Später Aufbruch
Nach ihrem Sieg will die Thailands
ehemalige Opposition erstmals echte Demokratie schaffen
1992
von Tom Schimmeck
Politik geht jeden an“, verkündet der Hotelmagnat
Akorn Hoontrakul, 47, und stürzt ein weiteres Glas seines guten, alten
Armagnac herunter. Der Herr über 3000 Hotelzimmer und etliche Restaurants,
ist seit vorletztem Wochenende Abgeordneter in Thailands Parlament, einer
von 185 Volksvertretern der neuen Vier-Parteien-Mehrheit, die mehr Demokratie
wagen wollen.
Er ist erschöpft. Wochenlang hat er, alle Langschläfer-Gewohnheiten
abstreifend, allmorgendlich ab sechs mit seinem kleinen Team den Wahlkreis
Bangkok 1 durchwandert. Der Multimilionär pilgerte über enge
Märkte und durch stinkende Slums, um seine Botschaft vom demokratischen
Aufbruch anzubringen: „Ehrlichkeit statt Korruption, Demokratie statt Totalitarismus.“
Etliche fragten ihn jeden Tag, warum gerade er, der doch schon steinreich
sei, noch Abgeordneter werden wolle. Denn Thailands Politiker stehen von
jeher im Ruf, ausschließlich um das eigene Guthaben besorgt zu sein.
Wer einen Posten ergattert, arbeitet fortan für die flinke Amortisation
seiner Wahlkampfkosten. Und kann, nach Expertenschätzungen, mit Geschick
bis zum fünfzigfachen einspielen. Wer das nicht tat, galt bislang
selbst in den Augen vieler Wähler eher als Idiot denn als Held.
All den Ungläubigen hat Akorn zu erklären versucht, daß
er seine Ausgaben, etwa 400 000 Schilling, nicht zurückhaben wolle,
daß es ihm vielmehr um die Rettung des Rufs seiner Heimat ginge.
Was - indirekt - ja auch seinem Konto zugute kommt, denn ein Hotelier mit
leeren Betten ist schnell ein armer Mann.
Der Businessman steht für eine ganze Schicht von Geschäftsleuten,
Akademikern, Anwälten und anderen Mittelständlern, die „60 Jahre
Demokratie im Thai-Stil“ (Akorn) baldmöglichst beendet sehen wollen.
Ihre Heimat, seit 1932 konstitutionelle Monarchie, ist, wie Akorn es verächtlich
formuliert, „eine Demokratie, die von Korrupten dominiert wird; von Leuten,
die sich nicht darum scheren, wie sie gewählt werden, die Stimmen
kaufen, die in ihre Wahl investieren, und danach mit ihrer Position in
der Regierung so schnell wie möglich hohe Dividenden herauszuholen.“
Auslöser der neuen Aufbruchsstimmung waren Massendemonstrationen
im vergangenen Mai, die sich vor allem gegen den verhaßten Premier
General Suchinda Kraprayoon richteten. Die nervös gewordenen Militärs
prügelten und schossen die Menschenmenge schließlich auseinander
und verhafteten Tausende. Offiziell gab es 44, nach Schätzungen von
Anwälten etwa 100 Tote. Jeden Sonntag drucken Zeitungen lange Listen
derer, die seit Mai als verschwunden gelten.
Im Zentrum Bangkoks sind noch immer Spuren der Unruhen zu sehen: Ausgebrannte
Regierungsgebäude an der Rajadamnoern Allee, angeblich von Provokateuren
aus den Reihen der Militärs in Brand gesteckt. Ein ein paar hundert
Meter weiter am Demokratie-Denkmal Blumen und Kränze für die
Opfer. Vor dem Royal Hotel, Zufluchtsort für unzählige Verletzte,
bis Soldaten auch hier zuschlugen, verlangt ein Plakat: „Alle Macht dem
Volke“.
„Wir hatten große Angst, konnten vier Tage lang nicht nach Hause“,
erinnert sich die junge Bedienung. Im Foyer des Royal funkeln die Kronleuchter
wie eh und je. Die roten Polster sind gereinigt, die Blutspuren auf dem
Steinfußboden getilgt. Und neben dem königlichen Geschenkartikelladen,
wo Ärzte ihre Notambulanz betrieben, inspizieren Touristen längst
wieder Ansichtskarten, die ein ganz anderes Thailand zeigen - Tempel, Tänzerinnen
und Lächeln, Lächeln, Lächeln.
