TOM SCHIMMECKs ARCHIV
Winter 1985
 

ZÖGLING UND ERBE

Jan phil. Reemtsma
 
 
D

as Rot-Weiß eines neuerbauten Leuchtturms am Elbstrand markiert für den Naherholer den Ort, wo die Reichsten wohnen. Am Wochenende bekommt man in den kleinen und verwinkelten Straßen am Süllberg kaum einen Parkplatz. Die Bewohner der weniger schönen Viertel, die Touristen und die Einwohner des Nobelstadtteils Blankenese, die ihre Hunde ausführen müssen, drängeln sich auf der Strandpromenade oder schlängeln sich über den Elbuferhöhenweg an den Villengrundstücken vorbei, die durch üppigen Bewuchs vor jeder unbefugten Einsichtnahme geschützt sind.

 
 
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Hier, wo das Schneiden der Hecke für den Eigner noch ein richtiges Hobby ist, wohnt in einer schlicht-weißen Villa auch der 32jährige Jan Philipp Reemtsma. Hätte man zehn Jahre lang jede Woche sechs Richtige im Lotto gewonnen, wäre man fast so reich wie er. Jan Philipp Reemtsma hat soviel, weil er im Jahre 1952 als Sohn von Philipp Fürchtegott und Gertrud Reemtsma geboren wurde. Am 26. November 1978- da wurde er 26 Jahre alt - wollte es das Testament des alten Reemtsma, daß der Sohn über gut die Hälfte des Zigaretten- und Bier-Imperiums frei verfügen konnte. Zwei Jahre später waren die Anteile an die Brüder Herz, besser bekannt unter dem Künstlernamen Tchibo, verkauft. Jan Philipp hatte nach Abzug der Steuern rund 300 Millionen Mark zur Verfügung - ein Betrag, der sich in den letzten vier Jahren unter den Händen eines geschickten Vermögensverwalters mehr als verdoppelt hat.

Seitdem ist Jan Philipp nicht nur in der freien hanseatischen Gesellschaft für manches Gerücht gut. Da war einmal sein Versuch, 1980 die neun Jahre zuvor eingegangene Zeitschrift Twen wiederzubeleben. Die Nullnummer war eben erstellt, da verabschiedete sich der Erbe auch schon wieder. Twen kollidiere mit einem anderen seiner Engagements, sagte er. Den verblüfften Mitarbeitern, die gerade ein Büro für zehn Jahre angemietet und eingerichtet hatten, bot er an, ihnen die Kosten einer Liquidation zukommen zu lassen, wenn sie das Projekt weiterführen wollten. Mit dem »anderen Engagement« spielte Reemtsma auf seinen Plan an, ein »Institut für Sozialforschung« zu gründen. Faktisch landete das Twen-Geld - so jedenfalls die nie dementierte Version - auf dem Tisch der konkret, wo eben der einstige stern-Vize und spätere Senatssprecher Manfred Bissinger angeheuert hatte, der aus dem Blatt eine »linke Illustrierte« zu machen gedachte. Inzwischen ist auch konkret out. »Das Kapitel ist abgeschlossen«, sagt Reemtsma. »Das Thema ist erledigt.«

 

Wirklich suspekt wurde der junge Student der Literaturwissenschaften den Kreisen, aus denen er kam, als er anfing, seinen ganz eigenen Kram zu machen. Die Gründung einer Stiftung zur Pflege des Werks von Arno Schmidt mochte ja noch angehen - hatte nicht Onkel Hermann schon den Künstler Ernst Barlach gefördert? Doch die in diesem Jahr vollzogene Gründung eines »Hamburger Instituts für Sozialforschung« mit so unhanseatischen Figuren wie Ernest Mandel und Alice Schwarzer im »wissenschaftlichen Beirat« - das war zuviel. Die Welt brachte es auf den Punkt, unter Berufung auf ganz blattuntypische Zeugen: »Daß jetzt ein reicher Jüngling kommt und mit Hellern und Batzen um sich wirft, damit alles noch einmal von vorne losgeht, bestätigt voll das bekannte Diktum von Marx, wonach viele Dinge zweimal passieren: einmal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.«

Dabei hatte Vater Philipp Fürchtegott, als er 1959 starb, dafür Sorge zu tragen versucht, daß die Entwicklung des gerade siebenjährigen Sprößlings bis zum 26. Geburtstag in den rechten Bahnen verlaufen möge. Seine Firmenanteile wurden treuhänderisch von keiner Geringeren als der Deutschen Bank verwaltet, mit deren Größen Vater Reemtsma schon zu Zeiten im Aufsichtsrat gesessen hatte, als er noch bei späterer Rückschau - ein Verfolgter des Naziregimes gewesen sein will. Der Sohn mußte Thronfolger werden, zumal Hermann Reemtsmas Sohn Hermann Hinrich - der wurde Landwirt (und landete später nolens volens doch im Aufsichtsrat der Firma) - weder Neigung noch große Begabung äußerte, das Geschäft der Alten fortzuführen. Doch weder Witwe Gertrud, die Mutter, noch die Deutsche Bank reüssierten mit dem Stammhalter in des Vaters Sinne.

Als der junge Reemtsma gerade volljährig war, ordneten die Bankiers ihm den Testamentsvollstrecker Günther F. Ziegler bei, der zuvor bei VW und dem Auswärtigen Amt gewirtschaftet hatte. Nachdem dieser der Deutschen Bank eine Blankovollmacht übergeben hatte, in der er sich bereiterklärte, jederzeit auf Abruf und ohne Angabe von Gründen gegangen zu werden, durfte er am altehrwürdigen Schreibtisch Philipp Fürchtegotts Platz nehmen und den Reichsverweser spielen. Dort, in der Konzernzentrale im feinen Stadtteil Othmarschen, umsäumt vom firmeneigenen Park, in dem wohlgenährte Enten watscheln, suchte Dr. Ziegler den Auftrag zu erfüllen, das Erbe am Stichtag so intakt wie möglich zu übergeben. Fast jeden Tag besuchte ihn Witwe Gertrud in der Residenz hinter Blumen, Bäumen und Gebüsch, um einen Klönschnack zu halten. Nur an den Jungen kam der Herr Testamentsvollstrecker nicht so ran.

