TOM SCHIMMECKs ARCHIV
1988
 

Lachs oder Fladenbrot

Tom Schimmeck über das Hamburger "Flora" und die "Yuppisierung" der Großstädte.

Im Erdgeschoß des leeren Restgemäuers, nach hinten offen wie eine Puppenstube, pendeln zwei Polizisten auf Drehstühlen gelangweilt in der Abendsonne. Plaudernd, ihre Lederjacken lässig über die Lehnen gehängt, bewachen die beiden Beamten eine riesige Sandkuhle, eine Baugrube, auf deren Grund sich Reste eines Drahtzauns, abgeknickte Verkehrsschilder, obendrauf ein verbogener Supermarkt-Einkaufswagen zu einer modernen Zufallsskulptur türmen.

Das freie Terrain, mitten im Hamburger Schanzenviertel zentrumsnah gelegen, ist hart umkämpft. Ein privater Investor, der Finanzmakler und Impresario Friedrich Kurz, will hinter der Gründerzeit-Fassade ein modernes Musical-Theater aufziehen. Den quietschgelb gestrichenen Bau, der das Warenhaus "1000 Töpfe" beherbergte, hatte er auf einem Streifzug entdeckt. "Ein Juwel", jubilierte Kurz, in einem "organisch gewachsenen Stadtteil".

Auch die Politiker waren angetan. Der inzwischen abgetretene Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und sein Vize, FDP-Kultursenator Ingo von Münch, sagten eilig Unterstützung zu. Der geschäftige Kurz plant einen Kulturpalast mit 2000 Plätzen, eines der größten Theater Europas. Dort soll, im nächsten Jahr schon, das Musical "The Phantom of the Opera" geboten werden - wie schon jetzt in Tokio, London und New York, wie demnächst in Wien, Toronto und Los Angeles.

"Ein Glücksfall", fanden die beiden adligen Bürgermeister, denen der wendige Musicalmacher schon länger zur Freude gereicht. Seit 1986 läßt Kurz im Operettenhaus auf der Reeperbahn das Musical "Cats" abspielen. Über eine Million Zuschauer, meist von weither, haben das Katzenspektakel gegen üppiges Entgelt schon beguckt. Das könne, meint Kurz, "bestimmt noch vier, fünf Jahre" so weitergehen.

Doch was den Regierungschefs als glückliche Fügung erschien - Kultursenator von Münch war "high und happy" -, entwickelt sich seit Monaten zum Politdesaster. Ein tragikomisches Theater ums Theater, teils Klamauk, teils Klassenkampf, treibt bizarre Blüten. Tag und Nacht wird der Bauplatz von Polizeikräften bewacht, Dohnanyi-Nachfolger Henning Voscherau (SPD) wird von aufgebrachten Hanseaten als "Lügner" beschimpft, die sozialliberale Koalition ist gestreßt.

Seit dem 21. April, 13.20 Uhr, als das alte Gebäude bis auf die Vorderfront geschleift wurde, rütteln Straßenkämpfer am Bauzaun von "Klein-Wackersdorf". Mit Flugblättern und Feten, aber auch mit Farbeiern, Flaschen und Feuerwerkskörpern streiten die Kurz-Gegner gegen eine "Giganto-Kommerzkultur in Betonleichtbauweise". Das Baugelände wurde besetzt, ein Hüttendörfchen errichtet, eine Bombenattrappe deponiert. "Jeder Stein, der abgerissen wird", erklärten militante Viertel-Verteidiger, "wird zurückgeschmissen."

Falls nötig, drohte SPD-Innensenator Werner Hackmann, werde das Musicalhaus "vom ersten Spatenstich bis zur Premiere" abgeriegelt; "die Republik, die Demokratie, der Rechtsstaat", fand auch Senatschef Voscherau, müßten "bei besonderen Lagen besonders engagiert verteidigt werden".

"Die Republik, die Demokratie, der Rechtsstaat müssen bei besonderen Lagen besonders engagiert verteidigt werden"

"Es geht ja nicht um den Bau eines Atomkraftwerks", suchte Kultursenator von Münch zu beschwichtigen, das umkämpfte Gebäude werde lediglich "seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt". Tatsächlich hatten sich auf dem Gelände schon im letzten Jahrhundert Schaulustige an Turnseil-Künstlern und pyrotechnischen Darbietungen der "neuesten vulcanischen Katastrophe" ergötzt. Tausende kamen ins 1888 errichtete "Concerthaus Flora", wo Musik, Theater und Variete geboten wurden. Die Don-Kosaken brummten hier, Claire Waldoff trällerte, auch Zarah Leander und Hans Albers gaben sich die Ehre. Schon 1921 lautete der Titel einer Flora-Revue: "In Hamburg ist der Teufel los."

