Brüche des
Booms
Die Wirtschaftswunder-Insel Taiwan,
lange von Diktatoren befehligt, erlebt einen politischen Frühling
voller Fragen
1994
von Tom Schimmeck
Durch den Beobachtungsschlitz im Bunker ist der
gegenüberliegende Streifen Festland, keine zwei Kilometer entfernt,
gut zu erkennen. Touristen drängen sich vor den aufgestellten Fernrohren,
um die Häuser und Wachtürme noch klarer sehen zu können,
womöglich Schiffsbewegungen, gar Menschen. Sie sind aufgeregt. Ihre
Augen sind auf den Erzfeind gerichtet: die Volksrepublik China. Die Posten
auf beiden Seiten können sich mit Hilfe moderner Sichtgeräte
beinahe in die Augen sehen.
Die Insel Kinmen, einst ein militärisches Sperrgebiet, ist heute
Tummelplatz für Touristen. Sie knabbern das klebrige lokale Erdnußgebäck,
kosten den Schnaps (abgefüllt in kleinen Kuomintang-Kanonen
aus Porzellan) und besuchen die zahlreichen Gedenkstätten und Museen.
Ein abstruser Anblick: Gut genährte Taiwanesen bestaunen pompöse,
kitschige Ölbilder, auf denen Gefangennahme und Hinrichtung der Rotchinesen
durch die Kuomintang-Truppen Tschiang Kai-Scheks dargestellt sind, mit
viel Pulverdampf und Blut.
Auf dem kleinen Vorposten ist Taiwans Welt- & Feindbild noch in
Ordnung. Die Soldaten stehen hier stramm, die Furcht vor dem Festland ist
ungebrochen. Mao Tse-tung ließ 1958 Bomben und Granaten 44 Tage lang
auf die Insel regnen.
In der Hauptstadt Taipeh, eine halbe Flugstunde von Kinmen entfernt,
ist die Lage viel komplizierter. Die Kuomintang regiert - doch immer selbstverständlicher
wird ein „noch“ an diese Feststellung gehängt. Die dominante Rolle
der ehemaligen Einheitspartei in Staat und Wirtschaft wird lautstark in
Frage gestellt, ideologisch ist sie längst in der Defensive.
Anfang Dezember werden die Bürgermeister der beiden größten
Städte, Taipeh und Kaohsiung, wie auch der Gouverneur der Provinz
Taiwan gewählt. Der Wahlkampf ist lautstark. Die beiden wichtigsten
Oppositionsparteien, die Demokratisch-progressive Partei (DPP) und die
kleinere Neue Partei, attackieren Filz und Korruption, artikulieren kommunalen
Frust und nationale Zweifel.
Für Peking ist das winzige, wenn auch wirtschaftlich enorm potente
Eiland nichts als eine abtrünnige Provinz des Großreichs. Wie
umgekehrt die Kuomintang, 1949 Verlierer des chinesischen Bürgerkriegs,
ihren Fluchtort Taiwan bis vor kurzem nur als Provisorium ansah - bis zum
Tag der Befreiung der ganzen großen „Republik China“, als dessen
rechtmässige Herrscher sich die Partei sah. Manch einer hat den Traum
noch immer nicht aufgegeben.
Schon der Name des Landes ist ein Politikum. Offiziell lautet er derzeit
„Republik China auf Taiwan“. Bei Sport- und Kulturereignissen firmiert
das Land unter diversen Namen: Mal unter „Chinesisch-Taipeh“, mal schlicht
unter „Taiwan“. Selbst das von den portugiesischen Seefahrern stammende
„Formosa“ wird verwendet. Egal unter welchen Namen, die Volksrepublik straft
jeden Kontakt mit Taiwan als Verrat. Politisch ist die Welthandelsnation
Nummer 13, die über die zweitgrößten Devisenreserven der
Erde verfügt, isoliert. Seit 1971 ist das Land kein UN-Mitgliedschaft
mehr. Nur 29 Staaten haben sich, oft nach beträchtlichen Zahlungen,
zu einer diplomatischen Anerkennung herabgelassen, darunter Winzlinge wie
Tonga, St. Lucia, Lesotho und der Vatikan.
