noch ein bißchen
verschreckt. "Das ist unser Land, ich bin über sechzig Jahre hier,
ich kämpf das aus", sagt er starrsinnig und betrachtet mißtrauisch
seine schwarzen Angestellten. "Als die Sklaven in Amerika frei wurden,
waren sie auch nur einen Tag betrunken und kamen dann wieder zur Arbeit."
Aber sein Sohn Jan Grey, 43 Jahre alt, ist der lebende Wandel. Als guter
Bure hat er natürlich ACN gewählt, die rein weiße Aksie
Christelik Nasionaal, doch die SWAPO flößt ihm keine Angst mehr
ein, seitdem er Mose Tjitendero einige Male zum Kaffeetrinken traf. "Er
hat uns versprochen, daß das hier kein kommunistisches Land wird.
Er hat zugegeben, daß sie auch Fehler gemacht haben. Mein Bild von
der SWAPO hat sich völlig verändert." Nachdenklich, fast ein
wenig weggetreten, sitzt Jan Gey Van Pittius in seinem durch Glaswände
abgeteilten Büro. Er hat Zeit, die Ungewißheit im Lande lähmt
das Geschäft. "Wir verkaufen fast nichts, weil alle warten. Wir warten,
wir wollen jetzt von jemandem etwas hören."
Er ärgert sich über "die ganz Rechten", die sich aus dem Staub
gemacht haben. Zweihundert ungefähr, schätzt er, Farmer und Bürokraten
vor allem, die aus Angst vor der Unabhängigkeit Namibias schon seit
1978 abwanderten. Es erscheint ihm einfach unlogisch. "Wenn wir nach Südafrika
gehen, sind wir in ein paar Jahren in der gleichen Situation. Namibia ist
doch ein Test für Südafrika." Und über Südafrika, daß
für seinen Geschmack viel zu spät nachgegeben hat. "Erst als
die Kubaner nach Angola kamen, wurde es für sie zu teuer. Wir haben
eine Menge Zeit und Geld verloren."
Als Van Pittius junior noch jünger war, ist er viel im Norden herumgereist,
um Autos zu verkaufen. "Ich hatte gute Freunde im Ovamboland, wir haben
oft diskutiert. Einige sind später zur SWAPO gegangen, um zu kämpfen.
Die waren nicht dumm, sie müssen einen Grund gehabt haben." Wenn schon
eine schwarze Regierung, dann SWAPO, meint Van Pittius: "Die haben die
besseren Leute."
Als die UNTAG vor einigen Monaten in Otjiwarongo einzog, hat Jan Gey
Van Pittius eine Party gegeben. Er hatte unmittelbaren Anlaß dazu,
denn schließlich ist er Besitzer des Hauses, das nun das Hauptquartier
der Vereinten Nationen beherbergt - eine ehemalige Garage, frisch getüncht,
an deren Wänden bunte Plakate Namibia eine freie und faire Zukunft
versprechen. Doch Van Pittius Party war keine reine Formsache, sie hatte
symbolische Bedeutung. Zum allerersten Mal in der Geschichte der Stadt
feierten Schwarze und Weiße gemeinsam. Der Juniorchef war zuvor ein
bisschen in Sorge, daß die weiße Kundschaft ihn ob dieses Frevels
boykottieren würde. "Ich wußte nicht, wie das ausgeht", erklärt
er ein wenig verschämt und guckt, als ob er das Abenteuer seines Lebens
bestanden habe. "Ich hatte tatsächlich einigen Ärger hinterher.
Aber für mich ist das ganz normal - jetzt."
"Ich möchte die Vergangenheit vergessen", sagt der Autohändler,
"und einen neuen Anfang machen."
Für Ismat Steiner, den UNTAG-Chef aus Tanzania mit Wohnsitz in
New York, war diese Party ein echter Hoffnungsschimmer. "Als wir hier ankamen,
stand einfach fest, daß die verschiedenen Hautfarben sich nicht mischen,
nichts gemeinsam machen", sagt er. "Am Anfang haben uns speziell die Weißen
nicht gemocht. Sie haben uns vor die Autos gekackt und uns übel
beschimpft, von fok off (afrikaans für "fuck off") bis..., oh das
waren ziemlich schlimme Worte. Sie haben uns Autos besprüht, die Reifen
aufgeschlitzt und die Spiegel zerbrochen. Irgendwie sind diese weißen
Autos ein Symbol geworden. Physisch haben sie uns nichts getan, aber unsere
Autos haben verdammt viel Prügel abbekommen. Wir haben viele solcher
Fälle an die örtliche Polizei weitergemeldet, aber die waren
nicht besonders scharf darauf, das zu verfolgen. Ich versuche, das zu vergessen."
