Weibs-Bilder
Virtuelle Frauen erobern die Welt des
Entertainment. Ihr Siegeszug ist gewiß - denn sie sind das genaue
Abbild unserer banalsten Phantasien
1998
von Tom Schimmeck
Natürlich wird die Bischofskonferenz Bedenken
haben, wenn sie eines Tages davon hört. Sozialpsychologen und die
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der PEN-Club und manch Elternrat
werden warnen. Auch die Gleichstellungsbeauftragte ist vermutlich not amused.
Lara aber wird nur lachen. Denn Lara wird geliebt. Sie ist ein Idol.
Kein geklonter Mensch, keine Dolly sapiens. Nein, eine Neuschöpfung
aus der Maschinenwelt, ein virtuelles Wesen, vital und gewitzt, ein Superweib
mit digitalem Leib: Große braune Augen, volle rote Lippen und eine
Oberweite, die das Hemdchen überdehnt. Ihre nackten Arme und Beine
sind immer in Bewegung, ihr Pferdeschwanz wippt keck. Man hört ihre
Schritte, ihre Schwimmzüge, ihr Seufzen und Keuchen („Hah“, „Puuh“),
wenn sie steile Felswände erklimmt. Lässig ballernd besiegt sie
das Böse.
Lara Croft ist eine infame Kreuzung aus Cowgirl, Pinup und Emanze. Ihre
Vita weist sie als enterbte Tochter eines Lord aus, die der Enge der britischen
Oberschicht entfloh, um sich nun als Forscherin des Britischen Museums
durch die Welt schlagen. Der Star des Computerspiels „Tomb Raider" lockt
Millionen an den Joystick.
Längst haben elektronische Helden die betagten Disney-Donalds überholt.
1990 schlug Nintendos schratiger Mario in der Gunst amerikanischer Kinder
die Mickymaus. Seither werden in den Labors der Entertainment-Industrie
immer neue, lebensechtere Gestalten zusammengebraut, gegen die hergebrachte
Puppen und Comicfiguren wie Fossile aus dem Pleistozän wirken.
Das derzeit avancierteste Modell, Kyoko Date, Produkt der japanischen
Talentagentur Hori Productions und der Werbeagentur Hakuhodo, kommt süßlicher,
jünger, puppenhafter daher als die fetzige Lara. Kyoko ist das erste
Produkt eines Projektes namens „Digital Kids”. Sie ist nah am Menschen
modelliert, inspiriert vom Vorbild der Tennisspielerin Kimiko Date. Die
Manager hatten eine Art ideeller Gesamtteenager vor Augen. Er sollte „sexy
sein, ohne sexuell zu sein, unschuldig, aber nicht dumm“.
Fast zwei Jahre lang ließen sie ein gutes Dutzend Künstler
und Computerexperten an der Aufgabe tüfteln - und an die 1,4 Millionen
Mark verbraten. Deren Kreation ist aus 40 000 Vielecken zusammengesetzt.
Um ihrem Geschöpf Leben einzuhauchen, haben die Designer Gesten und
Mimik echter Menschen erfaßt und digitalisiert. Die Bewegungen einer
Tänzerin werden über Sensoren auf das Kunstsubjekt übertragen,
eine Sängerin leiht ihr die Stimme. Technische Schwächen werden
mit einer ellenlangen Vita aufgewogen, die Kyoko zu einem freundliche Mittelschichtkind
mit Blutgruppe A erklärt. Ihr Geschmack und ihr Dasein spiegeln die
Tristesse der 90er Jahre: Sie liebt Handys und Comics, Mac-Spiele und Schokolade.
Sie jobbt in einem Fast-Food-Restaurant. Ihre Äußerungen in
Pseudo-Interviews sind von watteweicher Ambivalenz.
