Muskeln und Träume

Kommt ein neues osmanisches Reich? Am Bosporus hat man hochfliegende Visionen und drückende Schulden

1992 
von Tom Schimmeck 

Die haben mir meine Jeans geklaut", flucht der Student Yusuf, als die Rede auf die neuen Brüder im Osten kommt. In seinem Wohnheim hätten sich Dutzende dieser Neu-Türken aus dem ehemaligen Sowjetreich niedergelassen. "Die schnappen sich alles, was sie in die Finger kriegen", berichtet er empört, "Zeitungen, Bücher, Kleidung." Aber, fügt Yusuf mit schon verrauchendem Zorn hinzu, "sie haben ja auch nichts".

In der Innenstadt von Istanbul sind die Brüdervölker ein fast schon vertrauter Anblick. An manchen Ecken verkaufen Frauen, von den Türken "Nataschas" genannt, kleine Holzpüppchen, um zu etwas Geld zu kommen. Männer bieten Orden und Abzeichen des zerfallenen Reiches feil. Die neuen türkischen Ossis ziehen, gemeinsam mit den anderen Ostvölkern, mit riesigen Taschen und Tüten durch die Basare. Wendige Händler mühen sich, ihre merkwürdigen türkischen Dialekte zu verstehen. "Kommen Sie, gucken Sie, kaufen Sie...", rufen sie - längst auch in Bulgarisch, Ungarisch, Serbokroatisch und Russisch. 

Die neue Kundschaft rafft Kleidung und billiges Elektrogerät, Plastiksonnenbrillen, Marlboro und Modeschmuck zusammen - für den Eigenbedarf und zum Weiterverkauf in der warenhungrigen Heimat. Am Flughafen stehen die Ostblöckler in langen Schlangen und ringen mit dem Bodenpersonal wild gestikulierend um ihr gewaltiges Übergepäck, pro Person oft 100 Kilogramm und mehr.

Anfangs hat die Unabhängigkeit der neuen Nationen Zentralasiens große Begeisterung ausgelöst. Turkmenien, Usbekistan, Kirgisien und Kasachstan gelten als türkische Staaten, nur die Tadschiken sprechen eine dem Persischen verwandte Sprache. Auch in Aserbeidschan wird türkisch gesprochen. Ob des unerwarteten Zuwachs an Brüdern war die Türkei ganz aus dem Häuschen. Der Mitte April verstorbene Präsident Turgut Özal sah gar ein "türkisches Jahrhundert" heraufziehen.

Beim staatlichen Fernsehen ist eine eigene Abteilung ist damit betraut, den Brüder im ferneren Osten mit Folklore, Wirtschaftsprogrammen und Kindersendungen heimzuleuchten. Der Sender beamt die türkische Botschaft bis ins fast 4000 Kilometer entfernte Alma Ata. "Wir haben einen gemeinsamen historischen Hintergrund", erklärt Fernsehdirektor Bülent Varol, glücklich über diese "Chance, auf die wir lange gewartet haben". Zunächst aber, sagt der Fernsehmann, "versuchen wir vor allem, ihnen richtiges Türkisch beizubringen."

Mit der Ostöffnung ist die Türkei mehr denn je ein Land der Widersprüche und Gratwanderungen. Ein bißchen Abend- und eine ordentliche Portion Morgenland; ein Fleckchen Europa und ein großes Stück Asien. Es herrscht ein bißchen Demokratie, doch das Militär wacht im Hintergrund, allzeit sprungbereit. Die Türken trinken ordentlich, aber sie essen kein Schweinefleisch. Sie begehen den Sonntag als Feiertag, und füllen Freitags die Moscheen. An Kiosken prangen Playboy und Penthouse, davor laufen ganz in schwarz verschleierte Frauen vorbei. Eine Bordellbesitzerin ist Istanbul ist die beste Steuerzahlerin.

Überall Zeichen der Öffnung: Am 1. Mai durfte erstmals seit dem Militärputsch vor 13 Jahren wieder demonstriert werden - und Zehntausende taten dies auch. Buchhandlungen in den sehr europäischen Zentren der großen Städte führen längst wieder kritische Bücher, auch in der lange brutal unterdrückten kurdischen Sprache.

