TOM SCHIMMECK
(2018)

Mehr Sauerstoff für
die Demokratie!

Wider den Ansturm autoritärer Denkmuster.

Rede bei der Tagung "Zukunft der Demokratie. Herausforderungen und gute Praxis", ausgerichtet vom Forschungsjournal Soziale Bewegungen und der Heinrich-Böll-Stiftung am 30. August 2018 in Berlin.

Sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung. Wir haben heute vier Stunden, um die Demokratie zu retten. Ich habe jetzt 15 Minuten. Drehen wir also keine Pirouetten.

Ich kann Ihnen leider keine großen Richtungsweisungen bieten, nach denen sie in diesen verwirrenden, furchteinflößenden Zeiten sicher dürsten. Dazu bin ich nicht berufen. Ich werde Ihnen auch keine Blitz-Zusammenfassung der Jubiläumsausgabe des nun 30 Jahre alten „Forschungsjournals Soziale Bewegungen“ liefern, die für diese Tagung vorliegt.

Ich kann Ihnen nur ein paar Beobachtungen liefern von einem, der sich, wie wohl gerade jeder von uns, Sorgen macht um die Demokratie, um den Frieden, um Europa. Der mehr oder weniger schlecht schläft. Der unter wachsender Irritation und Verunsicherung leidet. Und am Morgen derzeit auffällig lustlos zur Zeitung greift – oder zu irgendeinem smarten device. Weil er das Allerschlimmste befürchtet. Noch mehr Hiobsbotschaften. Mehr als er hören will und ertragen zu können glaubt. Der manchmal Angst hat.

Bruchstücke also. Ich bin bald 40 Jahre Journalist. Habe mich seit den 90ern immer wieder mit Erosionsprozessen der Demokratie beschäftigt – in Österreich, in den USA und anderswo, ein bisschen auch hierzulande. „Mit Erosionsprozessen beschäftigt“ – das klingt schon so hochtrabend. Sagen wir: Ich durfte manchmal zugucken, wenn wieder was kaputtging.

Ich will mich heute auf Gefühle konzentrieren. Weil ich glaube,  dass das Wecken von Emotionen, die Steuerung von Emotionen, die Herrschaft über die Emotion heute mehr denn je – man könne auch sagen: wieder – den Schlüssel zur Macht darstellt.

Mein erster Befund: Wir sind in der Defensive.

Dabei geht es nicht um das Quäntchen Begeisterung oder Empörung, das man braucht, um in Schwung zu kommen. Wie Kaffee. Auch nicht um irgendwelche Werbetricks. Es geht um Entgrenzung. Und die wachsende Verachtung der Politik, der Institutionen, der Medien. Um die Entgleisung der gesellschaftlichen Erzählung.

Mein erster Befund: Wir sind in der Defensive.

Wir sind eingeschüchtert, wir drohen überwältigt zu werden. Keine Figur steht imposanter dafür als der unfassbare Donald „grab-her-by-the-pussy“ Trump. Er ist der moderne Prototyp notorischer Überwältigung. Er produziert bei Anhängern wie Gegnern einen permanenten Ausnahmezustand. Selbst bei den seiner Leuchtspur des Grauens hinterherhechelnden Beobachtern, die jedem von ihm hingeworfenen Tweet analysieren, kommentieren und fact-checken. Wofür Trump sie wiederum bei jeder Gelegenheit beschimpft und beleidigt.

Er weiß, oder spürt doch zumindest, dass Hass sein Treibstoff ist, sein politisches Über-Lebenselixier. Deshalb füttert er ihn täglich. Intuitiv. Lässt es einfach raus. Das ist sein Talent. Die Twitter-Kaskaden beginnen manchmal schon um 3 Uhr früh, Ortszeit. „Das zeigt Euch“, hat Trump einmal gesagt, „das ich da sein werde, wenn es so weit ist. Wach.“

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Ist es das letzte Aufbäumen eines Typus, der uns neulich noch genauso aus der Zeit gefallen schien wie die Diktatur? Oder eine echte Wiederkehr – der bedrohlichen Männer, sich nun bedroht fühlenden Männer? Eine Wiederkehr als Farce? Von starken Kerlen mit Imponiergehabe. Die eine maskuline Nostalgie bespielen, den autoritären Reflex. Die Stärke verströmen, dabei in archaische Botschaften zurückfallen. Die versprechen, durchzugreifen, kurzen Prozess zu machen.  Eindeutigkeit suggerieren. Und sich dabei nicht scheuen, auch mal, mit nackten Oberkörper, auf einem Pferd zu posieren?