Die Investition wird sich lohnen. Hori Productions strebt, nach viel
leidvoller Erfahrung mit Teenie-Stars aus Fleisch und Blut, nach Kostendämpfung
und mehr Effizienz. In Japan werden solche Wesen en masse vermarktet. Doch
sie sind nie lupenrein. „Den perfekten echten Menschen gibt es nicht“,
klagt Hori-Manager Yoshitaka Hori: „Manche singen gut, sehen aber nicht
gut aus - und umgekehrt.“ Außerdem werden sie krank, reden Unfug,
haben Allüren und wollen Geld. Solche Störfaktoren mag das Showbusiness
gerne ausschalten.
Kyoko Date, das 3D-Getüm, wurde per Video und Radio unter die Leute
gebracht, mit ihrer geborgten Fiepsstimme eine CD („Love Communication”)
bespielt. Kyoko hat Fan-Seiten und regelmäßige Auftritte im
Internet. So wird sie zum Objekt globaler Verehrung. „Ich liebe sie“, ruft
Pee aus Thailand. „Sie ist cool“, findet Rozz aus den USA. Hau, der Holländer,
schwärmt von ihrem Lächeln, der deutsche Carsten von ihren Augen.
„Ich mag sie sehr und will so eine Freundin haben“, verkündet Yahontov
aus Rußland. „Sie ist so schön und ich bin einsam“, schreibt
Tobias aus der Schweiz. „Sie ist die Zukunft“, glaubt Simone aus Italien.
„Sie ist das Typ Mädchen, den die meisten Jungen wollen. Und ich bin
einer von denen“, erklärt Barry aus Singapur.
Manch Moralist mag in dieser Begeisterung für das virtuelle Wunschbild
eine Verhöhnung der Schöpfung sehen. Doch warum Krokodilstränen
weinen? Im Grunde simulieren - oder persiflieren - diese Kunstwesen nur
die Rituale der Pop-Star-Fabrikation: Die Bilder, die Posen, die dümmlichen
Interviews. Synthetischer als die Popstars aus Fleisch und Blut können
sie kaum sein. Wie natürlich war Gary Glitter? Wie real ist ein Michael
Jackson, der unter dem Messern plastischer Chirurgen eine Art Dauermorphing
am eigenen Leib betreibt? Magastars wurden schon zu analogen Zeiten aus
den Schnittmengen extensiver Marktforschung geschaffen. Sie sind Industrieprodukte,
Markenartikel, so authentisch wie Margarine.
Der Nintendo-Generation dürfte die Digitalisierung ihrer Idole
kaum anrüchig erscheinen. Schon heute verbringen Jugendliche zuweilen
mehr Zeit in einer elektronischen Umgebung - mit Videospielen, Fernsehen,
elektronischen Haustieren und Computerkommunikation - als im Kontakt mit
Freunden, überhaupt mit echten Menschen. Jungen Paare, die in Fragen
des Nachwuchses unsicher sind, bietet eine Firma im Internet bereits „Babysimualtoren”
an - mit Hemdchen und Windel, Geburtsurkunde und Einführungsvideo.
Die Babys sind „anatomisch korrekt” und „asiatisch” bis „afrikanisch” getönt.
Die Firma nennt sich „Baby think it over”.
Was ist schon echt? Kann nicht fast alles, auch Fotos und Filme beliebig
manipuliert werden? Bleibt nicht immer öfter fraglich, wer wie aussieht,
was wer wirklich gesagt hat und ob der überhaupt existiert? Ist dies
nicht die Ära der Fälscher, der Markenpiraten und plastischen
Chirurgen? Warum also soll der moderne, verwirrte Medienkonsument sich
seine Traumbilder nicht aus Polygonen zusammensetzen? Das Leben kann so
überschaubar sein, wenn es sich per Mausklick steuern läßt,
ein einziger großer special effect.
Obwohl die Fans wohl wissen, daß Kyoko, Lara und Co nur aus Bytes
bestehen, halten sie die gleichen Zeremonien der Verehrung ab: Sie geben
sich genauso verzückt, schreiben den Idolen Liebesbriefe, sammeln
alle verfügbaren Bilder und tauschen sich über jedes Detail aus.
