TOM SCHIMMECKs ARCHIV
1. Mai 2009

„Eine quasi revolutionäre Situation“

Der Soziologe Ulrich Beck über die Wut in der Krise, die neoliberale Irrlehre, Gesine Schwan, Angela Merkel und das Versagen der Eliten.

von Tom Schimmeck

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err Beck, eines Ihrer Werke heißt "Weltrisikogesellschaft" – ein Begriff für Terrorgefahren, Treibhauseffekte, soziale und wirtschaftliche Umwälzungen im Weltmaßstab. Haben sie die Weltkrise so erwartet?

Ulrich Beck: Das Buch geht auf all diese Risiken, auch auf eine mögliche Wirtschaftskrise ein. Mit solch durchschlagenden Effekten allerdings habe ich trotz aller soziologischen Phantasie nicht gerechnet. Als ich das Buch 2006 schrieb, hatte man die Asienkrise, die Russlandkrise, die südamerikanische Krise ja vor Augen. Schon bei diesen regionalen Krisen konnte man die Folgen für die Ungleichheit in der Bevölkerung und die sich daraus ergebenden Konflikte sehen. Aber die Globalität der Krise war noch nicht erkennbar.

Die deutsche Regierung erwartet für 2009 ein Minus von sechs Prozent. Schon ist von möglichen Unruhe die Rede. Realistisch?

Beck: Da muss man sich ganz nüchtern soziologisch fragen: Wie legitim ist angesichts der hereinbrechenden Gefahren die gesellschaftliche Ordnung noch? Die Legitimität – das Einverständnis der Menschen mit der Ordnung – hat sich abgekoppelt von der Legalität. Das können wir am Beispiel der Banker gut beobachten. Auf der einen Seite ist der in den Banken praktizierte Leichtsinn mit den herrschenden Gesetzen nicht zu fassen. Er ist legal. Gleichzeitig ist er im Sinne von Leistung und Verantwortung auf eklatante Weise illegitim. Da herrscht eine große Diskrepanz. Dieses System hat allen Regeln gehorcht und bedroht zugleich unsere Grundlagen. Wenn eine gesellschaftliche Ordnung Teile ihrer Legitimität einbüßt, ist das soziologisch gesehen eine quasi revolutionäre Situation.

Für wie viel Empörung ist das gut?

Beck: Für sehr viel Empörung. Zumal diese latente Unterhöhlung der Gesellschaft ja von den Eliten produziert wurde und nicht von den Ausgeschlossenen. Man spürt das in allen Bereichen. Nur gibt es kein revolutionäres Subjekt. Und die deutschen Politiker aller Parteien versuchen im Wahljahr zu betäuben und Legitimität zu erzeugen, indem sie die Kurzarbeit länger finanzieren und eigentlich fällige Rentenkürzungen verhindern.

Und schon kehrt Ruhe ein?

Beck: Es bleiben zwei System-Probleme: Dass diese katastrophale Zuspitzung möglich war, ohne dass Gesetze gebrochen wurden. Und dass wir auf diese Herausforderungen bislang keine Antwort haben.

Die Regierungen mühen sich.

Beck: Da werden hektisch, mit unvorstellbaren Milliarden- und Billionensummen alle möglichen Maßnahmen getroffen, die eigentlich auf Nichtwissen beruhen. Kurios ist, dass jetzt jeder, der etwas auf sich hält, einen Weltrettungsplan in der Brusttasche trägt. Bislang aber gibt es keine Perspektive, wie dieses katastrophenanfällige System neu gestaltet werden kann – um nicht nur solche Wirtschaftskrisen, sondern auch die Klimakatastrophe und die sich national wie international zuspitzenden Ungleichheiten zu bewältigen.

Wann wird aus Unbehagen echter Zorn?

Beck: Es kann verschiedene Anlässe geben, wo dieses sich zuspitzende Legitimationsproblem zu manifestem Protest führt. Etwa, wenn die Puffer, die in Deutschland und anderswo soziale Ungleichheiten abmildern, nicht mehr funktionieren. Angenommen, wir hätten hier noch in diesem Jahr fünf Millionen Arbeitslose, dann könnten auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus sehr viel stärkere Konflikte entstehen, als wir bislang vermutet haben.

Sie sprechen vom Bürgertum?

Beck: Dem Bürgertum, den Facharbeitern, der besser gebildeten Mittelschicht. Der Gerechtigkeitsschrei ist überall hörbar. In dem Maße, indem man Banken für systemnotwendig erklärt und mit ungeheuren Beträgen eine Art Staatssozialismus für Reiche praktiziert, während Arbeitnehmer auf Hartz-IV-Sätze fallen, kommt es leicht zu entflammbaren Konflikten, die auch mit Unterstützung aus der Mitte der Gesellschaft rechnen können.

Das heißt: Der Staat, ohnehin verschuldet, wirft Unsummen in den Krater des Bankensystems und ist am Ende so bankrott, dass er soziale Mindeststandards nicht mehr bezahlen kann?

Beck: Das wäre eines der Szenarien, wo man mit Wutausbrüchen rechnen müsste.