Die Demonstrationen, an denen nicht nur Studenten, sondern auch viele
Bürger Bangkoks teilnahmen, haben das Land dennoch aufgerüttelt.
Aktivisten sorgten mit Reden, Flugblättern und Videofilmen dafür,
daß die Kunde vom Mai auch außerhalb Bangkos verbreitet wurde,
in den Dörfern und auf den Reisfeldern, wo es kein Wirtschaftswunder,
keine Mobiltelefone und bislang kaum demokratische Ideen gibt.
Wahlen, das war auf dem Land meist ein schlichtes Tauschgeschäft.
Der Kandidat versprach etwas - eine Schule, eine Brücke, einen LKW
- und bekam dafür eine Stimme. Wobei es vor allem im Nordosten Thailands
üblich ist, den Wähler obendrein zu entlohnen: Für viele
Politiker ist es bis heute eine lieb gewordene Gewohnheit, seine Wähler
durch direkte Barzahlung zu verpflichten. „Wir sind fast im 21. Jahrhundert,
aber da draußen herrscht noch das 19.“, sagt die Bangkoker Politologin
Abhinya Rathanamongkolmas. Auf dem Lande dominiere eine Art „bürokratischer
Feudalismus“, vor allem im Norden Thailands glaubten die Menschen eher
an Voodoo als an Demokratie. Umso wichtiger sei es, nun „den Leuten beizubringen,
daß sie Bürger sind“.
Die Zeiten seien günstig für eine historischen Wandel, meint
die Professorin für internationale Beziehungen, aktiv in der Gruppe
„Akademiker für Demokratie“. Denn anders als bei Studentenprotesten
anno 1973 seien 1992 „eine Menge Leute dabei, die politisches Bewußtsein
und eine Vorstellung haben, wie man die Macht der Militärs reduzieren
kann.“ Natürlich könne diese Wahl nicht die Antwort auf alle
Fragen liefern, aber doch einen Neubeginn: „Viele Menschen zeigen politische
Reife, nur die Politiker sind unreif.“ Politik ist „in“, auf allen Fernsehkanälen
wird debattiert. Selbst mancher Dorfbewohner hatte dieses Mal das neuartige
Erlebnis, einem leibhaftigen Kandidaten eine Frage stellen zu dürfen.
Zwar herrscht in Thailand theoretisch schon seit 60 Jahren Demokratie.
Doch nur der König genießt wirklich Respekt. Was die bislang
52 Regierungen an Regierungskunst vorgeführt haben, konnte beim Volk
kaum Begeisterung wecken. Unterbrochen wurde ihr Tun obendrein durch siebzehn
Staatsstreiche der Militärs - der wichtigsten Macht im Lande.
Traditionell betrachten sich die Offiziere als Hüter des Nation
und sind zugleich eine Art Geheimbund, vereint durch den rituellen Schluck
vom „heiligen Wasser brüderlichen Zusammenhalts“. Die USA, einst maßgeblich
am Ausbau der Bastion Thailand beteiligt, um den Fall des letzten südostasiatischen
Dominosteins zu verhindern, haben dieses Elitedenken einer isolierten Kriegerkaste
kräftig gefördert.
Noch immer sind es die Streitkräfte, die wichtige Positionen in
Politik und Wirtschaft besetzen - und gnadenlos zur Mehrung ihres Reichtums
nutzen. Über umfangreiche Geheimfonds steuerten sie bislang die ihnen
genehmen Parteien. Militärs haben Einfluß auf Radio und Fernsehen,
kontrollieren zwei der fünf grössten Banken, die Post und das
Fernmeldewesen. Die Luftwaffe kommandierte die Fluggesellschaft Thai International,
die Marine die Häfen. In den Randprovinzen verdienen viele ein erkleckliches
Zubrot durch den Handel mit Waffen, Holz und Edelsteinen - etwa mit Kambodschas
Roten Khmer.
Doch nicht nur die Militärs bereichnern sich nach Kräften.
Der letzte Putsch im Februar 1991 etwa beseitigte eine Zivilregierung,
der kaum ein Thai eine Träne nachweinte. Etliche Minister des gestürzten
Premier Chatichai Choonhavan wurden von einer Untersuchungskommission hernach
als „ungewöhnlich reich“ eingestuft, eine freundliche Umschreibung
für besonders hemmunglose Kassierwut. Chatichai und seine Chart Pattana
Partei sind auch im neuen Parlament wieder mit 60 Abgeordneten vertreten.