***
Abends um neun beginnt „Air Supply“, die beliebteste Show. Judy Yu,
genannt „Beauty“, erobert das einzige Studio von Radio Green Peace. Gefolgt
von einer Schar Gäste, die in den folgenden zwei Stunden essen, Tee
trinken, das Studio vollqualmen – und dabei munter politisieren werden.
Tagsüber arbeitet das Radio-Sternchen als Lehrerin für chinesische
Literatur. Doch erst hinterm Mikro läuft „Beauty“ zur vollen Form
auf. Sie ist 29, geschwätzig, eitel, überdreht, sie bietet Politik
und Wir-Gefühl. Bei ihr können Gäste und Hörer hemmungslos
quatschen, kichern, fluchen – über Umweltverschmutzung und Familienkrach,
Regierungskorruption und Teeniesorgen. „In den letzten 40 Jahren konnten
wir ja nicht viel reden“, sagt die Moderatorin.
Auch ihr Vater kam einst mit dem General Tschiang Kei-schek vom Festland
herüber. Doch sie ist auf der Insel geboren, und läßt jetzt
alle Staatsideologie schwungvoll fahren. Bis 1989 empfand sie sich immerhin
noch als Chinesin. Dann walzte die Pekinger Regierung den Protest auf dem
Platz des himmlischen Friedens nieder. „Ich bin Taiwanesin“, sagt Judy.
„Taiwan ist Taiwan, China ist China. Und die Kuomintang ist einfach häßlich.“
In der Show sind heute abend ein Schriftsteller, ein Journalist und
ein Mitstreiter der Opposition zu Gast. Der Journalist hat ein selbst komponiertes
Lied mitgebracht, in dem, sehr poetisch, von neuem Grün, von Träumen
und echter Liebe die Rede ist – ein Ständchen auf den Kandidaten der
DPP, der gute Chancen hat, bald Bürgermeister von Taipeh zu sein.
Die ganze Runde stimmt fröhlich ein. Auch Hörer rufen an, um
einzelne Strophen mitzusummen.
Der Sender Green Peace ist nur einer von bald zwei Dutzend Piratenstationen,
die den Äther über Taipeh beherrschen. Längst hat die Opposition
mehr Wucht, als es den Herrschenden lieb sein kann. Die Allmacht der Kuomintang
(KMT) bröckelt. „Die Partei hat große Probleme, sich dem Tempo
der Entwicklung des Landes anzupassen“, meint Noch-Mitglied Shao-cheng
Tang, Professor am Institut für internationale Beziehungen in Taipeh,
das bislang als Thinktank der Regierung galt. Bei den nächsten Parlamentswahlen
Ende 1995, prophezeit Tang, werde sie die absolute Mehrheit verlieren.
Noch immer werden die Kleinen darauf gedrillt, Sun Ya-tsen, den Gründer
der Republik China, und seine drei Prinzipien zu ehren, und natürlich
den General. Doch die Botschaft, so scheint’s, bleibt nicht mehr hängen.
Es gärt schon eine Weile: Bereits bis 1989, so hat der Soziologe Michael
Hsiao zusammengerechnet, sind auf Taiwan mindestens 18 verschiedene Bewegungen
ihr Haupt erhoben: Umweltschützer, Gewerkschafter, Menschenrechtler
und Rentner, Frauen, Ureinwohner, Bauern, Lehrer und kritische Konsumenten.
„Die Gesellschaft“, sagt Hsiao, „forderte den Staat heraus“.
Die Qual kam mit dem Boom. Den Bürgern, oft weitgereist und gebildet,
reicht die karge KMT-Ideologie nicht. Längst sind sie keine Arbeitsbienen
eines Billiglohnlandes mehr - solch arbeitsintensive Produktion wurde aufs
Festland, nach Taiwan und Indonesien ausgelagert. Zu lange haben sich die
absoluten Herrscher nur um ihr Militär und flottes Wirtschaftswachstum
gekümmert. Und Probleme ignoriert, die mit dem schnellen Reichtum
kamen: Verkehrschaos, Gestank, veränderte Familienstrukturen, eine
wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Kriminalität, Drogen. 61%
der 56000 Gefangenen Taiwans, besagt die neueste Statistik, sind drogenabhängig
oder Drogenhändler.