Für die Versuche, ihn zur Unternehmerfigur heranzubilden, zeigte der Student nur bescheidenes Interesse. Wohl ließ er sich überreden, in den Semesterferien unter falschem Namen bei anderen Firmen zu hospitieren, er machte auch einen Bilanzkursus bei der Deutschen Bank, doch ansonsten perlten Gertruds und Zieglers Erziehungsversuche wirkungslos an ihm ab. Während die Mutter allerlei junge Herren aus der guten Gesellschaft ins Haus holte, um den Sohn in die richtige Umgebung zu nötigen, versuchte Ziegler ihn für die Probleme der Firma zu interessieren. Jan Philipp jedoch interessierte sich nicht sonderlich für Peter Stuyvesant, Ernte 23 und R6, nicht für Astor, Juno, Eckstein und Reval, nicht einmal für seine eigene Marke - RothHändle, seit den fünfziger Jahren ebenfalls im Familienbesitz. Auch nicht für das Brauerei-Imperium aus Henninger, Hannen, Bavaria St. Pauli und anderen Gerstensaftpressen, das ein immer häufiger wechselndes Direktorium des Hauses in der Zwischenzeit zu überhöhten Preisen zusammengekauft hatte. Jan Philipp berührte das alles nicht. Er studierte die Literatur.

Ziegler begriff zu spät, was da eigentlich vorging. Im Juni 1978, wenige Monate vor dem Stichtag, an dem Jan Philipps große Stunde schlagen sollte, brüstete sich der Testamentsvollstrecker im Spiegel mit seinen Lehrerfolgen und sprach von dem Erben als von seinem »Unternehmen«, das er »ganz am Zügel« habe. Lauthals entwarf er eine ganz neue Unternehmensstrategie, die er zusammen mit dem Studenten gegen die »Scharlatane und Kommerzabenteurer« in der Leitung der Firma durchzusetzen gedachte: »Ich und Jan Philipp gründen eine Firma«, versprach Ziegler und wußte: »Wir werden nicht wie blinde Hühner dastehen.« Dann war der Traum auch schon aus. Am Sonntagabend vor Erscheinen des Artikels rief Hans-Kurt Scherer, als Hamburgs Repräsentant der Deutschen Bank für die Testamentsvollstreckung mitverantwortlich, den Günther F. Ziegler aus der Betrachtung eines Fußballspiels. Mit der noch ungedruckten Fahne des Spiegel-Artikels in der Hand bedeutete der konservative Scherer seinem Kollegen, daß nunmehr seine letzte Stunde bei Reemtsma gekommen sei. Ziegler räumte Philipp Fürchtegotts Schreibtisch auf und ging.

Weder Ziegler noch die Bankiers wußten, daß der Erbe längst entschlossen war, seine Mehrheit an der Firma zu veräußern, deren Marktanteile zwischen 1966 und 1976 um fast 20 Prozent gesunken waren. Auch der einstige Bundesbahn-Chef Karl Klasen ließ sich foppen, als er Jan Philipp Reemtsma und dessen Vermögensmanager einvernahm, um zu erkunden, ob an den Verkaufsgerüchten etwas dran sei. Die beiden schauten ahnungslos und verkauften wenig später alles an die Herren Günter und Michael Herz sowie deren Mutter Ingeburg. Der Reemtsma-Konzern fiel so an Tchibo, was man Jan Philipp übelnahm, weil man in feinen hanseatischen Kreisen findet, daß die Herzens Menschenfresser sind, die nur tüchtig multiplizieren können. Jan Philipp, so sprach die High-Society mit geheucheltem Mitleid, habe seine Anteile überdies zu billig verkauft. Da muß man heute korrigieren: Die Anteilswerte haben sich in den Händen von Herz inzwischen halbiert, Reemtsmas Millionen dagegen verdoppelten sich.

Daß der Verkauf seiner Anteile eine wirtschaftlich ausgesprochen vernünftige Entscheidung war, merkt heute auch Jan Philipp Reemtsma mit vorsichtigem Stolz an. Viel mehr allerdings sagt er nicht; wie er überhaupt höchst ungern über Kindheit, Jugend, Elternhaus und den Konzern spricht. »Meine autobiographischen Neigungen sind sehr unterentwickelt«, findet der Erbe, der Journalisten und Volk ihresgleichen scheut. Einen »Seelen-Striptease« will er vor niemandem machen. Das ist vielleicht das einzige, was er mit seinem Cousin Hermann Hinrich, dem viel älteren Landwirt und Reemtsma-Aufsichtsrat, gemein hat. Hermann Hinrich antwortete auf die schriftliche Bitte um ein Gespräch kurz und schwarz auf weiß: »Ich habe nicht den Wunsch, mit Dingen wie das Selbstverständnis meiner Familie - über welches ich mir im übrigen noch keine Gedanken gemacht habe- an die Öffentlichkeit zu treten.«

 

