"Ich kriege es nicht zusammen"

Ein Ausflug in die weisse Psyche Südafrikas

1992
von Tom Schimmeck 

Kostenlose Psycho-Peep-Show im Radio. Allabendlich, im Schutz der Dunkel-heit, entblößen die Anrufer live ihre wunden weißen Seelen. Auf den Telefonleitungen drängeln sie sich zum für alle hörbaren Bekenntnis, haspeln in breitem, ungelenken Englisch ihre Ver-wirrung herunter, entfalten noch einmal ihre kleinen Lebenslü-gen. 

Hier spricht die Lady aus dem weißen Vorort, die hinter den ho-hen Mauern ihres Anwesens vor der Machtübernahme der Schwarzen zittert. Was soll werden, fragt sie ratlos, wenn "diese Leute", die doch gar keine Erfahrung haben, das Land übernehmen? Nein, sie ist nicht rassistisch, beileibe nicht, nur besorgt. Ihr Le-ben wird von Flutlicht und allerlei Alarmvorrichtungen geschützt, ein Wachdienst, kräftige Männer mit dicken Flinten, stehen ihr 24 Stunden auf Abruf zur Verfügung. In ihrem Schlaf-zimmer ist in Griffnähe der "Panic button", der Panikknopf, mit dem sie bei Gefahr Himmel und Hölle auf Trab bringt. Reform muß wohl sein, meint sie, aber Chaos? 

Und jetzt kommt der Herr vom Dorf auf Sendung, der noch einmal schnell ein paar Fakten klarrücken muß. Es sei doch überdeut-lich, was die mit dem "Rest von Afrika" angestellt hätten: Kor-ruption, Mißwirtschaft, Hunger und Elend. Und der Herr Mandela sei ja auch Kommunist, oder doch zumindest umzingelt von sol-chen. 

Drei Stunden lang lauscht David, Moderator von Johannesburgs "Radio 702", mit stoischer Geduld, wie seine Anrufer ihr Innen-leben nach außen stülpen. Keine Musik unterbricht den endlosen Redeschwall, nicht einmal Werbung schafft zur späten Stunde eine barmherzige Pause. David, die Klagemauer der Nation, der Psychiater für jedermann: Für irritierte Jugendliche, die vor der schwarzen Konkurrenz zit-tern, für Farmer, die um ihr Land bangen, für Rechtsradikale, die dräuend daherschwadronieren und kleine Geschäftsleute, die im breiten Strom der Selbstgerechtigkeit mitschwimmen möchten. Sie alle wollen heraus in die Nachtluft mit ihren gut genährten Halbwahrheiten. 

Haben wir es nicht gut gemacht? Haben wir das Land nicht zum reichsten Afrikas gemacht? Mit ein paar Schönheitsfehlern, nun gut. Aber gibt es die nicht überall? Warum meckert die Welt an uns herum? Da krachen stolzer Trotz und tiefste Verunsicherung auf-einander. Argumentiert wird mit hastiger, simpler Pseudo-Logik: Kaum hat mal ein Trümmer Erkenntnis eingeschlagen, wissen wir es auch gleich schon ganz genau. Vor allem den Schwarzen, den kennen wir gut; was "diese Leute" fühlen, wollen und brauchen ist uns schon lange völlig klar. Eine audiophile Grusel-stunde. Der Geist, der hier spukt, heißt Schuld. 

Wer "702" verfolgt, kann die weißen Seelen beobach-ten wie aus einer Nische mit Spiegelglas. Und es ist dieser Zwang zum öffentlichen Bekenntnis, der Südafrikas noch herr-schende Minderheit manchmal fast liebenswert macht. Je weniger sie fertig werden mit den auf sie einstürmenden neuen Realitä-ten, desto mehr müssen sie reden, reden, reden. Das Ergebnis ist fast immer der gleiche Kap-Cocktail: ein Teelöffel Zuge-ständnis, eine Anstaltspackung Selbstverteidigung, ein Schuß hemdsärmeliger Demagogie und ein Mund voll aufgestoßener, un-verdauter Angst, alles gut durchgeschüttelt und mit einem Lä-cheln auf Eis serviert. 