In dieser Zeit kam die Einladung zu Party. Steiner hatte ihn gewarnt.
denn die erste UNTAG-Crew bestand aus aus einem guten Dutzend Ägyptern,
Nigerianern, Ungarn plus einer Russin. "Ich habe ihm gesagt: 'Es kommen
nur Schwarze und Kommunisten'. Er hat gesagt: 'Kein Problem'. Ich sagte:
'Wir kommen, aber wir wollen nicht nur in weiße Gesichter gucken,
deswegen sind wir nicht hier.'" Van Pittius versprachs und hielt Wort.
"Wir haben bis tief in die Nacht getrunken und getanzt", berichtet Steiner,
erst hinterher habe ich erfahren, daß dies in der Geschichte der
Stadt das erste soziale Ereignis war, wo Menschen verschiedener Rassen
zusammenkamen." Er hat den Vorfall zur allgemeinen Ermutigung ans Hauptquartier
in Windhoek weitergemeldet.
Mister Steiner ist ein entspannter Typ, realistisch mit einem Schuß
Zynismus. Wir plaudern über die Geschichte seiner ostafrikanischen
Heimat Tansania, auch eine ehemalige deutsche Kolonie, und die merkwürdigen
Anwandlungen des Julius Nyerere, der sein Vorbild irgendwann in China ausmachte.
"Ich sage meinen Freunden von der SWAPO immer: Macht nicht die gleichen
Fehler, das haben die Leute verdient." Der UNTAG-Boss glaubt daran, daß
Otjiwarongo eine Chance hat. Innerhalb eines halben Jahres habe sich viel
getan. Zuerst hätten ihn zum Beispiel alle Schwarzen mit Master angeredet
- obwohl er selbst schwarz ist, aber eben sichtbar Chef. "So war das hier
eben. An der Tankstelle hieß ich vor einigen Monaten auch Master
und jetzt brüllen die Leute 'Hey, Steiner!'."
Selbst die örtliche Polizei arbeitet jetzt zuweilen mit seinen
Leuten zusammen - seit August, als ein junger weißer Polizist draußen
bei den Okomboni-Baracken nach einer Schießerei erschlagen wurde.
"Das ist eine herbe Gegend, die Polizei ist da nicht sonderlich willkommen",
meint Steiner trocken. "Und es war Sonntagnacht, wo Leute hier traditionell
eine Menge trinken. Angeblich wollten sie einen geflohenen Einbrecher verhaften.
Die Leute dort haben uns das ganz anders erzählt. Ich weiß es
nicht, ich war nicht dabei." Er zuckt mit den Schultern.
"Es ist eine nette Stadt, trotz Wasserknappheit", sagt Ismat Steiner
zum Abschied. "Ich würde nicht behaupten, daß ich sie liebe,
aber sie ist o.k."
Auch Bruder Norbert, katholischer weißer Priester im schwarzen
Township, ist nicht übermäßig entsetzt oder auch nur verwundert
über den Tod des Polizisten gleich nebenan. "Das war pure Dummheit
der Polizeiführung, im Dunkeln da einen jungen Polizisten hinzuschicken,
so ein Blödsinn."
Seit vier Jahrzehnten lebt der Priester in schwarzen Gemeinden, die
Welt der weißen Siedler ist ihm fremd geworden. Nur nebenher bedient
er noch die weiße Gemeinde "da drüben", Bruder Norbert macht
eine verächtliche Handbewegung Richtung Stadt - "zwei bis vier Getreue,
nur wenn mal jemand bekanntes stirbt, ist es voll". Diese "Apartheidgemeinde",
findet er, dürfe es eigentlich nicht geben. Aber die Weißen
würden ums Verrecken nicht zum Gottesdienst ins Township kommen. "Das
ist keine Weigerung, das ist Dummheit", flucht ihr Priester. "Die
Gottesdienste hier sind lebendig, da drüben" - noch so eine Handbewegung
- "muss man sich abrackern."
"Wat hat sich geändert?", fragt Bruder Norbert aus Mülheim
an der Ruhr in seiner kleinen, mit Papierstapeln vollgepackten Studierstube
und wedelt mit einem blümchenbedruckten Lineal. Das Resümee fällt
bescheiden aus. "Gut, bei Banken und der Post gibt es mehr Einheimische
und keine getrennten Schalter für Schwarze und Weiße mehr."