Bei den Flora-Gegnern werde "ein Verständnis von Stadt deutlich, das mir ganz, ganz unheimlich ist", erregt sich Hamburgs Oberbaudirektor Egbert Kossak, die "Bilderstürmerei" erscheint ihm "stink-spießig konservativ gedacht". Die oft diffuse Furcht vorm Wandel des heimischen Stadtteils hat dennoch reale Ursachen. Die sich herausputzenden Großstädte wirken anziehend auf Gutsituierte, die wieder in die Zentren drängen, seit dort Ästhetik und Erlebnis geboten werden. Das Geld, das in die Städte strömt, macht Wohnen teuer.

In München, Paradebeispiel einer attraktiven Stadt, frißt die Miete in der Regel das halbe Monatseinkommen. Gleichwohl sind Luxuswohnungen knapp. Von den 1,3 Millionen Einwohnern sind nur knapp ein Viertel noch gebürtige Münchner.

Ehemalige Arbeiterviertel wie München-Haidhausen oder Frankfurt-Bockenheim locken mit gehobenen Kultur- und Shoppingangeboten stadtlustige Newcomer. Selbst in Nordrhein-Westfalen, wo weit weniger Andrang herrscht, ist der Trend spürbar. In Köln-Mülheim hat das Land Häuser aufgekauft, in anderen Städten ganze Arbeitersiedlungen, um sie, so der NRW-Stadtplaner Karl Ganser, dem "faulen Zauber der Weltstädter" zu entreißen.

Auch im Ausland dominiert der ungehemmte Wandel. Mit Milliardenaufwand wird das Londoner East End umgekrempelt, in Paris macht sich rund um die Bastille neuer Chic breit, Amsterdam betreibt massiven Hausputz. Japanische Investoren wollen sogar im New Yorker Schwarzen-Getto Harlem 400 Millionen Dollar einsetzen, um ein nagelneues Kultur- und Wohnzentrum zu errichten.

Da soll auch Hamburg, Deutschlands "Hoch im Norden" (Werbeslogan), nicht abseits stehen. Die "Metropole", weiß der Freidemokrat von Münch, braucht zur Image-Aufpäppelung "möglichst viel Kultur". Der "Standort Hamburg" (von Dohnanyi) will mit schmuckem Stadtbild, weltoffenem Ruf und internationaler Kunst im Wettstreit der Städte bestehen. In Auslandsrepräsentanzen von New York bis Peking mühen sich Experten für "Standort-Marketing", Firmen in den siechen Stadtstaat zu locken.

Ein Investor wie Friedrich Kurz ("Ich möchte Hamburg attraktiver machen") kommt gerade recht. Der Schwabe aus Nürtingen am Neckar, der, Klischee des Aufstiegs, in den USA als Tellerwäscher begonnen haben will, sammelt von London aus risikofreudige Anleger, um Musicals aufwendig in Szene zu setzen. "Das ist eine Industrie", schwärmt Kurz, "das wird sich entwickeln."

"Das ist eine Industrie,
das wird sich entwickeln."

Von seinem Hamburger "Cats"-Debüt profitieren mittlerweile nicht nur die Investoren, die üppige Renditen einstreichen. Auch die Hamburger Tourismus-Profis sind mit der Katzenmusik hochzufrieden. Das Tanzstück des Kurz-Freundes Andrew Lloyd Webber("Jesus Christ Superstar") hat den Hamburg-Tourismus so "spürbar befruchtet", daß die Stadt seit vergangenem Jahr in der bundesdeutschen Reisehitliste auf Platz eins steht. Cats-Gucker kommen mit dem "Cats-Express" selbst aus Zürich, werden von zahlreichen Reiseveranstaltern mit allerlei Paketangeboten ("Happy Hamburg") umworben. "Cats ist unser Vehikel", freut sich die "Hamburg Information", "mit Cats fängt man Mäuse."

Seit Juni dieses Jahres soll es mit einer zweiten Kurz-Produktion, dem Webber-Werk "Starlight Express", nun auch in Bochum rummeln. Für 24,5 Millionen Mark hat die Stadt eine neue Halle hingestellt, um erlebnishungrige Besucher ins Ruhrgebiet zu locken. Der Impresario lobt im Gegenzug den "hohen Einsatz" der "positiv eingestellten" Bochumer Politspitze, die das Abenteuer, so Kurz, "eindeutig unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftsförderung" eingegangen sei. Zuvor war Kurz im Frühjahr am New Yorker Broadway mit dem Musical "Carrie" gescheitert - ein Megaflop, der angeblich 7,5 Millionen Dollar kostete. Kurz: "Das haut mich nicht um."