Das Leben in der glitzernd-luxoriösen Metropole Taipeh sei heute
„teuer, giftig und eng“, klagt Luo Wu-chang, ein junger DPP-Aktivist. Doch
Protest kommt vor allem von den Älteren. Auf den gut besuchten Veranstaltungen
seiner Partei domionieren die über 30jährigen. Das Gros seiner
Altersgenossen, beobachtet Luo, „interessiert sich nur für Geld, Liebe
und Sex“.
Kein Wunder. Der Druck auf Taiwans Jugend ist enorm; der Leistungsdruck
verschlingt all ihren Elan. Eine gute Schulbildung gilt Eltern mehr denn
je als beste Garantie für ein sorgenfreies Leben. Spätestens
wenn sich ein Schüler auf die Aufnahmeprüfung zur Senior High
School vorbereitet, besucht er nach der staatlichen in aller Regel noch
eine Privatschule, um abends Englisch, Mathe, Chemie und Physik zu pauken.
Über 80 Prozent der Schüler in Junior High Schools, so wird geschätzt,
haben Extra-Unterricht, ihr Schultag wird so oft zum 14-Stunden-Tag. Schon
Vierjährigen werden Spezialkurse angeboten. In Taipehs Nanyang-Straße
reihen sich die Schulen dicht an dicht - vor den Türen hängen
bunte Paperfahnen, auf denen die Spitzenergebnisse der Besten verzeichnet
sind. „Die Eltern“, klagt man selbst im Erziehungsministerium, „legen zu
viel Wert auf Schul-Erziehung. Nebenher werden die Schulen auch als Babysitter
mißbraucht.“
Erst auf den Universitäten macht sich Opposition sichtbar. Studenten
etwa rebellieren gemeinsam mit kritischen Dozenten gegen die noch obligatorische
Militär-Erziehung an den Hochschulen.
***
Was ist aus Tschiang Kei-Scheks wehrhafter Insel geworden? Die offizielle
Propaganda, gar nicht so plump, vermarktet den demokratischen Frühling
als „stille Revolution“, als „Taiwan-Wunder“. Die alte Elite - jene Militärs,
Geschäftsleute und Kader, die vor gut vier Jahrzehnten vom Festland
kamen - beobachtet den rapiden Wandel mit Grausen.
Spötter sagen, statt der Militärs seien nun die Reichen am
Ruder. Die KMT ist nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit der Wirtschaft
aufs engste verzahnt. Sie gilt als fetteste Partei der nicht-kommunistischen
Welt, mit Beteiligungen an mehr als 100 Unternehmen, die der KMT-Kasse
dieses Jahr vier Milliarden Taiwan-Dollar (rund 250 Mio DM) einbringen
sollen. Die phantastische Verquickung von Politik und Geschäft ist
für eine Fülle von Skandalen gut - und nährt den wachsenden
Frust über die herrschende Klasse.
Doch die Krise geht tiefer. Die Staatspartei ist in Zukunftsfragen gespalten.
Mit Präsident Lee Teng-hui steht erstmals ein auf der Insel geborener
Politiker an der Spitze, seine „Hauptströmung“, dominiert von gebürtigen
Taiwanesen, versucht sich an einer flexibleren Politik gegenüber der
großen Volksrepublik. Die „Nicht-Hauptströmung“ dagegen verficht
die alte Idee der chinesichen Einheit, ein Teil ihrer Anhänger, vor
allem unter Militärs, Akademikern und Auslandschinesen, finden sich
mittlerweile in der „Neuen Partei“ wieder, die hofft, zwischen KMT und
DPP bald Zünglein an der Waage spielen zu können. Die KMT, meint
Nestbeschmutzer Tang, der seine Sympathie für die Neuen nicht verhehlt,
sei „viel zu weich, zu groß, zu unbeweglich“.
