Brutal, pragmatisch, postmodern

Der peruanische Psychoanalytiker César Rodriguez Rabanal über neoliberale Politik und Gewalt in seiner Heimat

1997 
von Tom Schimmeck 

Herr Rabal, Ihr Präsident Fujimori gilt als Prototyp des neoliberalen Herrschers. Doch 1995 wurde er mit einer Zweidrittelmehrheit wiedergewählt. Die Opposition tut sich wohl schwer, das zu deuten.

Wir erleben in Lateinamerika die Konsequenzen einer gescheiterten, pseudo-revolutionären Reformpolitik. Nicht nur die Sandinistas haben enttäuscht. Was vorherrscht ist der Pragmatismus und die Diskreditierung der Nachdenklichkeit. Früher hatten wir den Caudillo, den charismatischen Rhetoriker. Fujimori lebt in Symbiose mit einem Teil des Militärs. Jetzt ist er die Identifikationsfigur: Ein Ingenieur, der ganz handfeste Dinge macht. Er ist ein Sohn armer japanischer Migranten, der die spanische Sprache nicht beherrscht, genau wie die Migranten im Slum. Er gehört nicht zum Establishment. Die Reichen beklatschen ihn, aber wenn sie ehrlich sind, sagen sie: Der ist keiner von uns. Also kann er mit Recht sagen: Ich bin keiner von denen. 

Aber jetzt präsentiert sich Ihr Präsident Fujimori als strahlender Sieger des Geiseldrams von Lima, in einer schußsicheren Weste.

Die Popularität Fujimoris war drastisch zurückgegangen – wegen der hohen Arbeitslosigkeit, der sich weitenden Kluft zwischen Arm und Reich. Auch wegen Enthüllungen über Folter und Mord von ehemaligen Geheimdienstlern. Nun ist er der große Held, aber ich gehe davon aus, daß das nicht hält. Das gefährliche ist, daß sich die militärische Logik durchgesetzt hat. In den Köpfen der Bevölkerung setzt sich fest: Militäisches Vorgehen ist „wirksam“, also „gut“, und - das ist der gefährliche Sprung - beliebig anwendbar für die Lösung aller sozialen Probleme. Fujimori verwechselt einen punkuellen Sieg mit der wirklichen Befriedung des Landes. Die Guerilla ist meiner Ansicht nach weitgehend kaputt, eigentlich schon seit vielen Jahren. Aber das Land polarisiert sich weiter, die Repression verschärft sich. 

Jubeln die Massen?

Die überwiegende Mehrheit ist manipulierbar, sie reagiert nach Stimmungen. Das Verhältnis zwischen Führer und Masse hat schon Freud untersucht: Die Führer spiegeln, was in den Massen passiert. Heute kann man das sehr deutlich sehen: Egal ob Karadzic oder Fujimori – es gibt immer häufiger diese abstrusen Figuren, die aber etwas repräsentieren, was für alle gilt. Und Fujimori kann immerhin darauf verweisen, dass er es geschafft hat, die Inflation zu bekämpfen und ein paar Dinge in Ordnung zu bringen. Jetzt hat sich die militärische Logik durchgesetzt. Und die Leute auf Straße sind ersteinmal erleichtert.

Wo sehen Sie das Grundübel?

Das ultraliberale Wirtschaftsprogramm ist eine Illusion, ein Entwicklungsmodell, das die Institutionen kaputtmacht und Solidarität gar nicht erst aufkommen läßt. Unser Präsident ist der Musterschüler der internationalen Finanzorganisationen. Er geht Politik instrumentell-technokratisch an, über die Köpfe der Leute hinweg. Da werden Generationen auf dem Altar der Postmodernität geopfert. Es gibt keinen anderen Mann – außer vielleicht Carlos Menem in Argentinien – der so brav alle Schulden zahlt, fleißig privatisiert und auch sonst das Programm des Währungsfonds Wort für Wort umzusetzen. In Peru verdichten sich die Probleme Lateinamerikas – und vielleicht der ganzen Welt. Dort wurde, wie in anderen lateinamerikanischen Ländern auch, die Mittelschicht zerstört. Was Peru aber unterscheidet, ist die Ethnisierung der Herrschaftsverhältnisse. Die Frage, ob man zum Establishment gehört, ist wichtiger als die, ob man links oder rechts ist. Die ökonomische Gewalt leitet sich immer noch von einer gewissen realen oder imaginären Verwandtschaft zu den Conquistadores ab.

Ethnische Konflikte scheinen global zuzunehmen.

Ich habe keine Erklärung dafür, aber es ist eine Tatsache, daß man die Bedeutung dieser Konflikte verleugnet hat. Jugoslawien ist ein gutes Beispiel, wie naiv Formen von oberflächlicher politischer Konfliktlösung sind: Es wurde mit harter Hand geführt und die Unterschiede künstlich verwischt. In manchem osteuropäischen Staat brechen jetzt Konflikte wieder aus, die natürlich nicht neu sind. 