Gleichwohl gibt es immer noch mindestens zwei deutsche Parteien, die Steuersenkungen verlangen.

Beck: Das ist ja einer der paradoxen Effekte: Gerade eine Partei wie die FDP, die den Neoliberalismus so nachdrücklich auf ihre Fahne geschrieben hat, kann auf erhöhten Zulauf rechnen. Übrigens werden auch den Universitäten und anderen gesellschaftlichen Institutionen nach wie vor neoliberale Reformen abverlangt, obwohl dieses Prinzip längst irreal und gerade weltweit zusammengebrochen ist.

Hat die Welt die Institutionen für globale Lösungen?

Beck: Nein. Es besteht eine prinzipielle Diskrepanz zwischen globalen Problemen und nationaler Politik. Alle Länder wollen den industriellen Fortschritt, die Konsummöglichkeiten, die Autos. Als Folgeproblem haben wir die Klimaveränderung, die ihrerseits wiederum die Strukturen und Institutionen infrage stellt. Aber dieses Thema wird jetzt reflektiert. Man müsste über ein internationales Rechtssystem zu Regulierungen kommen, die die Nationalstaaten überhaupt erst wider handlungsfähig machen.

Seit Ronald Reagan hat sich der Glaube an die große Deregulierung, die Entfesselung der Märkte zur herrschenden Denkungsart entwickelt. Ein Irrsinn?

Beck: Das war eine aus der Luft gegriffene, nicht nachvollziehbare, überoptimistische Selbstverherrlichung der Marktideologie. Wenn man gut 200 Jahre Gesellschaftsgeschichte des Kapitalismus in Europa betrachtet, sehen wir, dass sie voller Kämpfe, voller Krisen, voller Kriege war. Warum nun ausgerechnet die globale Freisetzung der Märkte einen Sozialismus mit anderen Mitteln – die Besserstellung aller Menschen und die Lösung aller Probleme – verwirklichen sollte, blieb das Geheimnis derer, die das so kühn behaupteten.

Wer trägt Verantwortung?

Beck: Da wird jetzt mal der eine, mal der andere an die Wand gestellt. Bisher sind es die Bankiers. Im Internet wird schon gefordert, man solle sie erschießen oder aufhängen...

Ihr Schweizer Kollege Jean Ziegler meint, die Spekulanten sollten vor ein Tribunal wie einst die Nazi-Verbrecher in Nürnberg.

Beck: Das ist eine Personalisierung, die erstaunlich naiv ist und der Situation nicht gerecht wird.

Die "neoliberale Medizin" sagen sie, wirke nicht. Was taugt die ökonomische Lehre?

Beck: Die Wirtschaftswissenschaften haben in ihrem Glauben an eine bestimmte Form der Wissenschaft – hochmathematisiert und sehr rigide in der Theoriebildung – abstrahiert von der Frage, was das eigentlich alles mit der Wirklichkeit zu tun hat. So kamen sie zu sehr komplizierten Modellen der Risikovorhersage und -kontrolle.

Und die Banker?

Beck: Die dachten sich nun: Mein Gott, das können wir beherrschen. Ich habe dagegen früh Opposition geltend gemacht. Mein Buch die "Risikogesellschaft" (1986) versucht darauf hinzuweisen, dass wir es hier, wie man im Englischen sagt, mit "manufactured uncertainties" zu tun haben: Wir produzieren systematisch gesellschaftliche Unsicherheiten, die wir mit den Instrumentarien, die wir dafür erdacht haben, mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Modellen, eben grade nicht mehr kontrollieren können. Wirtschaftswissenschaftler haben sich dieser Einsicht verweigert. Da muss man jetzt nach der Verantwortung fragen. Ich wundere mich, dass bisher nur sehr wenige den Mut aufgebracht haben, zu sagen: ‚In der Tat, auch wir sind ein sehr menschliches Unternehmen und der Irrtum ist uns näher als die Wahrheit.

Der Rest steht sauber da?

Beck: Natürlich sind in diesem zivilisatorischen Stadium letztlich alle Wissenschaften mit derselben Frage konfrontiert. Wir waren sehr erfolgreich bei der Entwicklung von Technologien – dem Internet etwa, aber auch der Atombombe. Dabei haben wir Gefahren auf die Weltordnung projiziert, für die uns weder kognitiv noch politisch Instrumente der Bewältigung zur Verfügung stehen. Auch die Soziologen haben sich ja mit wenigen Ausnahmen nicht dieser Herausforderung gestellt.

Alle sind schuld, also ist keiner schuld?

Beck: In den Wirtschaftswissenschaften fehlt es an der Einsicht, dass gerade mit der Verwissenschaftlichung die Unsicherheit wächst. Man muss hier vorsichtiger sein und eine Pluralisierung vorantreiben, um nicht auf falsche Gewissheiten zu vertrauen und solche Prozesse in Gang zu setzen.

Als die SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan neulich recht behutsam vor der Gefahr von Unruhen warnte, bekam sie reihum Ärger, sogar mit dem SPD-Kanzlerkandidaten. Ein Tabu?