Dem 32jährigen Jan Philipp Reemtsma fällt dies dank seines völlig unscheinbaren Auftretens nicht gar so schwer. Man bemerkt den Mann fast gar nicht, wenn er in seinem grauen Anzug, mit Oberlippenbart und halbkurz geschorenen Haaren daherkommt. Mit seiner etwas linkischen Gestik ist er etwa so auffallend wie ein Sparkassenangestellter. Könnte man ihn überreden, sich in Farbe fotografieren zu lassen, es könnte passieren, daß er auf dem Abzug schwarzweiß erscheint. Er plaudert nicht gern, wirkt humorlos. Erst wenn man ihn auf seine Stiftungen anspricht, kommt er etwas aus sich heraus, versucht zu erläutern, präzise zu formulieren. Gefragt, ob er ein Linker sei, antwortet er, das Wort bedeute ihm nichts. »Ich stelle mich nicht hin und sage, ich bin ein Linker, ich bin Marxist oder Nichtmarxist oder dies oder jenes.«

Die Mitglieder des Beirats in seinem Hamburger Institut für Sozialforschung - Helmut Dahmer, Ernest Mandel, Margarete Mitscherlich-Nielsen, Jakob Moneta und Alice Schwarzer - hat er durch Lektüre kennengelernt, angesprochen und dann geladen. Den gelegentlich auftauchenden Verdacht, er wolle einen »trotzkistischen Laden« aufmachen, wehrt er brüsk ab, auch wenn er den Trotzkismus für die »am wenigsten bornierte politische Spielart des Marxismus« hält. Das Hamburger Institut, sagt Reemtsma, »ist kein Institut zur Unterstützung der IV. Internationale«. Das darf man zweifellos glauben - schließlich erscheint Trotzki ja noch weiter im S. Fischer Verlag.

Bei Gründung des Instituts trieb den Erben auch eine vehemente Abneigung gegen den modernen Jargon der Betroffenheit. Er findet ihn »anmaßend und unangemessen wie je«. Er müht sich um »Aufklärung«; Betroffenheit sei Voraussetzung jedes politischen Engagements, aber keine qualitative Größe der Erkenntnis : »Ich bin in der Tat der altmodischen Auffassung«, sagt er mit einem Lächeln, »daß es gut ist, über Dinge etwas zu wissen, und daß das oft nicht ganz einfach ist.« In die konkrete Arbeit seines Instituts will sich Jan Philipp Reemtsma erst da einmischen, »wo das, was ich persönlich kann, wofür ich gut bin, eine Rolle spielt«. Das wäre dann der Fall - ein noch ungelegtes Ei -, wenn Reemtsma sich auf das lange sehnsüchtig erwartete Thema »Politisierungs- und Entpolitisierungsprozesse am Beispiel der 68er Bewegung« stürzt. Irgendwann einmal wird sich das Institut auch damit beschäftigen.

Die Festschrift, die die Institutsköpfe im Frühjahr 1984 vorstellten und die vielleicht deshalb so unbekannt ist, weil der stern am gleichen Tag die Hitler- Tagebücher der Presse kredenzte, schlägt hoffnungsvolle Töne an. Professor Helmut Dahmer etwa wünscht sich gleich, daß die Art der Beteiligung der polnischen KOR-Intellektuellen an der Solidarnosc-Gewerkschaft »in den vor uns liegenden Krisenjahren ein Modell für den nichtfatalistischen Teil unserer sozialwissenschaftlichen Intelligenzija abgeben« könnte, das im Hamburger Institut »einen Stützpunkt und ein Forum« findet.

Jakob Moneta, langjähriger Chefredakteur des Gewerkschaftsblattes Metall, fragt, ob es nicht denkbar ist, anhand täglicher Beispiele »von Betrug, Korruption, Gewalt, Verbrechen, Erniedrigung ihre gesellschaftliche Bedingtheit aufzudecken«. Vielleicht könnte das den Wunsch wecken, »zu handeln, um die Gesellschaft zu verändern« ? Denn die Wahrheit, meint Moneta, »wird erst wirksam, wenn sie Millionen ergreift und zum Handeln veranlaßt«. Diese Erkenntnis ist nun wahrlich so neu, das man glatt ein Institut dafür gründen muß.

Doch die Forscher stimmen noch einen Kanon an: »Es gibt eine Tradition aufklärenden Denkens, die begierig verdrängt und der steten Erneuerung bedarf. Sie geht davon aus, daß nichts so sein muß, wie es ist, und daß man genau wissen muß, warum gesellschaftliche Verhältnisse sind, wie sie sind, um verantwortlich, das heißt ,frei, handeln zu können.« Aufklärung ist den Gründern, man hört es mühelos heraus, wie guter Champagner: trocken - aber spritzig.

Im Hochparterre einer grünen Villa am Rande der Hamburger Universität, eingeklemmt zwischen einem Anwaltsbüro und einem Textil-Im- und -Export, hat das Institut seinen Sitz. Mit wachsender Bedeutung will man sich in späteren Jahren über das ganze Haus ausdehnen. Der Postbote füllt den schwarzen Briefkasten täglich mit neuen Förderungswünschen. Doch die Richtlinien sind streng. Nur eine Handvoll Stipendien sind bislang vergeben, unter anderem eines für Bevölkerungspolitik, ein anderes für das Studium von Bankenkonsortien. Das Institut soll kein bloßer Geldgeberverein sein; mit den fünf Millionen Mark, die Jan Philipp Reemtsma als Startkapital eingesetzt hat, wird bedächtig gehaushaltet. Zwei Millionen extra sind an ein »Feministisches Archiv und Dokumentationszentrum« in Frankfurt gegangen, die Finanzierung hat Jan Philipp Reemtsma für zehn Jahre zugesagt. Der Feminist hält die Frauenfrage für eine zentrale politische Frage - und hat deshalb fest vor, sich in die Arbeit des Frankfurter Zentrums gar nicht erst einzumischen. Der Ursprung des Gedankens ist auch hier: »Lektüre«.