Typen wie Trump und Putin, Orban, Duterte, Erdogan, Xi Jinping sind plötzlich überall. Ich zähle sogar die islamistischen Terrorkrieger dazu. Auch wenn die eine sehr spezielle „Kultur“ retten wollen. Was beeindruckt ist deren Elan, ihre Beharrlichkeit, ihre Penetranz. Ihre Skrupellosigkeit. Ihre Fähigkeit, sich selbst an der Macht noch als Opposition zu gerieren. Und die Erzählung von der angeblichen links-liberalen Hegemonie fortzuspinnen. Von einem 68er-Establishment, dass an allen Schalthebeln steht und das Volk systematisch belügt. Von ach so allmächtigen grünen, linken, schwulen und sonstigen „politisch korrekten“ Gutmenschen, die ihre verrückte Welt-Agenda durchpeitschen. Ja, wo sind die denn?

Die Rechten haben die Gabe, den „Feind“ Tag für Tag zu einem derart übermächtigen bösen Wesen aufzublasen, dass ihnen ständig der Kamm schwillt. Zugleich halten sie sich selbst für Realisten – für Alleininhaber der Fakten, der Wahrheit. Wie schafft man es jeden Tag, vom ersten Räkeln am Morgen bis zum letzten Augenblinzeln zur Nacht, Victor Orbán zu sein? Oder gar Donald Trump? Das bleibt mir ein Rätsel.

Gestern las ich den Satz „Die männliche Retterfantasie wird leicht bösartig.“ In einem Interview der taz mit  dem Sozialpsychologen Klaus Ottomeyer, den ich sehr schätze. Ich habe mit ihm früher manchmal über Jörg Haider und den österreichischen Rechtspopulismus gesprochen. Und immer Honig daraus gesogen. Ottomeyer wurde zu den Ereignissen in Chemnitz befragt. Sprechen wir kurz darüber. Weil Sie wahrscheinlich alle twittern und facebooken und von Hashtag zu Hashtag hasten. Vielleicht kann ich Sie mit Aktuellem erreichen. Chemnitz, nur kurz:

Klaus Ottomeyer versucht sich in das Gruppengefühl dieser rechten Melange hineinzuversetzen: Es ist so ein sehr verqueres Gefühl dabei, jetzt machen wir Geschichte, jetzt nehmen wir die Dinge in die Hand, buchstäblich. Aber insgesamt ist die Gefühlslage wahrscheinlich noch problematischer.

Es geht hier auch um fortschreitende Enthemmung und Verrohung, um eine Androhung von Gewalt, die den Aufgewühlten Befriedigung verheißt. Ottomeyer spitzt es zu: Fast alle Täter, die im Auftrag irgendeiner historischen Mission zu handeln meinen, wenn sie Menschen jagen, lächeln dabei. Bei dem norwegischen Massenmörder Breivik war das so, bei den Killern in Ruanda und auch bei den Nazitruppen.

Frank Richter, Ex- Direktor der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, ergänzt in der „Süddeutschen“: In der Bevölkerung existiert ein Sockel autoritärer Denk- und Verhaltensmuster, die sich in verbaler und auch in physischer Gewalt entladen können. Richter führt diese Muster zurück auf eine wachsende soziale und ökonomische Ungleichheit zurück. Die ein wachsendes Gefühl der Einflusslosigkeit erzeugt, der Ohnmacht, des Verlustes – materiell und ideell, von Geld und Gewissheiten. Beim Verlust von Gewissheiten können wir – ich sag mal: – wir Progressiven ja auch ein Wörtchen mitreden

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Die Tiefschläge sind, gerade auch in Europa, zahlreich. Der unsägliche Heinz-Christian Strache ist jetzt Vize-Premier in Österreich, genau wie sein Freund Matteo Salvini in Italien Marine Le Pen war nah dran an der Präsidentschaft. Der Brexit ist geschehen. Die Visegrád-Staaten bilden jetzt eine Art antieuropäisches Kraftzentrum. „Orbánization“ ist schon ein Fachterminus. Experten sprechen auch vom „autokratischen Nepotismus“. Die „starken Männern“ lehren uns: Einschüchterung ist potenter als Aufklärung. Wir haben noch kein Gegenmittel gefunden.