Werden die Militärs eine Beschneidung ihrer Macht akzeptieren?
Ja, behaupten Optimisten und hoffen, daß die alten Regeln thailändischer
Politik nicht erneut per Putsch wiederhergestellt werden. Die Generäle,
meinen sie, steckten in einer Identitätskrise, zeigten zuweilen sogar
Einsicht in die Notwendigkeit des Wandels. Da merken die Pessimisten nur
spöttisch an, daß viele Experten schon vor dem letzten
Staatsstreich im vergangenen Jahr die lange Ära der Coups für
beendet erklärt hatten.
Positivstes Zeichen für ein Umdenken der Uniformierten ist deren
Entscheidung, nach den Unruhen im Mai, wie schon nach dem Putsch 1991,
den Industriellen Anand Panyarachun als Premier zu dulden. Anand, der nach
eigenem Bekunden Politik nicht sonderlich mag - schon weil er als Geschäftsmann
etwa 20mal mehr verdient -, überraschte Oppositionelle und Skeptiker
mit harschen Maßnahmen gegen das Militär. Generäle wurden
aus den Staatsunternehmen entfernt, selbst bei der großen Thai-Airline
herrscht seit Anfang September erstmals ein Zivilist.
Mit Millionen förderte Anand eine Organisation von über 60
000 Freiwilligen, die landesweit über korrekte Wahlprozeduren aufklären
und Stimmenkauf, Einschüchterung und falsche Propaganda eindämmen
sollte. Den Wahlwächtern stand sogar eine spezielle Polizei zur Seite,
um Schieber und Killerkommandos dingfest zu machen. Hunderte von Beschwerden
über korrupte Beamte gingen bei den Aufsehern ein, auch rund zwei
Dutzend Mordfälle sind aufzuklären. Die Mühe habe sich gleichwohl
gelohnt, meinte eine Oberaufseherin in Bangkok: „Die Leute haben etwas
verstanden, das ist ein großer Schritt für künftige Wahlen.“
Chuan Leekpai, der als Parteichef der Demokraten mit 79 Abgeordneten
über die stärkste Fraktion verfügt, kann sich nun Hoffnung
auf das Amt des Regierungschefs machen. Auch wenn die vier ehemaligen Oppositionsparteien,
vom Volksmund „Engelsparteien“ genannt, im 360köpfigen Parlament nur
über eine Mehrheit von fünf Stimmen verfügen. Mit von der
Partie ist auch die Palang Dharma Partei des charismatischen Ex-Militärs
Chamlong Srimuang, ein Anführer der Mai-Demonstrationen, der damals
von Militärpolizei verhaftet wurde. Asket Chamlong, ein Vegetarier
mit Bürstenhaarschnitt, hat im Wahlkampf wie kein anderer Tugend und
Aufrichtigkeit gepredigt.
Einer seiner Abgeordneten ist der Hotelier Akorn. Der frischgekürte
Volksvertreter und seine Gönner in der Geschäfts- und Finanzwelt
wissen schon lange, daß ihr Wirtschaftwunder nur weitergehen kann,
wenn sich das Image der Nation bessert. Sie streben nach einem modernen
Kaptalismus, ein politisches System, das besser zum Boom paßt - weil
sonst Investitionen, Kredite und am Ende gar die Touristen ausbleiben.
„Die Mittelklasse will Demokratie“, sagt Akorn, der den Einstieg des Business
in die Politik offensiv vertritt: „Wir hatten das Gefühl, daß
jetzt, 1992, unser Schicksal, unser Leben, unsere Geschäfte, unser
internationaler Ruf auf dem Spiel stand.“
Doch selbst eine Niederlage, meint der Millionär, sei ihm den Einsatz
wert gewesen: „Seit ich durch die Straßen ziehe, habe ich an die
30 000 Hände geschüttelt, von Nudelverkäufern und Taxifahrern,
von Prostituierten und Bettlern. Ich weiß jetzt sehr viel mehr über
die Menschen und wie sie leben.“
Noch süßer ist freilich der Sieg. Und bei den nächsten
Wahlen, prophezeit der Optimist, „werden wir noch mehr Politiker neuen
Typs haben - integre Profis.“
©
Schimmeck |