Peru scheint der gegenteilige Fall zu sein: Man hat den ethnischen Unterschied dort stets „ausgelebt“...

Aber nein, bis in die 60er Jahre lebte man in Lima ganz anders. Es war eine kleine Stadt, es gab eine Mittelschicht, aber keine Indios – die überlebten dort oben in den Anden. Man hat so gelebt, als gäbe es keine anderen Bewohner. Und wurde erst aufgeschreckt durch die Besetzung der Stadt durch die anderen. 

Sie haben in den Slums von Lima nach den Triebkräften der Gewalt geforscht. Was hofften Sie zu finden?

Wir haben mit Migranten gearbeitet, mit einigen dieser vielen Menschen, die nach Lima kommen, dort ihr Heil suchen und überwiegend scheitern. Ihre Lebensbedingungen sind von extremer Armut und extremer Gewalt geprägt. Uns interessierte. Wie entwickelt sich ein Mensch, der so aufwächst. Was hat er für Einstellungen? Wie sehen Strukturen aus, die von solchen Menschen geformt werden? Es ist die alte Frage des Verhältnisses von Innen- und Außenwelt, aber anhand von konkreten Lebensgeschichten. Da geht es um die Perpetuierung der Gewalt, die Verankerung der Gewaltstruktur in der psychischen Welt. Wenn man sich das anguckt, merkt man, wie falsch und naiv es ist, an oberflächliche politische Veränderungen zu glauben, an Befriedungsprogramme. 

In Ihrer Studie schildern sie Menschen, die wie von Unwettern hin und her geschleudert wirken, deren Biographie von blutrünstigen Guerilleros und mordenden Militärs, von zerstörten Familien, Alkohol, Vergewaltigung, Raub und absoluter Armut geprägt ist. Wie wirkt diese grausame Mixtur?

Es gibt hier nicht nur die politische Gewalt, sondern allerlei Alltagsbedrohungen und verkappte Formen von Gewalt. Die Väter existieren fast gar nicht und die Mütter sind so vom Kampf ums Überleben in Anspruch genommen, daß die Kinder alleine bleiben. Sie können nicht damit rechnen, mitgetragen zu werden, liebevoll, verständnisvoll begleitet zu werden. Die Eltern sind nicht zu Empathie fähig, nicht in der Lage, subtile Signale der Kinder zu lesen und zu begreifen. Unter glücklichen Voraussetzungen zivilisieren sich die ursprünglichen aggressiven Triebimpulse über die Vermittlung von Erwachsenen, die einen ständig begleiten. Aggression wandelt sich in Initiative, zur wichtigen Kreativitätsquelle. Hier passiert das nicht. Die Kinder bleiben häufig stecken in sehr primitiven Entwicklungsstufen, die gekennzeichnet sind durch den Hang zur Destruktivität und Selbstdestruktivität. Sie laufen Gefahr, sich mit politischen und kriminellen Gruppen zu identifizieren, die zerstören und sich selbst zerstörend.

Was kommen dabei für Menschen heraus?

Diese Lebensbedingungen machen die Menschen kaputt. Sie sehen nur noch das unmittelbare Überleben, kennen keine Vorausplanung mehr. Manche sagen: Oh, diese Kinder sind sehr gewieft, sehr kreativ. Und verwechseln die große Anpassungsfähigkeit dieser Kinder, die eine Deformierung ist, mit Kreativität. Die Kinder müssen sehr früh Aufgaben übernehmen, die ihre Verarbeitungskapazitäten überschreiten. Dabei kommt es zu einem Salto mortale von der Kindheit ins Alter. 

Ist das denn wirklich die Folge neoliberaler Politik?

Ja. Ein Beispiel: Früher versuchten die Eltern Geld zu sparen, damit die Kinder sich bilden, um vielleicht an die Uni gehen und den Aufstieg schaffen zu können. Heute bleiben Menschen, die zu Geld kommen, bleiben in den Slums. Ihr Erfolg ist teuer erkauft: Mutter, Vater, Oma, Opa, Onkel, Tante schuften Tag und Nacht, sie müssen Wucherkredite zurückzahlen. Ihre Kinder, die künftigen Peruaner, wachsen unter diesen anomischen Verhältnissen auf. Sie werden unsere Gesellschaft auf eine ganz besondere Weise prägen. 

Wie würden Sie ihre Grundhaltung beschreiben?

Sie sind sehr zäh. Und sie verachten alles, was kompliziert aussieht. Das ist der Ultrapragmatismus, ein fundamentalistischer Pragmatismus. Er findet sich sowohl bei der Masse als auch bei den politischen Entscheidungsträgern. Die Politik der Regierung Fujimori idealisiert diese anomischen Informellen. Sie macht aus den Opfern des Systems vermeintliche Helden. Sie behauptet: Diese Menschen sind wendig, fähig, kreativ. Sie finden den Weg aus der Unterentwicklung ganz allein. 