Diplomatisch verkehrt Taiwan mit seinem großen Nachbarn (55mal
mehr Menschen, 258mal mehr Fläche) nur auf verschlungenen Umwegen.
Das enorme Kapital jedoch hat längst das Festland erobert. In den
letzten Jahren hat taiwanesisches Business via Hongkong über 25 Milliarden
US-Dollar in China investiert, allein im vergangenen Jahr waren offiziell
nahezu 10000 Firmen mit 6,4 Milliarden von der Partie. Inoffiziell, verrät
ein Geschäftsmann, der „drüben“ selbst aktiv ist, seien die Zahlen
noch deutlich höher.
Trotz - oder gerade wegen des massiven Engagements auf dem anderen Ufer
bleiben die Beziehungen zum Festland das am heißesten diskutierte
Thema. Eine schwindende Zahl von Taiwanesen findet Gefallen an der Idee
der Wiedervereingung. China ist ihnen zu unberechenbar, zu diktatorisch,
zu korrupt, zu arm. Würde bei einem Referendum gefragt, ob Taiwan
Teil der Volksrepublik werden soll, schätzt Yang Mah-sing, DPP-Chefin
für Außenpolitik, „würden über 90 Prozent Nein sagen“.
Peking, sagt sie, behandle Taiwan wie einen „verrückten Hund“.
Was immer mehr zählt, ist die eigene Scholle. Generalissimus Tschiang
Kei-schek, sagen viele, habe sich nie für Taiwan interessiert, nur
für die Rückeroberung Chinas. In den staatlichen Geographiebüchern
wurde die Insel auf einer Seite abgehandelt. Es sei typisch, höhnen
sie, daß seine KMT 20 Jahre lang gar vergessen habe, in Taipeh eine
U-Bahn zu bauen.
„Taiwanesisch-Sein ist jetzt eine starke Mentalität“, beobachtet
Soziologe Hsiao. „Taiwan hat seine eigene kulturelle und politische Identität
entwickelt.“ Auch in der Sprache - Taiwanesisch, ein Dialekt, der sich
vom amtlichen Mandarin beträchtlich unterscheidet. Früher wurden
Schulkinder bestraft, wenn sie ihn sprachen. Sie mußten Strafe zahlen
und Schilder tragen: „Ich darf nicht taiwanesisch reden“. Nun aber ist
die Inselsprache „in“, so sehr, daß Taiwan-Gouverneur James Soong
(KMT) im Wahlkampf eine Fernsehdiskussion abgesagt hat. Sein Problem: Sobald
seine Kontrahenten in den Dialekt verfíelen, verstünde er nur
noch Bahnhof.
Auf der Frequenz von Radio Green Peace wird längst taiwanesisch
geredet. Die Leute, meint Judy Yu, wollten „endlich sie selbst sein“. Der
Sender hat selbst für das größte Tabu eine eigene Sendung:
Den wachsenden Wunsch nach Unabhängigkeit. Vor allem in der DPP ist
der Gedanke populär. Sie verlangt die Loslösung vom Festland
und eine Demilitarisierung von Inseln wie Kinmen, von wo aus Mitte November
- nach taiwanesischer Darstellung versehentlich - Geschosse auf das Festland
abgefeuert wurden.
Mit solchem Gerede, entsetzen sich nicht nur Vertreter der alten Denkschule,
provoziere man womöglich eine Invasion. Tatsächlich droht die
Pekinger Regierung routinemäßig mit der militärischen Option,
sollte sich Taiwan für unabhängig erklären. Ein Buch mit
dem Titel „T-Day“, das faktenreich das Szenaio des großen Einmarsches
schildert, findet in diesen Wochen in Taipeh reißenden Absatz.
„Das wichtigste ist“, sagt der Autor, der das Pseudonym Chen verwendet
und sich nicht fotografiern läßt, „den Status Quo zu erhalten.
Die nächsten zwei Jahre sind die verwundbarsten: Wir haben viele Wahlen.
Und die Kampfflugzeuge, die wir bestellt haben, kommen erst später.“
©
Schimmeck |