Bei ostpol – dem sehr empfehlenswerten Osteuropa-Magazin – las ich Ende Juli diesen Blogeintrag des Budapester Korrespondenten:

Orbáns dritter Wahlsieg mit Verfassungsmehrheit hat eine beispiellose Apathie über unser Land gelegt. Man hat das Gefühl, nichts lohnt sich mehr. Aufregen? Wozu? Demonstrieren? Lass mal sein! Mit meinen Kollegen haben wir jahrelang gewarnt, aufgedeckt, entlarvt und in unzähligen Kommentaren bissig und wütend die Skandale beschrieben. Doch am Ende waren all die Lügner, Korrupten, Angeber und Zyniker doch stärker.

Dann schildert er anhand einiger aktueller Beispiele, was sich der umtriebige Orbanismus so einfallen lässt: die Schikanen gegen die Central European University – mittels einer 25 prozentigen Sondersteuer, mit der nun alle Organisationen belegt werden, die sogenannte „illegale Migration“ unterstützen. Das gesetzliche Verbot einer Existenz als Obdachloser. Das Verbot von Demonstrationen vor den Residenzen von Regierungsmitgliedern – Strafe: Bis zu zwei Jahren Haft. Es gab dagegen nicht mal mehr Protest.

Vor allem aber beschreibt er die eigene Erschöpfung angesichts des täglichen Ansturms dieser neuen „Normalität“:

„Ich muss feststellen, dass auch ich mich langsam nicht mehr empören kann. Das auch ich in Ungarn gleichgültig geworden bin. Ich habe es irgendwann aufgegeben, zu erklären, warum unsere Rechte verletzt werden, wenn die Schwächsten kriminalisiert werden, während die Mächtigsten noch mehr Schutz bekommen.“

Nach der Empörung kommt die Hoffnungslosigkeit, die Resignation, die Lähmung, die Gleichgültigkeit, die Flucht ins Private.

Wir werden zu schnell müde. Lassen uns ablenken. Und re–agieren vor allem

Ich könnte mir vorstellen, dass mir österreichischen Freunde demnächst ganz ähnlich klingende Emails schicken. Jörg Haider hat die FPÖ vor 32 Jahren rechtpopulistisch gedreht. Die Rechten dort sind erfahrene Pioniere, sie bleiben immer am Ball. Obwohl sie sich gestritten und gespalten haben, peinlichste Äußerungen und himmelschreiende Skandale produzierten, verloren sie selten ihr Ziel aus den Augen. Blieben bei ihren simplen, bösen Botschaften, mit nimmermüder Penetranz und felsenfestem Willen zur Macht. Se sind immer da. Das flößt einem fast schon Respekt ein. Sie zweifeln nicht.

Wir werden uns den Zweifel hoffentlich nie abgewöhnen oder gar verbieten. Aber, und da ist mein zweiter Befund: Wir werden zu schnell müde. Lassen uns ablenken. Und re-agieren vor allem.

Letzte Woche zum Beispiel, eine Schlagzeile über einem Bericht von Human Righs Watch: „Ungarn verweigert Asylsuchenden Nahrung“. Das hätte vor kurzen noch alarmierend geklungen. Jetzt rauscht es vorbei, erreicht auf unserer nach unten offenen Skala gesellschaftlicher Verrohung nicht mal mehr einen Mittelwert. Gewöhnung setzt ein

*

Oft ist es organisierte Desinformation und Propaganda. Vorgestern saß ich bei einem Experten für Desinformation in Brüssel. Auf seinem Computerschirm ordnete sich die Unübersichtlichkeit der Falschmeldungen zu hübschen Wolken-Grafiken. Wir sprachen darüber, dass es kein Problem mehr ist, Töne, Bilder Videos glaubhaft zu fälschen. Wobei, und das sagen mir all jene, die sich intensiv mit moderner Propaganda beschäftigen und es ist auch mein persönlicher Eindruck: Es geht meist nicht darum, die Leute etwas anderes glauben zu machen. Es geht eher darum, dass sie gar nichts mehr glauben. Außer an ihre paranoiden Instinkte.