 

Im Hamburger Institut bringt Jan Philipp Reemtsma ein bis zwei Tage in der Woche an einem schönen alten Kaufmannssekretär zu. Dort, zwischen den noch halbleeren Regalen, in denen vorerst an die 3000 Standardwerke verstaut wurden, kümmert er sich um die Koordination des Beirats und den organisatorischen Kleinkram. Die großen Fußstapfen, in die er sich schon durch die Namensgebung des Instituts - analog der einstigen Kaderschmiede der Frankfurter Schule - hineinbegeben hat, schrecken ihn nur wenig. Es gibt da eine Parallele: Auch das Frankfurter Vorbild wurde in den zwanziger Jahren von einem reichen Sproß, dem Kornhändlerssohn Felix Weil, gegründet. Brecht sagte damals: »Ein reicher Weizenspekulant beschließt, ein Institut zu gründen gegen das Böse in dieser Welt, was er doch selber ist.« Reemtsma sagt, er will in der Hamburger Villa keine Kopie anfertigen, das Institut werde sich nicht an Traditionen zu messen haben, sondern an dem, was es mit seinen Kräften selbst erreichen kann - er will die Frankfurter Schule nicht beerben. Geerbt hat er schon genug.

In der Fünfzimmeretage am Laufgraben 37 backen Reemtsma und die angestellte Bibliothekarin noch kleine Brötchen. Arbeitsergebnisse liegen noch nicht vor, das Institut lebt einstweilen von fremden Produktionen. In einem Gesprächskreis wird ein größeres Projekt über die politischen und psychologischen Funktionen der Folter vorbereitet. Bis Mitte nächsten Jahres will Frank Rühmann, der bisher als einziger im Institut an einem Thema sitzt, mit seinem Ein-Mann-Projekt über AIDS als sexualpolitisches Phänomen fertig sein.

Ein anderes großes Thema ist die »neue Armut« in den westeuropäischen Gesellschaften. »Dabei wird es zum einen darum gehen«, formuliert Helmut Dahmer, »das Absinken des Lebensstandards eines wachsenden Teils der abhängig Beschäftigten präzis zu erfassen, zum anderen darum, typische Reaktionsformen und Bewältigungstechniken der Pauperisten zu beschreiben.«

Die »Pauperisten« (und wer wäre nach Reemtsmaschen Vermögensdimensionen keiner?) wollen aus Hamburg aber nicht nur die Ursachen ihrer Armut erfahren, sie stehen beim Erben auch auf der Matte und wollen Geld. Reemtsma spürt das nicht nur durch die Antragsflut, die in seinem Institut eingeht, er kann es auch der Post entnehmen, die er in seinem Büro über der chicnoblen Geschäftspassage »Hamburger Hof« am Jungfernstieg öffnet. Dort wickelt er - mit weitem Blick über die Alster - den geschäftlichen Teil seiner Existenz ab. An der Tür steht »VIB« - Verwaltungsgesellschaft für industrielle Beteiligungen. Für die Bittsteller, die dort mit ihren Projekten, aber auch mit ihren persönlichen Problemen auflaufen, gibt es einen standardisierten Ablehnungsbrief.

Der Multimillionär spricht ungern über Leute, die einen Teil seines Vermögens erheischen: »Lassen wir das Thema doch«, und erstmals spürt man förmlich die Enge des höchstens zwei Quadratmeter großen Pressezimmers, durch Vorhang von der Öffentlichkeit der Buchmesse abgeteilt, in dem wir uns unterhalten. Natürlich, räumt er ein, es gibt immer wichtige Sachen - aber er findet, er macht genug. Einer inhaltlichen Diskussion über die vielen Bitten und Vorschläge mag er sich nicht stellen. Sie überfordert ihn. »Man muß irgendwo mal eine Grenze ziehen«, sagt er mit einer wegschiebenden Geste der Arme, die zugleich um Verzeihung zu bitten scheint. »Ich will mir nicht noch mehr ans Bein binden.« Der Erbe entscheidet allein über die Vergabe seiner Gelder. Da sieht er bald allenthalben nur noch Bittsteller, hinter Gesprächspartnern nur noch Jäger seines Vermögens.

 

Die Herkunft dieses Vermögens ist ein Stück Geschichte. Als Großvater Bernhard zu Beginn des Jahrhunderts seine erste Zigarettenfabrik, die »Dixi« in Erfurt, erwarb, waren seine Söhne Hermann Fürchtegott und Philipp Fürchtegott gerade in der Pubertät. Philipp zieht sich als freiwilliger Soldat im Ersten Weltkrieg, zunächst in der Infanterie, später noch einmal als Flieger, schwere Verwundungen zu. Zwischenzeitlich tritt er, kurz nach seinem Bruder, in die Firma Reemtsma ein. Beide Söhne erhalten einen 40prozentigen Anteil im Wert von je 300000 Mark. Anfang der zwanziger Jahre bauen sich die Reemtsmas auf dem ehemaligen Kasernengelände des Königlich-Preußischen Fußartillerieregiments Nr. 20 in Altona-Bahrenfeld eine neue Zigarettenfabrik. Die Familie zieht nach Hamburg.

Die Weimarer Republik bringt nur Gutes. Philipp I Fürchtegott ist der Motor des Konzerns. In wenigen Jahren kauft er die Zigarettenkonkurrenz fast vollständig auf. Firmen wie Manoli, Jasmatzi, Yenidze und Bulgaria segeln 1928 unter dem Zeichen der Reemtsmas, dem stilisierten Schiffsschnabel eines Wikingerbootes, das die »Weltaufgeschlossenheit und Zähigkeit« des Clans symbolisieren soll. Mittels hoher Millionenbeträge übernimmt die Familie dann auch die Firmen Massary, Garbaty, Batschari und Greiling.