Doch zugleich tobt der Krieg im kurdischen Südosten weiter. Folter ist nach Recherchen von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International noch immer eine gängig und landesweit systematisch praktiziert. Die türkische Menschenrechts-Stiftung (HRFT) zählte 1992 insgesamt 2933 Todesopfer politischer Gewalt. Da sei die Türkei, so das Resümee die HRFT, "in einer schlimmeren Phase als während der Militärherrschaft der frühen 80er Jahre".

Turgut Özal und seine "Mutterlandspartei" (ANAP) hat dem Land seither eine Runderneuerung der Infrastruktur beschert; das Telefonnetz, die Energieproduktion, das Fernsehen, die Autobahnen wurden kräftig ausgebaut. Die Rüstungsindustrie der Militärmacht Türkei schraubt heute ihre F-16-Bomber in Lizenz selbst zusammen. "Vor zehn Jahren", sagt ANAP-Parteichef Mesut Yilmaz, 1991 der letzte ANAP-Premier, "konnte man nicht einmal von Stadt zu Stadt telefonieren. Heute ist das letzte anatolische Dorf mit der Welt verbunden."

Der Technokrat Özal, Sohn eines Bankangestellten, öffnete die Türkei wirtschaftlich dem Westen, beantragte gar die Mitgliedschaft in der EG, und kultivierte zugleich arabische Absatzmärkte. Das Land überraschte mit Wachstumsraten, die Neid bei den OECD-Partner weckten, oft selbst Japan in den Schatten stellten. Özals monetaristische Rezeptur verzehnfachte auch die Exporte. 

Doch das gewaltige Aufbauprogramm der 80er Jahre hat Unsummen verschlungen. Die Nation ist kräftig verschuldet, ein Grund für die chronisch hohe Inflation um 60 Prozent. Die Bevölkerung wächst siebenmal schneller als im europäischen Durchschnitt. Besonders im Osten und Südosten ist der Lebensstandard sehr niedrig. Millionen Türken drängen, auf Arbeit und ein besseres Leben hoffend, in die Städte. "Wir müssen in fünf Jahren erledigen, wozu Europa fünfzig Jahre Zeit hatte", meint ein türkischer Ökonom.

Istanbul, bald eine Zehn-Millionen-Metropole, frißt sich mit seinem betongrauen Vorortgewirr täglich tiefer ins Umland. Fast ein Drittel der Bewohner sind nicht einmal ans Trinkwassernetz angeschlossen. Inflation und Arbeitslosigkeit schüren Ängste, da flaut selbst die Lebe zu den neuen Brüdern schnell ab. Die seit Herbst 1991 herrschende Koalition aus Sozialdemokraten und der "Partei des rechten Weges" (DYP) des gerade ins Präsidentenamt gewechselten Süleyman Demirel, hatte angekündigt, die Inflation binnen 500 Tagen drastisch zu drücken. Es blieb beim Versprechen.

Die Türkei, fand Özal, sei "ein europäisches Land" - und verwässerte, selbst praktizierender und pilgernder Moslem, zugleich den laizistischen Imperativ des Kemal Atatürk. Noch schmückt das Bildnis des Staatsgründers fast alle Büros und ziert jeden Geldschein. Doch die Wirklichkeit ist komplexer geworden, die Türkei auf der Suche nach ihrem neuen Mix.

Özals Spagat zwischen Okzident und Orient machte die Gründung tausender Koranschulen möglich, oft mit saudischem Geld finanziert. Die radikal-moslemische Wohlfahrts-Partei macht mit Propaganda gegen das Großkapital schlechthin und amerikanische Zionisten und Freimaurer im besonderen Stimmung gegen den Westen. Bei Lokalwahlen vergangenen November wurde sie in sechs Vierteln Istanbuls stärkste Partei. Strenggläubige Islamisten haben Einfluß gewonnen. Eine militante "Hizbullah" wird für eine wachsende Zahl politischer Morde an Menschenrechtlern, Gerwerkschaftern, Journalisten und kurdischen Intellektuellen verantwortlich gemacht. 