Jedes Ereignis wird instrumentalisiert, wobei es eine nur noch untergeordnete Rolle spielt, ob es tatsächlich stattgefunden hat. Weil es ja nicht um Fakten geht, sondern um die Herrschaft über die Empfindungen. Hier trifft ein Mangel an Hoffnung – an Utopien, Lebensentwürfen, Idealen – auf sozialmedial multiplizierten Zorn. Lesen Sie die Reizwort-Kaskaden unter fast jedem beliebigen Online-Artikel oder Facebook-Post. Als hätten de Leute permanent den Finger in der Steckdose. Und suchten nur noch nach Kanälen für ihre Erregung: Für Angst, Enttäuschung, Wut. Wir verlieren die demokratische Öffentlichkeit.

Hinzu tritt ein neues, sehr diffuses rechtes Wir. Ein Wir, das sich (wieder) über Heimat und Nation definiert. Wir Sachsen. Wir Deutsche. Da ist man wer, gehört dazu. Die Fahne hoch! Der Nationalismus funktioniert hier als eine Art Schachtel der Geborgenheit. Als Stützkorsett für den verängstigten Verstand.

Zugleich werden autoritäre Sehnsüchte bedient – nach Stärke, Größe, Eindeutigkeit, nach Sinn, nach Mythen. Gegen diese  „transzendentale Obdachlosigkeit“, die Georg Lukács schon vor 100 Jahren beobachtete. Was mich fasziniert: Es sind eben nicht nur die Abgehängten, beileibe nicht. Vor der letzten Wahl in Österreich im letzten Herbst haben ich eine Gruppe Rentner in einer Kleinstadt interviewt. Den ging es gut. Sie lobten ihre Rente, ihre Lebensqualität. Sie standen auf dem Markt und tranken schon am Vormittag ein Gläschen Sekt. Doch sobald man sie auf politische Fragen ansprach, setzte ein pauschales Rundum-Granteln ein, das ohnen offenbar Befriedigung verschaffte. Die Geringschätzung des Systems, der Politik, der Politker, brach förmlich aus ihnen heraus. Es ist eine Art – Verzeihung – öffentliches Kotzen. Wie Pegida.

Neulich war ich bei den „Identitären“ in Halle, die die Suche nach Identität ja schon im Namen tragen. Da hingen viele Fahnen an der Decke. Man saß traut beim Bierchen. Im letzten Sommer schickten die Identitäten ein Schiff voller Aktivisten aus Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich ins Mittelmeer, um die Seenotretter zu stören, die Rettung ertrinkender Flüchtlinge zu verhindern. Defend Europe hieß die Aktion. Sie sollte dafür sorgen, dass – Zitat „zumindest für eine Zeitlang den NGOs das Handwerk gelegt“ wird. Für mich ist das organisierte Unmenschlichkeit.

Was mir besonders auffiel an diesen „Identitären“, wie auch an etlichen AfD-Abgeordneten, mit denen ich beim Einzug in den Bundestag sprach: Sie fühlen sich berufen, modern, auf der Höhe der Zeit.

Dabei sind sie die Anti-Moderne, bei denen traurige Geister der Vergangenheit wieder en vogue sind: Von Carl Schmitt, Ernst Jünger und all jene rückwärtsgewandten „Vordenker“, die schon unseren ersten deutschen Demokratieversuch zutiefst verachteten und mit Füßen traten.

Den Rechtspopulisten geht es nicht um eine offene Debatte, schon gar nicht um eine bessere Welt. Viele sprechen ganz offen von Kulturkrieg, und Endkampf. Ihre „völkische Rebellion“ (wie sie in einer im Forschungsjournal rezensierten Analyse bezeichnet wird) sieht die Demokratie nur als Vehikel zur Macht. Am Ende darf die Demokratie sozusagen selbst über ihren Tod abstimmen.

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Noch ein Baustein: Ich glaube, diese Verrohung kommt nicht aus dem Nichts. Sie ist auch Folge einer brutalen Aufteilung der Welt in Gewinner und Verlierer, dieses aggressiven Erfolgsmenschentums, das uns auf Werbeplakaten, im Fitnessstudio begegnet und den Hochglanz-Entwürfen von Architekten begegnet. Sie hat etwas mit der Kaltschnäuzigkeit sogenannter Eliten zu tun; dem servilen Buhlen der Politik um Investitionen der Konzerne, um Arbeitsplätze; dem Unterbietungswettbewerb der „Standorte“; der achselzuckenden Geschäftslogik dieser Welt. Der herrschende Pragmatismus ist der Feind der Utopie.

Wir haben es mit einer Vermählung von Neoliberalismus und Rechtsradikalismus zu tun. Die AfD ist dafür ein wunderbares Beispiel dafür – nicht nur, weil sie von irrlichternden Ökonomen gegründet wurde.