Gott in der Westentasche 

Gefragt nach der Triebfeder des militanten Rechtsradikalismus, setzt Pieter Potgieter auf einer Gartenparty den Drink von sei-nen Lippen ab und sagt ohne Zögern: "Religiöser Fanatismus". Der schlanke alte Herr muß es wissen. Als ein Führer der Nederduitse Gereformeerde Kerk, NGK hat er den weißen Gott der Rechten in allen Facetten kennengelernt. Jahrzehntelang war die NGK die Staatskirche der Apartheid, ihre Prediger haben die Bibel, vor allem das Alte Testament, unzählige Male nach Rechtfertigungen durchkämmt. 

Im November 1990 aber geleitete Potgieter eine Delegation seiner NGK ins südafrikanische Städtchen Rustenburg. Dort legten sie vor all ihrem alten Feinden aus den anderen, regierungskritischen Kirchen ein unglaubliches Bekenntnis ab: "Apartheid ist Sünde". Sie bekundeten Reue, den teuflischen Plan über Generationen von der Kanzel gepredigt zu haben. Es gab erstaunte Ausrufe und Tränen bei den anderen Geistlichen, und beim Tee schüttelte man sich bewegt die Hand. Doch kaum war die Nachricht vom Schuldbekenntnis übers Radio gelaufen, ereilte Potgieter ein Anruf von Ex-Staatschef Pieter Willem Botha, der ihm den Kopf waschen wollte. Noch heute erhält er fast täglich anonyme Anrufe und Drohbriefe, die ihn des Verrats bezichtigen und Rache ver-sprechen. Wo die Gegner zahlreich sind, wird der Abtrünnige besonders gehaßt. 

Ihren Gott tragen sie bei sich wie ein Schminkdöschen oder den Führerschein. Wehe dem, der an dem Maskottchen ihrer Ideologie rührt. Ihr weißer Gott ist prüde, eindeutig und absolut. Er hat die er-sten Schiffe aus Europa hierher gelenkt und seitdem jeden ihrer Schritte geheiligt. In seltenen Augenblicken des Triumphs danken sie ihm. Als die rechte Konservative Partei im Februar den Parlamentssitz von Potchefstroom eroberte - jener Erdrutschsieg, der zum großen weißen Referendum führte -, er-tönte zuerst ein schmerzhaft lauter Jubel der Anhänger, die zu hunderten aus dem ganzen Land angereist waren und mit Kind und Hund, Campingstuhl, Klappgrill und Kühltasche das Wahllokal um-zingelt hatten. Dann senkte sich plötzlich ein beinahe exstatisches Schweigen über die Menge: Sie beteten zu ihrem Gott. 

Eine Reihe von Kirchen und Sekten setzt den Religionskrieg fort, predigt weiter eine weiße Re-ligion des Auserwähltseins gegen die schwarzen Befreiungstheolo-gen. Selbst innerhalb der NGK, sagt Pieter Potgieter, gebe es noch einen starken Flügel, der Gott als weiße Ausschließlichkeit behalten wolle. Und es gibt kaum einen Rechtsradikalen, der sich nicht auf seinen Christus beruft. Dem Land, warnte die "christliche Liga Südafrikas" in einer großen Zeitungsanzeige vor dem weißen Referendum,  drohe ein "Ungeheuer", die "Ein-Welt-Regierung". Demokratie, Gemeinsamkeit und Einheit seien gar keine christli-chen Werte, auch religiöse Toleranz nicht. Für die Liga hat das neue Südafrika nur eine Bedeutung: "Satan etabliert sein Königreich auf Erden". 

Aufrechte Herrenmenschen 

Es ist ein Treppenwitz der südafrikanischen Geschichte, daß die Weißen nach über 300 Jahren unbarmherziger Vorherrschaft sich bei der wohl allerletzten Chance, "whites only" die Geschicke des Landes zu bestimmen, sich zum ersten Mal dieser Stimme würdig zeigten. Von jeher war die Angst der blassen Minderheit wahlentscheidend in Südafrika. Beim Referendum am 17. März hat die weiße Angst zum ersten Mal für Fortschritt gesorgt: Eine Zukunft des offenen Bürgerkrieg, erneuter Sanktionen, verschärfter Wirtschaftskrise und Sportboykott erschien dem Gros fürchterlicher als Verhandlungen mit der schwarzen Mehrheit. 