Durch Özals Tod, meint Yilmaz, sei "ein großes politisches Vakuum entstanden". Doch der smarte, beherrschte Oppositionsführer mag auch weiterhin keine Koalition mit Demirels konservativer DYP eingehen. Schon nach der Wahl im Oktober 1991 habe die Wirtschaft darauf gedrängt. "Aber wir haben gesagt: Alle anderen haben Front gegen uns gemacht, jetzt sollen die auch koalieren", sagt Yilmaz, immer noch eingeschnappt. Auch heute habe die Partei "wenig Neigung, einen Mißerfolg zu teilen", aus dem Demirel jetzt flüchte, um ein "ohnmächtiger, überparteilicher Staatspräsident zu werden". Die ANAP, erläutert der Politmanager mit einem harten Lächeln und zieht am seiner Zigarettenspitze, hoffe auf vorgezogene Neuwahlen, aus denen sie als Alleinregierung hervorgehen könne. Ein ehrgeiziges Ziel für die 24-Prozent-Partei.

Abseits des Politgerangels, meint der ANAP-Chef, würden sich die Ziele der politischen Parteien - mit Ausnahme der Fundis - heute ohnehin immer mehr decken, vor allem, was die Westbindung und die Brückenfunktion gen Osten angeht. "Atatürk war ein sehr großer Staatsmann", der habe schon vor 60 Jahren gemahnt, sich auf den Zusammenbruch der Sowjetunion vorzubereiten. Doch nun, bedauert Yilmaz, "hat uns das völlig unvorbereitet erwischt".

Heute ringt die Türkei heute mit den angrenzenden Mächten Rußland, China und Iran um Einfluß in Zentralasien. Die Kraftanstrengung sei eine "politische und moralische Verantwortung", heißt es im Außenministerium in Ankara, - auch wenn rund 10 Milliarden Schilling an Hilfen und Krediten natürlich auch geflossen sind, um einen "neuen Markt für türkische Produzenten" aufzutun. 

Offiziell gibt es keinen Wettlauf mit dem Iran. Doch gleichzeitig betonen die Macher in Ankara dezent, daß nur die Türkei als Sendbote des westlichen "way of life" in Frage käme und die Freunde im Westen gut daran täten, bald "den nötigen Input zu leisten", schon um den Vormarsch des fundamentalistischen Islam zu stoppen. Der neu gekürte Präsident Süleyman Demirel (siehe Interview) prophezeit: "Unsere Beziehungen mit diesen Staaten werden viel für den Frieden in dieser Region und den Weltfrieden bedeuten." 

Das karge Zentralasien könnte schnell zum Schauplatz eines Desasters von epochalem Ausmaß werden. Die Wirtschaft ist katastrophal unterentwickelt, die Bevölkerung wird sich in 20 Jahren verdoppelt haben - absoluter Rekord im ehemaligen Sojwetreich. Zugleich schwinden Zentralasiens Wasserressourcen, schon jetzt gibt es nur 0,2 Hektar bewässerte Anbaufläche pro Person. Der Aralsee, der in den letzten drei Jahrzehnten 60 Prozent seines Volumens verloren hat, trocknet rapide weiter aus.

Da schaudert es manchen in Ankara. Aber des Selbstbewußtsein strotzt. Die Türkei hat sich vom abgelegenen Frontstaat an der Südostflanke der NATO zum strategischen Mittelpunkt zwischen Balkan, Kaukasus, Zentralasien und dem Nahen Osten gewandelt. "Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat uns eine neue Wichtigkeit gegeben", freut sich ein beamteter Außenpolitiker. Daß die Pulverfässer rundum dicht stehen, macht die Position der Türkei nur umso wertvoller. 

Da vergessen die Macher selbst ihre Verbitterung über die schleppende Behandlung ihres EG-Beitrittsgesuchs, das von der Gemeinschaft faktisch aufs nächste Jahrtausend vertagt worden ist. "Früher war das ein Problem der Türkei", befindet Cüneyt Sel, Wirtschaftsexperte im Schatzamt zu Ankara, und reckt sein Kinn trotzig hervor. "Heute ist es das Problem der EG. Wenn sie in einer neuen Weltordnung etwas zu sagen haben will, braucht sie die Türkei als Brücke."

© Schimmeck