1929 beginnt die Weltbühne, die Kaufpraktiken des schnell wachsenden Reemtsma-Imperiums zu attackieren. Auf Intervention des badischen Justizministers Trunk hatte das Deutsche Reich zuvor wegen der sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung der Zigarettenfabrik für Baden dem Reemtsma-Konzern die Steuerschuld von 14 Millionen Mark erlassen, die auf der gerade gekauften Batschari AG lasteten. Reemtsma liquidierte die Batschari AG - und kurze Zeit später nahm er die Produktion im Zeichen der Wikinger wieder auf.

Spektakulärer verlief die Inbesitznahme der Firma Greiling. Die Mehrheitsaktionäre der Firma, die Brüder Anastasiadi, machten Reemtsma Schwierigkeiten, weil sie nicht verkaufen wollten. So kaufte der damals 35jährige Philipp Fürchtegott insgeheim den 40-Prozent-Anteil des Richard Greiling, der damals, 1929, auf einen Realwert von 400000 Mark geschätzt wurde, für bare acht Millionen. Für diese Summe mußte sich Greiling verpflichten, über den Besitzwechsel zu schweigen - auch gegenüber den Mehrheitsaktionären - und als Strohmann im Vorstand der Gesellschaft zu bleiben. Greiling verpflichtete sich unter Androhung von schweren Konventionalstrafen vertraglich, den Vorstand der Greiling AG auf Anordnung von Reemtsma jederzeit zu verlassen. Seinem Teilhaber, dem Tabakgroßhändler David Schnur, teilt Reemtsma mit, er halte Greiling bei der Stange, um durch ihn die Firma von innen her auszuhöhlen. In der Greiling AG wird eine Kapitalerhöhung durchgesetzt. Sie, so schreibt Reemtsma in einem Brief, »dient dem Zweck, Anastasiadi in seiner finanziellen Bewegungsfreiheit zu schwächen« - mit Erfolg.

»Was bleibt, ist wieder jene Frage: Gab es für Reemtsma, selbst wenn sein Handeln juristisch ohne Schuld gewesen wäre, nicht eine Sekunde, in der ihm das Gewissen schlug?« fragt im Oktober 1948 die Wirtschaftszeitung, als diese Dinge in einem Verfahren gegen Reemtsma noch einmal aufgerollt werden. Der Prozeßbeobachter wird fast lyrisch: »Gab es nicht eine menschliche Scheu, dem Partner mit den Millionen auch einen Vertrag über sein geschäftliches Gebaren zu überreichen? Wo ist die innere Wahrhaftigkeit des Handelns, die auch den Schein des Unaufrichtigen scheut, wo die Sicherheit der Entscheidung, die die Grenzscheide der Moral nicht aus dem Auge läßt, wo die Klarheit, die auch das Zwielicht schon dem Dunkel verschwistert fühlt?«

Philipp Fürchtegott baute sich 1948 vor der Strafkammer 5 des Landgerichts Hamburg auf und sprach: »1933 setzte ein Kesseltreiben der Nazis gegen mich ein.« Was war geschehen ? Die Röhm-SA hatte 1933 versucht, Reemtsma zugunsten der Dresdner Zigarettenfabrik Sturm zu stutzen, wobei ihr ein Verfahren gegen Reemtsma wegen gemeinschaftlichen Betrugs, Meineids und der Anstiftung zur Untreue in der Batschari- und Greiling-Affäre zu Hilfe kam. Philipp Fürchtegott Reemtsma nahm daraufhin Kontakt mit Reichsmarschall Hermann Göring, seinem ehemaligen Fliegerkameraden, auf. Am 22. Januar 1934 einigte man sich: Göring ließ das Verfahren niederschlagen und erhielt in den folgenden Jahren bis 1944 Reemtsma-Spenden in Höhe von 12375000 Mark. Seinem Staatssekretär Paul Körner wurden jährlich 40000 Mark auf ein Sparkonto überwiesen. Zuvor, so sagte später der NS-Hoffotograf Heinrich Hoffmann aus, sei im August 1933 ein Brief Reemtsmas an Hitler auf dem Obersalzberg übergeben worden, in dem Reemtsma um Schutz vor der Sturm-Attacke bat. Nichtraucher Hitler habe, bezeugte der als Kurier eingespannte Hoffmann, den Brief an Göring mit den Worten weitergegeben: »Unterbinden Sie das, Göring. Ich will nicht, daß einer der größten deutschen Betriebe kaputtgeht und 10000 Arbeiter brotlos werden!«

Göring unterband - Reemtsma spendete Millionen »für Naturschutz und Waidwerk sowie für die Preußischen Staatstheater«. Sein Teilhaber David Schnur bekam 1934 seine Anteile ausbezahlt und wurde als Jude in die Emigration getrieben. Reemtsmas Zigaretten-Bilderdienst Altona- Bahrenfeld verbreitete unterdessen großformatige Prachtalben wie Der Staat der Arbeit und des Friedens - Ein Jahr Regierung Adolf Hitler, in die die verehrte Kundschaft Hunderte von Farbbildchen, Volk und Führer in den schönsten Posen zeigend, einkleben durfte. Nicht einzukleben brauchte der Raucher die drumherumgedruckten Erbauungstexte. Probe: »Die Saat des Führers ist aufgegangen. Das Dritte Reich ist gekommen. Von allen Türmen rufen die Glocken über alle deutschen Lande: Erntezeit! Erntezeit! -«

Es war Erntezeit: 1935 fiel ein weiterer großer Zigarettenhersteller, das Haus Neuerburg, an die zu diesem Zweck gegründete H.F. & Ph.F. Reemtsma GmbH. Im Jahr davor wurden dieser Firma, wie ein Regierungsrat später aussagte, durch eine Änderung des Tabaksteuergesetzes 22 Millionen Mark geschenkt. Vor Beginn des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1938 produzierte die Firma 30 Milliarden Zigaretten, mehr als 70 Prozent der Gesamtproduktion. Philipp Fürchtegott hatte sein Vermögen verhundertfacht: von 300000 auf 30 Millionen Mark. Er saß im Aufsichtsrat der Deutschen Bank, und Göring verschaffte ihm Hapag-Aktien im Werte von 23 Millionen Mark.