Aber die Welten sind nach Rassen getrennt wie eh und je, und die Löhne,
wenn überhaupt Arbeit da ist, grundverschieden. Er ist wenig zuversichtlich,
daß sich das in naher Zukunft ändern wird. "Der Ton macht die
Musik. Zwischenmenschliche Beziehungen kann keine Regierung ändern",
sagt er, "und es gibt Spannungen und sehr viel Skepsis."
Wie es ihm als Priester beider Seiten ergeht? "Naja", sagt er fast entschuldigend,
"ein Farmer, der von morgens bis abends seine Analphabeten anschreit, hat
ein anderes Verhältnis zu Schwarzen. Dat is klar, daß die mir
sagen: Du bist ein Kommunist."
***
Manchmal ist es nicht ratsam, den Weißen Otjiwarongos zu nahe
zu kommen. Jener dubiosen Combo etwa, die am Abend der Stimmenauszählung
vor der Stadiontribüne am Stadtrand herumlungert. Innen drin hantieren
die Beamten der südafrikanischen Generaladministrators und die UNTAG-
Aufpasser seit Stunden mit den Wahlurnen. Draußen im grünen
sitzen ein Polizist und eine junge Frau in Zivil, die mit besorgter Mine
die Ergebnisse aus allen Bezirken des Landes notieren, die das Radio vor
ihnen jedesmal mit dramatischem Gepiepe angekündigt. Ein zweiter Polizist,
schwer bewaffnet, Kippe im Mund, gesellt sich zu ihnen. Sie starren auf
ihre Notizen und diskutieren in Afrikaans. Ein kleiner, dicker Wichtigtuer
in zu engen Jeans watschelt um die Gruppe herum, eine Diet Coke in der
einen, ein Walkie Talkie in der anderen Hand. Ab und an tätschelt
er dem Schäferhund auf seinem Jeep die Schnauze.
Als ich mich näher heranwage, um mit ihnen zu plaudern raunzt der
Fettwanst auf deutsch: "Das ist kein guter Zeitpunkt, hier irgendwelche
Beobachtungen zu machen." Wer er denn sei, versuche ich zu erfahren. Er
dreht sich brüsk um, sein Schäferhund knurrt, die Polizisten
heben alarmiert die Köpfe. Auch er ist bewaffnet. "Das ist ein Beobachter
der Acsie Christelik Nasionaal", flüstern mir später ein Schwarzer
zu, der die Szene beobachtet hat. "Vergiß es."
In der Bar im Obergeschoß des Hotel Brumme eifert eine kleine
Runde alteingesessener Weißer über die schmackhafteste Zubereitung
von Gemsbock- und Kudu-Fleisch, um sich sogleich den aktuellen Gallenbeschwerden
zuzuwenden. Lange wird die Frage ventiliert, wieviel Whisky und Korn man
unbeschadet trinken darf und warum man vor dem Fleischverzehr besser das
Fett abschneidet.
Die Atmosphäre trübt sich schlagartig, als Eddy Kaugummi kauend
den Raum betritt. Auch er trägt jenen SWAPO- Stoff mit dem Konterfei
von Sam Nujoma, verarbeitet zu Hemd und Hose, ein schmucker Dress. Wiegenden
Schrittes durchquert er die Lounge, seine ganze Erscheinung ein einiges
"Ihr- könnt-mich-mal". Bis vor kurzem war Eddy Kämpfer der PLAN,
der People's Liberation Army of Namibia, der militärische Flügel
der SWAPO. Die Damen und Herren an der Bar, die das wohl ahnen, nehmen
seinen Auftritt mit ungnädigen Minen auf und schweigen.
Ein paar Tage zuvor hatte er sich zusammen mit zwei befreundeten Hotelboys
unten in der Halle fotografieren lassen, breit grinsend und in Victory-Pose.
Eddy erzählt vom Guerilla-Krieg im Norden, von nächtlichen Touren
durch matschiges Terrain, von Hunger und Übermüdung, von den
Casspirs und Helikoptern der Südafrikaner. Er war dabei, als am 1.April,
dem Tag, da das UN-Arrangement endlich in Kraft treten sollte, eine große
Gruppe von SWAPO-Kämpfern über die Grenze nach Namibia kam: "Man
hat uns gesagt, wir sollten uns sammeln, um uns bei der UNTAG zu melden."