Glauben Sie, daß Ihre Forschung neue Lösungsansätze liefern kann?

Ich glaube, daß die Kenntnis der Wechselwirkung zwischen den äußeren Bedingungen und der Gestaltung der Innenwelt absolut wichtig ist, um irgend etwas vernünftiges über diese paradoxen Gewaltverhältnisse sagen zu können. Wir verwenden zwar die psychoanalytische Methode, aber wir wollen nicht psychologisieren. Wir haben unlängst mit Politikern und Akademikern in Argentinien, Mexiko, Kolumbien und Venezuela darüber diskutiert. Es geht um ein Vorstellung von Entwicklung, die die Bedürfnisse, die Subjektivität der Betroffenen erstnimmt. Das geht entschieden gegen den Hauptstrom, den Pragmatismus der schnellen Lösungen. Das ist das gegengesetzte Modell zu dem, was in Peru und anderen Länder Lateinamerikas geschieht, wohl auch in Albanien und vielleicht auch in England. 

In ihrer Studie resümieren Sie die Psyche ihrer unterpriviligierten Landsleute so: „Auf der einen Seite Passivität, Apathie, Unterwürfigkeit, widerspruchslos hingenommene Abhängigkeit und Unterordnung; auf der anderen Seite offene Gewalttätigkeit“. Können Sie da als Oppositionspolitiker nicht gleich einpacken?

Wir sind nicht ohne Hoffnung, langfristig gesehen. Es gibt keine Alternative zur Aufklärung. Ich glaube, daß man immer, wenn man ein bißchen mehr weiß, etwas mehr Hoffnung hat. Sonst könnten wir ja gar nicht arbeiten. Das gefährlichste überhaupt ist der Rückgriff auf Magie und das Irrationale. Und die Behauptung, Menschenrechte und Demokratie sind Sorgen der Reichen. Das ist die schlimmste Form der Diskriminierung überhaupt: Das Leben eines Peruaners oder Chinesen ist genauso wertvoll wie das eines Nordamerikaners oder Europäers. 

Fujimori hat die Tupac Amaru mit Gewalt bezwungen. Was war dafür entscheidend?

Der Rebellenführer Nestor Cerpa war sehr starsinnig, er hat hoch gepokert. Das hat Fujimori in die Hände gespielt. Cerpa ist ein alter Gewerkschafter - aber lateinamierkanischer Prägung. Die haben, wenn sie 2 Prozent mehr Lohn erreichen wollten, immer eine Lohnerhöhung von 200 Prozent, den Rücktritt der Regierung und die Abschaffung des kapitalistischen Systems gefordert. Dazu kommt meiner Ansicht nach ein sogenanntes Überlebenssyndrom, wie man es von Angehörigen der KZ-Opfer kennt. Menschen, die Eltern, Geschwistern verloren und als einzige überlebt haben. Sie leiden furchtbar darunter und werden sehr depressiv, weil sie sich fragen: Warum bin nicht ich gestorben? Die Gruppe um Cerpa, seine Frau, seine Geschwister sind alle im Gefängnis lebendig begraben. Der einzige, der übrig war, war Cerpa.   

Vor Jahren bereits ließ er Abigel Guzman, den Führer des Leuchtenden Pfades, spektakulär in einen Käfig sperren. Ist der Präsident unbesiegbar?

Guzman war Philosophieprofessor einer Provinzuniversität. Es wuchs in einer sehr dogmatischen Zeit auf, in den 60er Jahren, zu Zeiten der Spaltung der Kommunisten in Rußland und China. Von den Sendero-Anhängern wurde er als Weißer und Gott angesehen. Er repräsentiert noch die alte Führerfigur. Fujimori ist eine Erscheinung, die nach Guzman kommt. Es ist kein Zufall, daß er Guzman besiegt hat. Er hält sich für die Avantgarde einer neuen Form von Politik. Ich hoffe, er ist nur ein Zwischenfall.

Was hat die Opposition zu bieten?

Wir haben es uns in den letzten Jahren sehr einfach gemacht. Wir haben uns hingesetzt und gesagt: Laßt uns zugucken, wie der sich und seine Clique selbst zerstört. Das wird er schon schaffen. Und dann kommen wir ganz leicht an die Macht. Jetzt müssen wir uns anstrengen.
 

    César Rodriguez Rabanal ist Psychoanalytiker in Peru. Bekannt wurde der Mitscherlich-Schüler vor allem durch seine Studie „Elend und Gewalt“1 , die er mit Kollegen in den Slums von Lima recherchierte. Zugleich ist er Vorsitzender des Oppositionsbündnises „Demokratisches Forum“.
 

© Schimmeck