Nach dem Krieg wurde sein Vermögen auf 160 Millionen Mark geschätzt.

 

Anfang Oktober 1948 wird Philipp Fürchtegott Reemtsma in Hamburg wegen Bestechung Görings zu zehn Millionen Mark Geldstrafe verurteilt, der Staatsanwalt hatte 18 Monate Gefängnis gefordert. Besondere Heiterkeit erntet die Tatsache, daß Reemtsma seine fünfmonatige Untersuchungshaft mit fünf Millionen Mark auf die Strafe angerechnet wird. Unter dem Signum »Relator« hieß es dazu in der Welt vom 5. Oktober, seinerzeit noch nicht Springer gehörig: »Ich hätte über das Wochenende schon ein ganzes Regiment von Leuten aufstellen können, die gern für den zehnten Teil dieser Summe je einen Monat ins Gefängnis gehen würden. Nicht wenige Leute haben schon aus vorgedruckten Formularen entnehmen können, daß sie für den Staat nur 5 DM pro Gefängnistag wert sind. Allerdings waren sie nur zum Beispiel von einer fahrenden Straßenbahn abgesprungen und hatten dafür ein Strafmandat über 10 DM - ersatzweise zwei Tage Hafterhalten. . . Wenn Herr Reemtsma 8 Stunden täglich schläft, so kann er sich jeden Morgen fröhlich blinzelnd vorrechnen, daß er wiederum 11111 DM erschlafen hat. Der Vorsitzende führte im Urteil aus, Reemtsma hätte sich stets von dem Grundsatz leiten lassen, daß Geld alle Wege ebne. Ob Reemtsma in diesem Urteil eine Widerlegung seines Grundsatzes sieht?«

Für Reemtsma kommt alles noch besser. Das Hanseatische Oberlandesgericht revidiert im Juli 1949. Der nationalsozialistische Staat sei 1934 noch kein Unrechtsstaat gewesen. Göring, strafrechtlich als Beamter anzusehen, habe das Recht gehabt, Zuwendungen für Staatszwecke anzunehmen. Reichskanzler Hitler habe Göring zudem auch die Entgegennahme von Zuwendungen für private Zwecke genehmigen können. Ob für die Zahlungen Reemtsmas wirklich eine Genehmigung Hitlers vorgelegen habe, hätte das Landgericht prüfen müssen. Das Verfahren wird demzufolge wieder an das Landgericht zurückverwiesen, das es ohne weitere Verhandlung einstellt.

Schon im Herbst wird Philipp Fürchtegott Reemtsma vom Entnazifizierungsausschuß in die Gruppe der Entlasteten eingestuft. Die zwischenzeitlich in Bahrenfeld eingezogene Royal Air Force räumt die Firmenzentrale für Philipp Fürchtegott.

Da herrschte immer eitel Friede. Der Nachwuchs der Belegschaft wurde im hauseigenen Begabtenförderungswerk unterstützt, die Fünf-Tage-Woche frühzeitig eingeführt. Philipp Fürchtegotts 60. Geburtstag begingen fast 2000 Mitarbeiter in der Werkskantine in Hamburg-Wandsbek mit Karpfen aus Philipps Teichen. Bruder Hermann sprach zum Festmahl bewegende Worte, während das Geburtstagskind gemeinsam mit Frau Gertrud und dem gerade einjährigen Jan Philipp auf der »Italia« zu einer Weihnachtsreise gen Süden auslief. Er mußte sich nie stellen. »Reemtsma liebte es nicht«, hieß es sechs Jahre später im Nachruf auf Philipp Fürchtegott in der Welt, »auf persönliche Eigenschaften angesprochen zu werden. Mittelpunkt oder überhaupt Gegenstand des öffentlichen Interesses mochte er nicht sein. Öffentliche Ehrungen nahm er sichtbar verlegen entgegen.«

 

»Die Deutschen sind doch immer derselbe unveränderte Misthaufen, ganz gleich, welche Regierungsform (schließlich ist es ja auch wirklich egal, ob ein Kuhfladen rund oder ins Quadrat getreten ist: Scheiße bleibt’s immer!)«, schreibt Arno Schmidt 1956 an Alfred Andersch. Wie intensiv sich der Schriftsteller mit dem hier so kernig markierten Misthaufen auseinandergesetzt hat, ist jetzt in dem vom Haffmans Verlag herausgegebenen Schmidt-Büchlein Deutsches Elend nachzulesen. In den 13 Aufsätzen aus den Jahren 1955 bis 1963 findet sich einer mit dem Titel , »,Wahrheit’ -?“, seggt Pilatus un grifflacht.....«, in dem Arno Schmidt über die »persönlichen, ganz=speziellen Schwierigkeiten« schreibt: »Eine davon heißt eben, so schockierend es kunstsinnigen Langohren auch klingen mag: GELD! Die Einnahmen aus meinen bis jetzt zehn Büchern sind so gering, daß ich davon allein durchschnittlich einen, höchstens zwei Monate im Jahr existieren könnte; folglich muß ich- da ich weder ,Gottsucher’ zu werden, noch vom ,Primat des Arbeiter- und Bauernstandes’ zu schwärmen gedenke - in größtem Stil Brotarbeiten annehmen. «

Das ändert sich grundlegend erst zwei Jahre vor seinem Tod, als der junge Literaturstudent Jan Philipp Reemtsma, der Schmidt zuvor für den größten Schriftsteller der Nachkriegsgeschichte zu halten begonnen hatte, sich in das kleine Heidedörfchen Bargfeld im Kreise Celle begab, um den Kontakt mit dem Idol zu wagen.