Die Südafrikaner aber interpretierten das als Großangriff und
ballerten, was das Zeug hielt. "Wir haben mit den Leuten getrunken und
gefeiert. Plötzlich hat's geknallt," sagt Eddy. "Wir sind verdammt
weit gerannt. An meinen Füßen kann man das noch sehen."
Mehr als 300 Plan-Fighter starben, über tausend flohen wie Eddy zurück
nach Angola. Kein furioser Start für den Unabhängigkeits-Fahrplan
der UNO.
Hobbyboxer Eddy, gerade 28, hat eine Freundin in der DDR und einen Sohn,
der jetzt sechs sein dürfte. Er hat dort eine Buschkrieg-Pause eingelegt,
in Dresden, Magdeburg und Leipzig, und durch Vermittlung der SWAPO Maschinenbau
studiert. Freundin und Kind haben seit Jahren nichts von ihm gehört
- und er nichts von ihnen. "Im Busch geht nichts, man denkt nur daran,
zu überleben."
Vor zwei Monaten ist er in seine Geburtsstadt zurückgekehrt und
seither angenehm überrascht. "Die Atmosphäre ist ziemlich in
Ordnung hier," meint er und linst über seine Schulter zu der 15 Schritte
entfernten Runde an der Bar hinüber, "selbst bei den Weißen.
Vor ein paar Jahren hätte ich hier noch nicht sitzen dürfen.
Aber wir brauchen sie, ihr Wissen, ihren Erfahrung, ihre bessere Ausbildung.
Und viele von ihnen sind hier geboren und, verdammt, Bürger dieses
Landes. Ich hoffe, wir können bald zusammen Bier trinken, in ein,
zwei Jahren."
Je länger wir reden, desto mehr verfliegt sein Optimismus. Eigentlich,
meint er plötzlich, sei es noch immer fast unmöglich, einen weißen
Freund zu haben. "Die sind ziemlich agressiv hier, vielleicht, weil sie
primitiv sind. Für die ist ein Schwarzer wie ein Hund. Aber
sie werden sich verändern. Einige laufen jetzt weg, ich weiß
nicht warum. Wir nehmen ihnen nichts weg und bringen sie schon gar nicht
um. Ich habe keine Probleme mit den Weißen und ich beschimpfe sie
auch nicht", grinst Eddy und riskiert einen zweiten, resignierteren Blick
Richtung Bar. "Da ende ich nur im Krankenhaus."
Im Keller geht derweil alles den gewohnten Gang. Der Kegelclub "Goldene
Neun" grüßt sich wie immer mit "Gut Holz". Am Ende der beiden
alten, abgeschrammten Holzbahnen stehen zwei schwitzende schwarze Boys
mit nacktem Oberkörper, die nach jedem Wurf die Figuren aufrichten,
die Kugel zurückbefördern und die Punktzahl anzeigen müssen.
Fallen alle Neune, wird eine Glocke geläutet.
Die Kegelbrüder sind ausgelassen. Angst vor der Zukunft? "Wir fühlen
uns prima", verkünden sie und ordern eine neue Runde Bier. Der Zeitungshändler
aus der Vortekkerstraat landet einen guten Wurf und stößt ekstatische
Schreie aus. Im Radio läuft nebenher das Ausscheidungsspiel Wales
gegen Deutschland, wo Rudi Völler gerade das erlösende 1:1 schießt.
Jubel.
Die Stimmung steht auf Und-wenn-schon. "Den Blackies, den geht‘s doch
gut", gröhlt einer, aber "der Sam" - SWAPO-Chef Nujoma ist gemeint
- "der hat keine Ahnung, der war ja fast 30 Jahre nicht im Land." "Wir
Zugereisten", sagt der alte Bäcker Carstensen, der auch schon ein
paar Jahrzehnte hier ist, "haben sowieso einen besseren Draht zu den Schwarzen."
Und diese Apartheid wär ja ein Fluch gewesen, meint der Pensionär.
Klar gebe es große Rassenunterschiede. "Aber sowas per Gesetz festzuschreiben,
ist doch Quatsch. Ich persönlich hab keine Bammel." Wir, sie
sind sich wieder einig, sind es nicht gewesen.
Bei der Abreise am nächsten morgen schaut mir die schwarze Putzfrau,
die nie einen Ton von sich gab, in die Augen. "Ich hatte solche Angst,
daß die SWAPO es nicht schafft. Ich weiß nicht, ob jetzt viel
passiert. Aber wir wissen, wie es vorher war." Sie lächelt. "Es kann
nur besser werden. Gute Reise."
©
Schimmeck |