Beck: Das ist in der politischen Elite tabuisiert, weil es so brisant ist. Weil alle wissen, dass es tatsächlich droht.

Andererseits gilt das Land als äußerst friedfertig. Löst der Deutsche vor der Revolte nicht doch erst die Bahnsteigkarte?

Beck: Ja, das ist zu erwarten. Möglicherweise wird er sich auch an das Verbot halten, den Rasen nicht zu betreten.

In Frankreich etwa werden Arbeiter schon deutlich rabiater als in von Schließung bedrohten deutschen Betrieben wie Opel oder Conti. Sie setzen ihre Chefs fest und randalieren.

Beck: Diese Wut wird in unterschiedlichen politischen Kulturen unterschiedlich ausgetragen. In Deutschland könnte es auch zu einem Rechtsruck kommen, indem immer mehr Menschen mit einem Rückzug ins Private reagieren und zugleich den Verheißungen einer fremdenfeindlichen Politik erliegen. Wie wir das ja auch aus Österreich kennen. Aber das ist noch nicht wirklich diagnostizierbar.

Wie sieht es in Großbritannien, ihrem zweiten Standort aus?

Beck: Dort sind Gewerkschaften schon auf die Straße gegangen mit der Forderung, italienische Arbeiter als Konkurrenten auszuschließen. Umgekehrt gibt es in Italien erhebliche Protestbewegungen innerhalb der Gewerkschaften, auch innerhalb der Regierung, gegen Ausländer – als pure Stereotype, um entsprechende Wut abzureagieren.

Keine gemeinsame europäische Wut?

Beck: Wir haben hier interessante Forschungsbefunde. Durch die europäischen Länder läuft eine gemeinsame Konfliktlinie. Auf der einen Seite diejenigen, die ihre berufliche Existenz weitgehend territorial definieren, also nur in Deutschland oder nur in Österreich beruflich tätig werden können und den staatlichen Schutz als Voraussetzung ihrer Existenzsicherung wahrnehmen. Die sind sehr defensiv eingestellt, reagieren auf rechte Parolen und fordern vom Staat, sie gegen Konkurrenten anderer Länder zu schützen. Auf der andere Seite jene, auch relativ große Gruppe, die in der Lage ist, sich grenzübergreifend neue berufliche Chancen zu eröffnen. Ich glaube ohnehin, dass dies in der Epoche der Globalisierung zu einem zentralen Statusmerkmal wird. Es wird zu einer Polarisierung kommen zwischen denen, die Globalisierung als Chance nutzen und jenen, die sich dadurch in ihrer materiellen Existenz bedroht sehen. Das ist eine Spaltung der Gesellschaft

Da wird die Heimatbindung zur Falle?

Beck: Ja. Aber es gibt auch eine Heimat, in der man Wurzeln und Flügel hat: Indem man über eine entsprechende Ausbildung verfügt, mehrere Sprachen beherrscht, andere Kulturen als Bereicherung empfindet. Einen Kosmopolitismus.

Ist ihnen unwohl?

Beck: Ja, mir ist unwohl in dieser Situation. Einmal, weil Europa ein Paradigma sein könnte, um Antworten auf diese Fragen zu bekommen. Im Grunde genommen ist diese Finanzkrise die Chance für Europa. Weil wir in Europa ein Modell haben, wo man systematisch zwischen Staaten kooperiert – nicht um die nationalen Identitäten aufzuheben, sondern um sie zu bereichern, überhaupt erst zu ermächtigen, auf diese Fragen einzugehen. Aber Europa wird nicht neu definiert. Diese Krise gilt nicht als große Chance für die Erweiterung der europäischen Kompetenz. Im Gegenteil. Es findet eine nationale Abschottung statt. Gleichzeitig werden an den Rändern Europas Staaten einer Gefahr ausgesetzt, die bisher beispiellos ist: Dem Bankrott, dem Scheitern.

Das assoziierten wir bislang eher mit Somalia.

Beck: Jetzt haben wir es im inneren Horizont Europas. Ohne dass daraus Konsequenzen gezogen würden, wie sie etwa ein Adenauer oder ein De Gaulle gezogen hätten. Die hatten noch vor Augen, dass man Krisen für Europa in Chancen ummünzen kann.

Dafür fehlt derzeit das Personal?

Beck: Ja. Gerade unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Lippenbekenntnisse für globale Antworten und eine europäische Kooperation abgibt, ist diejenige, die auf die Bremse tritt, wenn es darum geht, europäische Kompetenzen auszubauen. Genau das aber wäre aus der Erfahrung der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre notwendig: Eine gebündelte Antwort.

Ulrich Beck, 63, gilt als einer führenden Soziologen Europas. Er ist Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der London School of Economics and Political Science. Seit langem befasst er sich mit der Globalisierung. Bücher wie „Weltrisikogesellschaft“, „Risikogesellschaft“, „Riskante Freiheiten“ und die „Die Neuvermessung der Ungleichheit“ gelten als Klassiker der Soziologie.

Das Interview erschien in einer gekürzten Fassung am 4. Mai in "profil"


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