Das heißt nicht, daß plötzlich ein ganz neues Denken herrscht. Aber immerhin eine widerwillige Einsicht, daß Apartheid eine Sackgasse ist - und eine vage Hoffnung, die nur Millimeter größer ist als die Furcht. Die verständliche Furcht. Denn es stehen ja wirklich fundamentale Veränderungen an. Da wechselt ja nicht nur der Grüßaugust an der Spitze. In Südafrika steht das totale Umkrempeln bevor: Kolonial und feudal geprägte Gesellschaft sucht späten Anschluß ans zwanzigste Jahrhundert. Mit neuer Hierarchie, neuen Werten, womöglich neuen Besitzverhältnissen. 

Dennoch betrachten sich viele Weiße, schon aus alter Gewohnheit, noch immer als Fleischwerdung der Zivilisation. Was besonders amüsant ist, wenn man sich anguckt, was sie Kultur nennen: Bier, Cola-Brandy und fettige Wurst auf dem Grill. Die Buren sind historisch etwas spät dran. Manch einer glaubt einfach weiter an das, was noch vor drei Jahren das Credo der Nationalen Partei, das staatliche Dogma war. Wie ein Katholik, der die letzte Enzyklika verpaßt hat. War nicht ein gewisser De Klerk noch vor gar nicht langer Zeit einer der wildesten Apartheid-Rhetoriker? 

Sich als auserwählt zu betrachten und den Rest der Menschheit nach eigenem Gusto herumzukommandieren war ja vor ein paar Jahrzehnten an den feinsten Orten en vogue. Diverse europäische Herrenmenschen hatten bis vor 30 Jahren ganz Afrika unter der Knute. Die letzten Kolonialisten, die verträumten, schrecklichen Portugiesen, zogen erst 1975 aus ihren Besitzungen ab. 

Um Südafrikas Psychose zu erklären, hilft das Klischee vom dumpfen Buren nicht weiter. Denn die Buren, eine knappe Mehrheit unter den Weißen, haben die Nase näher an der Erde als etwa die Briten. Viele schwarze Intellektuelle geben den gradlinigen Afrikaanern Vorzug vor jenen englischen Vorstadt-Liberalen, die doch stets nur das Näschen gerümpft und dabei von dem ach so abstoßenden System tüchtig profitiert haben. Die wortkräftigsten Schriftsteller, die schärfsten Gegner der Apartheid, selbst ehemalige ANC-"Terroristen" sind Buren. Sie machen sogar die beste kritische Wochenzeitung des Landes. 

Es ist zu einfach, alle Schande auf die fleischigen Farmer in kurzen Khaki-Hosen und ihre Söhne mit den Rugby-Visagen zu laden. Auf eine sehr verquere Art sind sie der schwarzen Mehrheit im Alltag sehr viel näher als das englische Kapital. Das Gros ist rassistisch, aber auch geradeheraus, steht zu seinem Aberwitz und debattiert gern darüber. "Ich will meine Schwarzen nicht ausbilden", sagt ein alter Bure an der Bar eines kleines Hotels auf dem Lande, "dann übernehmen sie meinen Job und machen ihn besser als ich." 

Ihre Sturheit, der gut einstudierte Trotz gegen die Einmischungen und Ermahnungen der weit entfernten Restwelt, bröckelt. Und so konnten sie im März einmal zeigen, daß sie es satt haben, der Paria der Welt zu sein. Doch der Zusammenbruch der grob und klar geordneten Apartheid-Welt verheißt Gefahren. Nur noch 46 Prozent der Bevölkerung, sagt die neueste Untersuchung eines regierungsnahen Instituts zur Seelenlage der Nation, versprechen sich von einem demokratisch geläuterten Land eine Besserung ihrer persönlichen Lebensverhältnisse. Unter den Weißen sind es gar nur 15 Prozent. Gewöhnliche Kriminalität erreicht immer neue Rekorde, politische Morde - 2672 im letzen Jahr, 11910 seit 1984 - sind an der Tagesordnung. Die Arbeitslosigkeit ist auf 43 Prozent geklettert, andauernd gibt es Massenentlassungen. Selbst weiße Familien, über Generationen durch ein rassistisch aufgebautes Sozialsystem gestützt, zeigen sich immer deutlicher Anzeichen von Verelendung. 