Selbst ein Begriff wie Freiheit ist verdorben, zu „freiheitlich“ mutiert. Den okkupierte schon Haider – und jetzt: die Lega Nord, Marine le Pen, Beatrix von Storch. Und: Auch die CSU schwenkt ein auf die „illiberale Demokratie“, hofiert den Herrn Orbán in Wildbad Kreuth. Vielleicht hat ja zumindest das bald ein Ende.

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Befund 3: Wir brauchen einen besseren Plan, eine neue Haltung, eine neue Strategie. Wir brauchen selbst ein neues Wir.

Was tun? Ich weiß es noch nicht. Ich ahne nur: Argumente werden genau so wenig reichen wie Umarmungen und Nächstenliebe. Auch Bildung, so wichtig sie ist, nicht. Mehr Wissen führt leider nicht automatisch zur mehr demokratischer Substanz.

Befund 3: Wir brauchen einen besseren Plan, eine neue Haltung, eine neue Strategie. Wir brauchen selbst ein neues Wir.

Ich bin nicht kompetent, ein tolles inhaltliches Programm zu entwerfen; zu verkünden, welche großen Themen die Progressiven, die Freunde der Demokratie ins Zentrum rücken müssten. Die soziale Spaltung, das weltweit Auseinanderdriften von Arm und Reich? Oder erstmal nur bezahlbare Mieten? Oder doch der Klimawandel? Ich denke: Zunächst müssen wir uns sammeln, verständigen, klären, was uns wichtig ist. Was zentral ist für ein gutes, demokratisches Leben aller. Wir brauchen eine attraktive und überzeugende politische Erzählung.

Nur hat sich die SPD leider noch nicht erholt vom Genossen der Bosse. Das deutsche rot-grüne Projekt war in vielerlei Hinsicht eine Enttäuschung. Selbst das Obama-Wunder in den USA war ein Fehlschlag. Er war für viele ein Hoffnungsträger – und hat doch gar nichts verändert. Obama ist nur noch eine Fußnote zwischen Bush und Trump.

Menschen laufen nicht begeistert los, sobald man nur die richtigen Parolen ruft. Wir leben in einer Ära des Nichtwissen-Wollens, der heißblütigen Ignoranz, des innigen Glaubens an „alternative Fakten“. Ich denke, wir sollten bei dem Versuch, solche Befindlichkeiten und Sehnsüchte zu begreifen, umso strenger analytisch bleiben. Und bei uns selbst für Abkühlung sorgen. Früher sagte man, ein politischer Aktivist müsse für seine Ideen „brennen“. Heute, glaube ich, müssen wir die politische Betriebstemperatur eher absenken. Die Mechanismen der Verhetzung verstehen. Mit kühlem Blick.

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Zuletzt: Sie haben uns die Sehnsucht geraubt. Wir müssen sie uns zurückholen. Und uns dabei nicht von Kampagnen-Begriffen wie „Lügenpresse“ und „Political Correctness“ einschüchtern lassen. Wir dürfen nicht in apokalyptische Angststarre verfallen, müssen das gruselnde Staunen beenden, das jeder neue Tweet der blonden Locke, jede neue rechte Provokation in uns auslösen will.

Ja sicher – die Lage ist schwierig, die Stimmung mies. Alles Linke, Grüne, im guten Sinne Liberale scheint auf dem Rückzug. Die als „Postdemokratie“ beschriebenen Rituale der Entleerung sind allenthalben sichtbar. Sich mit ihnen abzufinden, ist jedoch sicher kein Weg.

Vielleicht sind wir – ein letzter Aspekt – auch deshalb tendenziell in der Defensive, weil wir uns inzwischen in der Rolle der Konservativen wiederfinden. Wir sind die Verfassungshüter, die Bewahrer sozialer Gerechtigkeit, der Menschenrechte, der Umwelt. Während Rechte – von Alexander Gauland bis Steve Bannon – laut verkünden, das System müsse weg.

Es tut mir leid, dass ich Sie gerade derart deprimiere. Es sind nur Bruchstücke eines Befundes. Erschöpfung spendet leider keine Kraft. Die wir jetzt so dringend brauchen. Wir müssen sie zurückerlangen. Denn, das klingt jetzt ein bisschen pathetisch – es geht um viel: Um den Erhalt der Demokratie.


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