Lara-Fans werden Tapeten und Bettlaken, T-Shirts, Puzzles und Zahnputzbecher
angeboten, auch aufklebbare Tattoos („Trag' Lara tagelang auf deiner Haut").
Es ist ein risikoloses Begehren: Besteht beim fleischlichen Popstar zumindest
der Hauch einer Chance auf eine Reaktion, ist diese beim virtuellen Idol
definitiv ausgeschlossen. Die Liebe wird nicht erwidert, aber auch nicht
zurückgewiesen. Zumindest solange nicht, wie die Vision des Autors
William Gibson von virtuellen Wesen mit künstlicher Intelligenz und
„Aggregaten subjektiven Begehrens” Fiktion bleibt.
Safer kann Sex nicht sein: Die virtuellen Weibs-Bilder, willig und doch
unerreichbar, bieten neue Wege des keimfreien Eskapismus, die der gestreßte
Mensch in einer reglementierten Gesellschaft offenbar gern beschreitet.
In Japan sind Figuren aus der Anime- und Manga-Kultur - glatte, oft spärlich
bekleidete Comicgirls mit übergroßen Augen und meist auch Brüsten
- zu Platzhaltern der Lust mutiert. Männer erfreuen sich dort millionenfach
an digitalen Frauen, die sie am Computer verführen und entkleiden
- vermutlich aus wachsender Furcht vor den echten. Es gibt schüchterne
Versionen, bei denen man sich mit Mädchen verabreden und versuchen
muß, ihnen zu gefallen. Aber auch härtere Varianten: Im Internet
lockt www.dirtymangas.com mit dem Spruch: "Besser als die Wirklichkeit!
Diese Mädchen sind unberührt von Zeit, Stimmung oder der Schwerkraft.
"
Verblüffend bei all den Spielereien: Wie wenig wirklich neue Bilder
mit der modernen Technik entstehen, wie unverdrossen die Digitalkünstler
archaische Klischees, angesiedelt zwischen Barbie und Bardot, fortschreiben.
Das männliche Fortpflanzungsorgan, das bei diesen Schaffensprozessen
offenbar den Strich führt, scheint kaum echte Innovation zu gestatten.
Für die Unterhaltungsindustrie ist die Digitalisierung ihrer Akteure
nur konsequent. „Kyoko läßt sich viel ökonomischer vermarkten,
als Talente, die man mühsam finden und ausbilden muß“, schwärmt
Manager Hori, „ sie ist das ideale Idol.“ Sie erspart ihm nicht nur Kosten
- Bodyguards, Faltencreme - und Scherereien - Drogen, Skandale -, sie ist
auch vielseitiger, formbarer und allzeit verfügbar. Sie ist robuster
und weitgehend wartungsfrei. Sie muß nicht schlafen, nicht essen,
nicht pinkeln. Hinter ihr stehen durchschnittlich bezahlte, und vor allem
leicht austauschbare Tänzer, Sänger, Schauspieler, Grafiker und
Techniker. Kyoko ist wirklich kalkulierbar.
Wenn sie einmal out ist, kann Hori sie mit der Delete-Taste meucheln.
Was er, schon angesichts der hohen Investitionen, kaum tun wird. Er kann
Kyoko ja immer wieder umwandeln, dem Zeitempfinden, der Mode und den herrschenden
Ansichten anpassen. Selbst wenn Adolf wiederaufersteht: Dann nennt er sie
halt Heidi, läßt ihr blonde Zöpfe flechten und eine kleine
Hakenkreuzbinde ums emporgereckte Ärmchen binden.
Kyoko ist erst der Anfang. Spezialfirmen betreiben bereits einen schwunghaften
Handel mit digitalen Körpern und Körperteilen - Rohstoff für
Experimente solcher Art. So bietet das US-Unternehmen Zygote aus Utah via
Internet „Qualitätsmodelle“ an, eingescannte 3-D-Wesen wie „die Superheldin“,
Bestellnummer HC045 oder „die Standardfrau“ - aus 10984 Polygonen für
nur 195 Dollar. Im Katalog führt Zygote auch eine steife Geschäftsfrau
und eine „Mutter Natur“, die jeder Landfrauenverband gut im Briefkopf plazieren
könnte.