Die armen Weißen, das sind die Leute, die am meisten zu verlieren haben. Sie haben von der Machtübernahme der Afrikaaner im Mai 1948 am deftigsten profitiert. Ihnen wurden die qualifizierten Berufe samt Schule und Ausbildung reserviert. Wer trotz aller Förderung nichts zuwege brachte, konnte immer noch beim Postamt unterkriechen oder eine kleine Rente abstauben. Die schon notorische Wirtschaftskrise und die stückweise Aufhebung ihrer Privilegien hat sie hart getroffen. Je ärmer sie werden, je näher sie sozial ans schwarze Township rücken, desto heftiger hassen sie die "Kaffirs", das südafrikanische Pendant zum amerikanischen "Nigger". Schon arbeiten Weiße als Tankwart und Fensterputzer. Undenkbar noch vor ein paar Jahren. Einige haben sogar einen schwarzen Boß. 

Dutzende von rechtsradikalen Gruppen mühen sich um diese verängstigte Klientel, schließen sich zu immer neuen Fronten gegen De Klerks "Verrat" zusammen. Die Niederlage beim Referendum macht es nur wahrscheinlicher, daß sie bald ganz überschnappen. Die Afrikaaner-Nation spaltet sich. "Sie riechen Blut", sagt Professor Willem Kleynhans, ein gewiß nichts linksverdächtiger Politologe. Zum Zeichen ihrer Entschlossenheit haben die rechten Ultras das Jahr 1992 mit einem Dutzend Bombenanschläge eingeläutet, auf Bildungseinrichtungen und Bierhallen, Postämter und eine Polizeischule. Wird ein solcher weißer Bombenleger gefangen, findet sich im Zuschauerraum stets eine weinende Mutter, die seine Rechtschaffenheit beteuert. 

In Zeiten der Identitätskrise erlebt der Afrikaaner-Nationalismus eine Renaissance. Gefährliche Witzfiguren wie der Führer der Afrikaaner Weerstandsbeweging, Eugene Terre'Blanche, ein Maulheld mit weißem Bart, Cowboyhut und einer vom Saufen zerfressenen Stimme,  können hier zu Helden werden. Wenn er auftritt und seine Zuhörer vor die Alternative "Gott oder Kommunismus" stellt, dann jubelt das Volk, grölt "Hängt Mandela" und singt: "Die Buren werden Bomben legen und Schwarze erschießen". 

Doch nicht nur die ganz unten gehen nach rechts. Studenten stolzieren mit lila Sweatshirts herum, auf denen ein Adler und der Slogan "Ein Volk, ein Reich" aufgedruckt sind. An manchen Universitäten können vier rechtsradikale Organisationen nebeneinander existieren. Auch Priester, Akademiker, Geschäftsleute, Handwerker gehören hier den abstrusesten Gruppen und Sekten an. Rechtsradikale - das ist in Südafrika kein kleiner Haufen dickstiefeliger Glatzköpfe, denen Kleinbürger verstohlen Beifall klatschen. 

Südafrikas Rechtsradikalismus ist etwas gewachsenes, alltägliches und sehr familiäres. Herrenmenschentum mischt sich mit Lagerfeuerromantik. Die Stimmung auf ihren Versammlungen liegt irgendwo zwischen Karl May-Festspielen und Reichsparteitag. Wer sich nicht recht vorstellen kann, wie der Faschismus in den 30er Jahren Deutschland eroberte, sollte sich auf so ein rechtsradikales Picknick unter Südafrikas lachender Sonne begeben. 

Die Welt ist nicht groß 

"Der Kalvinismus hier ist über 300 Jahre unberührt geblieben und hat einen tiefen Fundamentalismus genährt", sagt Janis Grobbelaar, Soziologieprofessorin in der Burenmetropole Preto-ria. Auch sie, aufgewachsen in einer strammen Afrikaanerfamilie am Kap, kennt diese schroffe Gedankenwelt nicht nur aus Bü-chern. Die Machtübernahme der Buren anno 1948 ist ihr als zentrales "Familienereignis" in Erinnerung. Mehr als 50% der Afrikaaner in den Provinzen Transvaal und Orange Free State stuft die Professorin als rechtsradikal ein. "Dazu kommen die englischsprachigen Rechten, die ihre Form von christlichem Nationalismus einfüttern." 