Das war nicht einfach. Arno Schmidt lebte dort mit seiner Frau Alice abgekapselt von der Restwelt, er wollte mit kaum jemandem etwas zu tun haben. »Absolute Stille garantiert«, hatte Schmidt fast 20 Jahre zuvor notiert, als er schriftlich darüber nachdachte, nach Bargfeld zu ziehen- das war ausschlaggebend für die Wahl des Wohnortes. Über die Begegnung Reemtsma-Schmidt ist einiges geschrieben worden, auch die Legende vom zwischen dem Zaun durchgeschobenen Scheck, die Reemtsma einfach mies findet. In der Zeit hatte Fritz J. Raddatz eine etwas kitschige Eloge auf ihn geschrieben, Tenor: Mäzen neuen Typs. Raddatz habe sich in einem gescheiterten Versuch, wie der Erbe meint, dem einsamen Millionär publizistisch nähern wollen und gestaunt, daß der keine Allüren habe. Am meisten habe Raddatz erstaunt, so einer seiner Kollegen, daß der Millionär keine handgestrickten Herrensocken trug.

Die Begegnung mit Arno Schmidt hat Jan Philipp Reemtsma sehr viel bedeutet. Schmidt war für ihn, sagt er unumwunden, der bedeutendste Mensch, dem er in seinem Leben begegnet ist, »so einen werde ich sicher nie wieder kennenlernen«. Obwohl er dem Autor große Summen zur Verfügung stellte, ist er bis zum Tode Schmidts am Pfingstsonntag 1979 nur ein paarmal in Bargfeld gewesen. Heute sagt er mit bedauerndem Unterton, sein Idol nur selten getroffen zu haben. Er mochte den schalen Beigeschmack nicht, den solche Treffen hinterließen, »ich wollte mir nicht mit Geld den Einlaß erkaufen«.

Wenn er doch einmal bei Schmidt war, sprach man zum Beispiel über Wieland, dessen Aristipp Reemtsma noch heute zum Zwecke einer Promotion exegiert. Sein Verhältnis zum Autor beschreibt der Erbe mit den Worten »Verehrung« und »Zuneigung«. Arno Schmidt, der Zurückgezogene, hatte schon zu Lebzeiten einen Interpretationsmonopolisten ernannt: Gunnar Ortlepp vom Spiegel. Ihm vertraute Frau Alice später an, daß der Meister in Bargfeld noch einen Verehrer vorließ: »Das ist der bescheidenste, anständigste aller meiner Leser.« Arno Schmidt dixit.

 

Gemeinsam mit Alice Schmidt gründete Jan Philipp Reemtsma nach dem Tode des Schriftstellers die Arno Schmidt Stiftung. Fünf Millionen Mark Startkapital gab er dazu. Zwei Jahre nach Gründung der Stiftung starb 1983 auch Alice Schmidt. Reemtsmas Stiftung ist nun Alleinerbin an den Rechten des Gesamtwerkes. Die Stiftung, das sind Jan Philipp Reemtsma und als Mitarbeiter drei Schmidt-Kundler. Sie pflegen heute das graue Haus des Ehepaars Schmidt, die große Bibliothek des Schriftstellers, das Grab, das Grundstück, vor allem aber die Werke des Meisters.

Im Haus in Bargfeld ist heute eine Alarmanlage eingebaut. In einem davor erbauten Bungalow befinden sich die Arbeitsräume der Stiftung und eine kleine Ausstellung von Büchern, Briefen und Manuskripten (eines zum Beispiel, das Schmidt 1946 aus Papiermangel auf britisches Telegrammpapier schrieb) - vor allem einige der wahnwitzigen Zettelkästen, aus denen Arno Schmidt komponierte. Es ist kein Museumsbetrieb mit Kasse und festen Öffnungszeiten, eher schon eine kleine Kultstätte für Wissenschaftler und die Schmidt-Gemeinde.

Die Stiftung vergibt alle zwei bis drei Jahre einen »Arno Schmidt Preis«, der an Künstler und Wissenschaftler geht, die auf Arbeitsgebieten Arno Schmidts Besonderes hervorgebracht haben. Zweimal ist die mit 50000 Mark dotierte Auszeichnung schon vergeben worden: an einen früheren Übersetzer-Kompagnon von Arno Schmidt namens Hans Wollschläger und an einen Brieffreund Arno Schmidts namens Wolfgang Koeppen. Das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels zeigte sich von der Preisverleihung im Celler Schloß beeindruckt: »Und wie ich Reemtsma zuhöre, der mit der allgemeinen Unsitte der Er war unser-Laudationes abrechnet, stilvoll, unaufdringlich, gar kein Manager in höheren Sphären, da denke ich, daß es ein Segen ist, solche Männer doch auch heute noch zu haben.«

Es war ein Wiedergutmachungsversuch. Eine Woche zuvor waren im Börsenblatt andere Töne zu vernehmen gewesen: »Der junge Mann mit dem vielen Geld arbeitet an einem Olymp, dessen Trittbrettchen er gern wäre, er ist (nach dem Tod von Alice Schmidt) der alleinige Herrscher über Bargfeld nebst Inhalt, ihm allein ist es vorbehalten, Arnos Schatz- und Zettelkästen zu öffnen, die Nachlaßtexte zu edieren und -?- Arno Schmidt mehr zu schaden, als der dußligste Rezensent, der unfähigste Germanist, der taubste Verleger je vermocht hätten.«