Im Dienste totaler Detailtreue hat die Firma Abdrücke eines Models
gefertigt, um eine exakt vermessene digitale Form zu schaffen. Sie kann
beliebig bewegt und modifiziert werden. Ähnliche Technik nutze der
Special-Effects-Meister Scott Billups, als er für eine Telekom-Firma
eine animierte Kopie der Marilyn Monroe bastelte - zusammengesetzt aus
fünf mit einem 3-D-Scanner erfaßten Frauen. „Ihre Bewegungsversuche
sind so rührend wie die ersten schwachen Gebärden eines Kindes“,
berichtete ein Reporter vor Ort. Zum besseren Verständnis der menschlichen
Form sind auch tiefgefrorene, zersägte Leichen schon punktgenau erfaßt
und auf Festplatten verewigt worden.
In vielen Softwareschmieden wird emsig an neuen virtuellen Wesen gebastelt,
die der Menschheit als Betreuer, Helferlein oder Entertainer von Nutzen
sein könnten. Personalchefs wünschen sich die elektronische Empfangsdame,
die auf 10000 Schlüsselworte reagiert. Die Modebranche sehnt sich
nach Idealleibern, die ihre Produkte optimal zur Geltung bringen. Und die
Spielehersteller sind permanent bemüht, auszuforschen, welche Zielgruppe
mit welch neuer Kreatur an den Ladentresen zu locken wäre.
Den dringendsten Bedarf aber hat die Medienindustrie selbst. Das Ziel:
Ein Allround-Idol, ein Wesen, das sich auf allen Ebenen der Unterhaltung
einsetzen läßt. Hollywood experimentiert mit digitalen Darstellern,
zunächst in Nebenrollen und zur Bewältigung besonders gefährlicher
Stunts. Doch bei den enormen Filminvestitionen macht es auch Sinn, Hauptdarsteller
zu digitalisieren - nicht zuletzt für den Fall eines plötzlichen
Ablebens während der Dreharbeiten. Stars von Brando bis Stallone haben
ihre Körperformen längst einscannen lassen.
Wenn erst 1000 Fernsehkanäle vom Himmel strahlen, so rechnen vorausschauende
Produzenten, wird es schwierig werden, genügend brauchbare Fleischwesen
für all die Spielshows und Seifenopern zu finden und zu bezahlen.
Intelligente Kunstfiguren, die "wirklich" kommunizieren, könnten Abhilfe
schaffen. Zudem ließen populäre Elektrowesen sich optimal weiterverwerten:
In Videospielen, auf CD, in Lernprogrammen, Talkshows und Themenparks Auch
Kyoko Date soll bald in der Lage sein, live in Fernsehsendungen aufzutreten,
zu singen und zu plaudern.
Da beginnen reale und virtuelle Welt ein spannendes Wechselspiel. Es
sei, glauben Branchenkenner, nur noch eine Zeitfrage, wann die ersten virtuellen
Künstler in den Top 40 der USA auftauchen. Von der populäreren
japanischen Sängerin Namie Amuro schuf der Spielkonzern Sega ein 3D-Abbild,
daß sich genauso bewegt und singt. Andersherum soll nun die
Schauspielerin Rhona Mitra jetzt Lara Croft spielen - mit hautengem Spezialoutfit.
Es sei gar nicht so einfach, den Computerstar zu imitieren, stöhnte
sie nach ersten Probeaufnahmen, "weil sie so agil und anmutig ist". Die
britische Boulvardpresse will erfahren haben, daß sie sich für
den Job von ihrem Vater, einem plastischen Chirurgen, eigens die Brüste
vergrößern ließ, um den virtuellen Idol näherzukommen.
©
Schimmeck |