Aber, lautet die ewige Frage an den Buren, wie ist soviel Verbohrtheit überhaupt möglich? "Die Welt ist nicht so groß, wenn man hier unten lebt", sagt sie lachend. "Wir hier an der Südspitze Afrikas sind sehr engstirnige Leute, für lange Zeit abgeschnitten von Afrika und auch Europa." Auch die Soziologin sieht bei den Radikalsten Religion am Werk, selbst bei einem Massenmörder wie Barend Strydom, der bekennende Rassist, der im November 1988 sieben Schwarze im Zentrum von Pretoria ermordete. Seine Familie war in einer religiösen Sekte, sein Vater sagte: "Schwarze sind keine Menschen". 

"Viele, die aktiv in Gewalt verwickelt waren, sind letztlich durch ihre Mitgliedschaft in einer dieser religiösen Organisationen legitimiert worden", meint Janis Grobbelaar. So überschreite mancher kühl kalkuliert die Grenze vom bloßen Machthaber zum Amokschützen, der wahllos Schwarze abknallt: "Wenn man beschließt, sie sind keine Menschen, dann ist es kein Problem loszugehen und sie niederzuschießen. Und dabei nicht als psychotisch diagnostiziert zu werden. Strydom war nicht psychotisch. Er wußte sogar, wie schwierig es ist und übte deshalb vorher." 

Das Elend einer zu engen Welt. Ein Dilemma der hohen Mauern in den weißen Hochsicherheitsvororte ist, daß die dahinter weniger denn je von der Wirklichkeit sehen. Abgeschirmt von Afrika hocken sie auf Inseln selektiver Wahrnehmung. Ihre Sinne sind wie von einer Hornhaut überzogen, erworben in einem brutalen Alltag der getrennten Welten; der getrennte Schulen, Wohnviertel, Schwimmbäder und Friedhöfe. Die meisten haben nie ein Township betreten. Der Kontakt mit der großen schwarzen Welt findet noch immer übers Personal statt. Das Hausmädchen, das Kindermädchen, der Gärtner - sie müssen herhalten für allerlei wortreiche und faktenarme Analysen über den Schwarzen an sich. Zu Südafrikas weißer Schizophrenie gehört auch, daß viele Weiße von schwarzen Ammen großgezogen wurden, von liebevollen Ersatz-Mammies, die sie als Babys auf dem Rücken trugen, ihnen Lieder vorsangen, sie fütterten und im Park spazierenführten. Erst später lernen sie, das schwarz schlecht, minderwertig, fremd ist. Lernen sie Verachten und Hassen. Ihr erster kleiner Mord. 

Die Einzelfälle von "Kaffirbashing" (Niggerprügeln) verstellen eher den Blick auf die allgemeine Misere. Jener Trupp weißer Bierbäuche, die letztes Jahr im Ort Louis Trichardt schwarze Kinder überfielen und zusammenschlugen. Oder die guten Collegeboys, die in einer noblen Schule ihre "Kaffirbashing Society" gründeten und einen schwarzen Landstreicher zum Zeitvertreib zu Tode prügelten. Solche Fälle helfen den Weißen, auf einzelne zu zeigen, um sich anschließend umso wohler zu fühlen in ihren kleinen Oasen der Ignoranz, abgeschottet von Schuld und Verantwortung. Je öfter eingebrochen wird, desto höher wachsen die Mauern. Je mehr BMW-Fahrer ob ihres Untersatzes erschossen werden, desto mehr blüht die Angst. Als "nervösen Fatalismus" beschreibt Denis Herbstein, ein aus dem Exil zurückgekehrter Aktivist, diesen Zustand. Die guten weißen Wohnstuben, sagt er, hielten sich die rechten Khaki-Krieger als Option offen, falls alles in die Hose geht. 

Mit zorniger Entschlossenheit werden die Lebenslügen wiederholt: Daß ihr Reichtum hart erarbeitet, wohlverdient ist, da brauche man sich doch nur den Rest Afrikas anzuschauen. Daß "sie", die Schwarzen, ganz anders sind, unheimlich, gewalttätig, anarchisch - im Grunde keiner sie je verstehen wird. Daß die Weißen die Sendboten, Hüter und Alleininhaber der Zivilisation, der Kultur sind. "Als wir hier herkamen", geifert eine alte Dame vor dem Wahllokal von Potchefstroom, "hatten die noch nicht mal das Rad erfunden." 