Die scharfe Attacke hatte einen handfesten Anlaß: Sechs Wochen vor ihrem Tode hatte Alice Schmidt dem S. Fischer Verlag die Verträge gekündigt. Der Verlag, argumentierte sie, habe keine oder doch zu wenig gebundene Einzelausgaben Schmidts vorgelegt, statt dessen aber Taschenbücher auf den Markt geworfen, als die Lizenzen längst abgelaufen waren. Wirtschaftsprüfer wollen überdies festgestellt haben, daß es Differenzen in der Abrechnung des S. Fischer Verlages gegeben habe, auf deutsch, daß der Frankfurter Verlag das Ehepaar um bald 40000 Mark beschubst hatte. Der Verlag widersprach natürlich; Monika Schoeller, Chefin des Hauses und Tochter des großen Medienschluckers Georg von Holtzbrinck, mochte nicht auf einen von Reemtsma angebotenen Kompromiß eingehen, dem zufolge Fischer weiterhin die Taschenbücher und die alten Hardcover-Ausgaben hätte verkaufen können. Arno Schmidt selbst, sagte sie, habe sich bei ihrem einzigen Besuch in Bargfeld kurz vor seinem Tode stolz darüber gezeigt, bei Fischer zu sein, und die Worte gesprochen: »Und so soll es bleiben.« Das schrieb sie der Frankfurter Rundschau, deren Wolfram Schütte zuvor zum Raubdruck Arno Schmidts aufgerufen hatte.

Ernst Krawehl, der sich 1955 als erster Verleger um die Arbeit von Arno Schmidt gekümmert hatte und dann vom S. Fischer Verlag ausschließlich als Kontaktmann zu Arno Schmidt beschäftigt worden ist - sogar ihm kündigte Alice Schmidt kurz vor ihrem Tode das Vertrauen. Dem alten Herrn ist das »die unverschämteste Gemeinheit, die mir in meinem Leben überhaupt vorgekommen ist«. Als Drahtzieher hinter seinem Hinauswurf und der Vertragskündigung vermutet Krawehl den Stifter Jan Philipp Reemtsma: »Jedenfalls sind die Dinge so gelaufen, daß innerhalb der Schmidt- Verwirklichung des Reemtsma nur noch ein Fremdkörper da war: die Verträge mit Fischer.« Die ersten Schmidt- Werke, die nicht unter die umstrittenen Verträge fallen, hat die Stiftung unterdessen im Haffmans Verlag herausgebracht.

Verleger Gerd Haffmans, mit dem die Stiftung bis 1995 wohl das gesamte Werk Arno Schmidts herausgeben will, ist begeistert. Er hat alles von ihm gelesen, kennt seine Bücher schon, seitdem er als Buchhändlerlehrling auf ihn stieß. Den Mann jetzt in einem auch ansonsten sehr schönen Programm zu haben ist für ihn ein »Knaben-Morgen-Blütentraum«. Man sieht es der Bücherausstattung an, und wenn es nicht so albern klänge, könnte man bedauern, daß Schmidt das nicht mehr erlebt hat. (Dafür soll er, der seine Sachen einst wie sauer Bier anpries, in frühen Jahren den Verleger Ledig erlebt haben, wie der ihm, angetrunken, Götter, Gräber und Gelehrte entgegenstreckte und sprach: »So was müssen Sie mal schreiben!« ) Der Fischer Verlag ist für Haffmans schlicht eine »literarische Würstchenbude«, die jetzt, viel zu spät, merkt, daß sie einen Autor wie Schmidt im Sortiment braucht. Und es ist nicht zu bestreiten: Jan Philipp Reemtsma hat im ausgebuchten Literaturbetrieb wenigstens noch zwei bibliophilen Neuverlegern zur Placierung verholfen. Denn nach Haffmans unterstützt der Mäzen nun auch Franz Greno. Der startete als Verleger eben die so liebevoll edierte wie spottbillig kalkulierte Reprintausgabe von Arno Schmidts Lieblingsklassiker Christoph Martin Wieland (18000 Seiten für 148 Mark) = Jan Philipp Reemtsmas Promotionsthema.

Jan Philipp Reemtsmas bester Mann, nicht nur den Literaturkreisen unbekannt, lebt in einer ganz anderen Welt. Er ist Betriebswirt, Dr. jur., hat ein Masters Degree und zehn Jahre lang bei der US- Bank Morgan Stanley gelernt, wo in der Welt das Geld wächst und wo nicht. Bis Ende letzten Jahres hat Diethelm Höner die Vermögensverwaltung des Jan Philipp Reemtsma innegehabt, jetzt ist er selbständig und dealt in der Londoner Park Street mit dem Geld, das sein Kunde aus dem Verkauf der Anteile des Konzerns in der Hamburger Parkstraße zog.

Diethelm Höners Rho Management Company Inc. redet nicht von schönen Künsten, sondern denkt in Aktien, Unternehmensbeteiligungen, in Immobilien und in Dollar. Als Höner den Wahlkampf des Ronald Reagan beobachtete und die Berichte über den Zustand des Reemtsma- Konzerns gelesen hatte, riet er Jan Philipp zum Verkauf. Der Vollprofi mit einem Büro in London, einem in New York und vielleicht bald einem in Tokio sieht Dinge politisch anders als sein großer Kunde. Während sich in dessen Hamburger Institut Ernest Mandel mit der Weltkrise plagt, hofft Höner, daß Reagan bald das Budget kürzt und daß er die Trends richtig erkennt. Reemtsmas Geld hat Höner dank Reagonomics durch Finanzanlagen und die Kursschwankungen des Dollars in nur vier Jahren verdoppelt, auf über 600 Millionen Mark.

Darüber spricht Jan Philipp Reemtsma nicht gern. Er sagt nur dies: »Man sollte den Satz von Sein und Bewußtsein nicht so sklavisch nehmen.«

Dieser Text erschien in Ausgabe 1/1985 von Transatlantik.



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