Die Schreckensvision des Bleichgesichts: Daß die Negerhütten gleich nebenan stehen, die Töchter mit schwarzen Boys in der Schule schäkern  könnten. Es ist die Angst des burischen Wagenlagers. Die Angst, daß die schwarze, dritte Welt näherrückt. Daß sie von Schwarzen umzingelt werden, die sie plündern wollen. Lager-Mentalität: Wir sind anders als die rundum. 

Die Spannung ist gewaltig: Sie entlädt sich in heftigem Alkoholismus, in rücksichtslosem Autofahren (Südafrika hat eine der schlimmsten Unfallstatistiken der Erde). "Es gibt einen immensen Druck in dem sozialen Gewebe dieser Gesellschaft", meint Janis Grobbelaar. "Sie streiten mit ihrer Frau oder Freundin. Und dann gehen sie los und bringen zehn Schwarze um." 

Verzerrte Verantwortung 

Der Staat ist mit schlechtem Beispiel vorangegangen, hat einen verqueren Fanatismus vorexerziert. Die Staatsterroristen des CCB, einer Geheimabteilung der Streitkräfte, erschossen nicht nur Oppositionelle, wie es jede Todesschwadron der Welt tut. Sie suchten das Absurde: Sie schmierten Gift auf Klodeckel und ins Essen, fummelten Minisprengsätze in Walkman-Kopfhörer. Zwei Agenten klet-terten 1988 sogar über die Mauer des Anwesens von Erzbischof Desmond Tutu und plazierten einen toten Affenfötus in den Bäumen. Wahnsinn mit Methode. 

Es sind "alberne kleine graue Männer, die Afro-Perücken und dunkle Brillen tragen und 007 mit ihren Mitbürgern spielen", sagt der Soziologe und Politiker Frederik van Zyl Slabbert, einer jener Buren, die sich ärgern über das gängige Klischee vom dumpfen Afrikaaner. "Trunken von grenzenloser Macht" hätten diese Verrückten ihre Morde begangen,  abgeschirmt von der zivilen Gesellschaft, in "Räumen moralischer Leere". 

Burische Männer neigen in extremen Spannungssituationen traditionell zu destruktivem Verhalten: Die Prügelstrafe ist gängig, Burenkinder werden zuhause und in der Schule geschlagen. Viele Afrikaaner sind bewaffnet, gewalttätige Problemlösungen üblich. Nicht selten bringen stille Väter, wenn die Probleme über ihnen zusammenschlagen, die ganze Familie um. Der Afrikaaner ist Weltspitze im Familienmord. Der furchterregende "Familizid" ist ein südafrikanisches Unikum, das sich in abgeschwächter Form allenfalls noch in der Siedler-Gesellschaft USA finden läßt. Beinahe wöchentlich steht in den Zeitungen die Story eines wild gewordenen Buren, der ein Blutbad im eigenen Haus angerichtet hat. 

Da sei ein "verzerrtes Gefühl von Verantwortung" am Werk, meint Professor Fanie Du Toit, der lange über diese exotische Beschäftigung seiner Landsleute geforscht hat. Die Balance von Aggression und Nähe gerate durcheinander, ein irregeleiteter Paternalismus leite Vater oder Mutter zu dem Schluß, sie seien mit der Autorität ausgestattet, über die Existenz ihrer Nächsten zu bestimmen: "Die Ausübung extensiver Kontrolle über Menschen und die damit verbundene unhandhabbare Verantwortung kann zu einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit führen, eine Erscheinung die mit den Umständen in einer Situation vor einem Familizid vergleichbar ist." Der Täter sieht keine Zukunft, weil er sich unfähig fühlt, diese zu liefern. 

Du Toit leitet das Phänomen direkt aus der verbogenen Idee von Führung ab, die Afrikaaner über schwarz und braun zu glau-ben haben; jenes - wiederum gottgegebene - Recht der Weißen, zum be-sten aller über andere Leute Leben zu entscheiden. Der Psychologe sieht auch einen Zusammenhang mit der in den 30er Jahren aus Deutschland importierten "Herrenvolk-Idee". Beides waren wichtige Ingredienzen bei der "Erfindung" der Apartheid. "Es scheint", schreibt er, "als sei dieses im nationalen Leben legitimisierte Recht, das Leben anderer Menschen zu bestimmen, durchgesickert in die Umgangsmuster einiger Familien. Bei jedem Familizid hat das verantwortliche Elternteil unnötigerweise das Gefühl ge-habt, das 'Ende der Welt' sei gekommen." Der "übertriebene, fehlgelenkte Verantwortungssinn" und realitätsuntüchtige Werte kulminiert in einer Art Weltuntergangsidiotie. Die Täter spüren das Ende ihrer Werte und Normen und schließen kurz. 

Seit einigen Monaten ist eine neue Variante dieser Rundum-Agression zu beobachten. Männer löschen plötzlich nicht mehr ihre Familie aus, sie ziehen los und knallen "Kaffirs" ab. In Ladysmith hat ein 34jähriger Bure namens Kallie Mitte Januar nach einem Streit erst seinen Vater umgebracht und dann bei einem tödlichen Zug durch die Gemeinde wahllos neunzehn Schwarze verwundet und neun erschossen. Fünf Tage später verließ der betrunkene Wilhelm, 20, den familiären Grillabend in Kriel und schoß ebenfalls auf jeden Schwarzen, der in sein Blickfeld geriet. Ergebnis: zwei Tote. Alles im Land sei jetzt so durcheinander, meinte Wilhelms Kumpel zur Erklärung. 

Eines Abends Ende Januar drehte dann auch der 24jährige Kesselschmied Cornelius aus Middelburg durch-. Zuerst schoß er in einem gepflegten  Weißen-Vorort auf ein Auto, in dem seine Ex-Freundin, die  Postangestellte Christa saß. Sie hatte ihm Weihnachten den Laufpaß gegeben und war nun mit einem anderen zusammen. Cornelius verfehlte. 
Dann raste er in die Innenstadt und ließ alle, die schwarz sind, für seinen Frust büßen. Das erste Opfer schoß er im Vorbeifahren vor einem Autohandel nieder, die beiden nächsten am Bahnhof. Dann bretterte er mit seinem roten Ford ins schwarze Township (De Vaal: "Sonst findet man nirgends soviele Schwarze auf einem Haufen.") und feuerte drauflos. Drei weitere Schwarze wurden verletzt, einer starb. 

Tags darauf hing er am Tropf, hatte nur noch einen Arm. Der rechte war von Polizeikugeln durchsiebt und mußte amputiert worden. Ein sehr durchschnittlicher, verwirrter junger Weißer liegt im Krankenhaus und zeigt mit der verbliebenen Linken stolz auf die Zeitungsschlagzeilen, deren Titelseiten seinem Irrsinn gewidmet waren. Da ist kein Bedauern, auch sonst kaum eine Gefühlsregung. Er habe die "Kaffirs" von kleinauf gehaßt, sagt er. Wenn ohnehin schon alles aus sei, dachte er sich, als die Freundin ihn abblitzen ließ, "kann ich auch ein paar Kaffirs mitnehmen und so einige Probleme lösen". Um ihn herum sei "alles schwarz geworden, deshalb habe ich soviele Kaffirs umgenietet - aber sicher nicht genug." 

Wildes Südafrika: Nur weiße Schwestern dürfen in sein leergeräumtes Vierbettzimmer. Auf afrikaans scherzt er mit der blonden, stämmigen Oberschwester. Sie lacht. Die schwarzen Schwestern huschen an der offenen Tür vorbei. "Die haben Angst", kommentiert der Patient zufrieden. Das Hospital, mit dem Bild von Staatspräsident Frederik Willem De Klerk und einer alten Bombenwarnung im Foyer, ist noch rassengetrennt. Der Täter liegt solo auf der weißen Männerstation; seine überlebenden Opfer dicht gedrängt im Schwarzen-Trakt. 

Die weiße Stadt gibt sich mit der Diagnose Liebeskummer zufrieden. Im Township hatte man einen Tag lang darauf gesonnen, in die Stadt zu ziehen und, wie ein junger Bursche es dort formuliert, "den Punktstand auszugleichen". Aber es ist wieder nicht dazu gekommen. Eine besorgte Dame aus der Stadt hat Cornelius kurz nach der Tat eine große schwarze Bibel gebracht. Cornelius ist, natürlich, Christ. Er liest in dem dicken Buch, aber die Gleichnisse und Geschichten verwirren ihn. Er schaut seufzend auf, zeigt ein leeres Lächeln: "Ich kriege es nicht zusammen." 
 

© Schimmeck