Mit der bundesdeutschen Theaterszene allerdings hat es sich Kulturkapitalist Kurz wuchtig verdorben: "Die System-Idioten" vom Subventionstheater dürften nicht länger allein über den Publikumsgeschmack bestimmen, donnerte Kurz, "das ist Faschismus". Bochums Schauspielintendant Frank-Patrick Steckel bescheinigte ihm postwendend, Kurz organisiere "den Vormarsch von McDonald''s auf dem Kultursektor".

Der Kulturmanager, der sich als Wohlstandsbringer fühlt, ist beleidigt, seit in Hamburg Widerworte gegen sein Flora-Projekt laut werden. "Warum haben wir Deutschland überhaupt aufgebaut?" fragt der 39jährige Impresario. "Ich möchte Leute in die Stadt bringen, ich bring'' dazu Geld, ich bring'' Arbeitsplätze", ärgert sich Kurz, "wer dagegen ist, hat in der Gesellschaft keinen Platz."

Seine Gegner im "Chancenviertel" (von Münch), die das durch Abriß frei gewordene Gelände in einen "Kurz-Gedächtnis-Park" umwidmen möchten, fürchten den Theater-"Koloß" als ersten Anziehungspunkt einer "Blechsintflut", die zahlungskräftige Kundschaft ins Quartier schwemmt. "Steigende Preise und Mieten", sagen die Stadtteilinitiativen, seien die Folge, letztlich dann die "Vertreibung der ärmeren Leute".

"Theater", kontert Kurz, "hat noch nie zu höheren Mieten geführt." Doch in einem vertraulichen Papier für Flora-Investoren, zu denen neben Privatleuten auch vier Banken zählen, machen die Kurz-Experten die Teilnahme am Musical-Gewinnspiel mit dem Hinweis schmackhaft, daß das Theater "in einem aufstrebenden Bezirk mit Kleinstbetrieben, Werkstätten und Wohnhäusern liegt, den die Stadt Hamburg in ihr Sanierungsprogramm einbezogen hat". Dank Flora, so das Papier, darf "der Zuzug anderer kommerzieller Unternehmen" und "eine günstige Entwicklung des Grundstückswertes in diesem Teil der Stadt" erwartet werden.

Bislang bevölkern Punks und Proleten, Alte und Ausländer den Stadtteil. Eine Fülle kleiner Läden, billige Restaurants vielerlei Nationalitäten ziehen auch Besucher aus der Umgebung an.

Punks, Proleten und Poeten

"Hier kochte sowieso schon einiges", meint Eldo Hell, ein Sprecher der im Juni gegründeten Anwohnerinitiative. Die Herrichtung des von der Stadt vernachlässigten Gebiets war über Jahre hinweg nur lustlos angepackt worden. Teile des angrenzenden Schlachthofs stehen zur Disposition, die traditionsreiche Firma Montblanc ist unlängst fortgezogen. Eine Gewürzfabrik, jahrzehntelang unüberriechbar, will demnächst ebenfalls schließen. Durch Flora, sagt Hell, "beginnt sich das Viertel zu spalten".

Der Protest gegen Flora beschränkte sich anfangs auf die jugendliche, im Stadtteil fest verankerte Subkultur, die lokalpatriotische Töne anschlug: "Was unser Viertel ist, bestimmen wir." Selbst die alternative "taz" lästerte zunächst über die "Schanzenkrieger", die als "Truppen der edlen Einfalt" rund um Flora "einen erneuten Endschlag gegen das imperialistische Mördersystem" probten. Geschäftsleute freuten sich derweil auf wachsende Kundschaft.

Furioses Mißmanagement aber sorgte schnell dafür, auch das Bürgertum auf die Barrikaden zu treiben. Bauarbeiter ließen auf dem Gelände - ungenehmigt - eine hundert Jahre alte Linde zu Boden rauschen, die Anwohner gerieten in Zorn. Kommunalpolitiker warnten vor Verkehrsproblemen, doch der Kultursenator hatte seinem Kollegen vom Bauressort bereits eine drastische Reduzierung der erforderlichen Parkplätze für das Großtheater abgebettelt, den Verzicht auf die der Stadt zustehende Ablösesumme von fünf Millionen Mark inbegriffen. "Geradezu tragisch" fand Senator von Münch die Vorstellung, daß "das gut begonnene Projekt nunmehr an der Stellplatz-Problematik scheitern sollte".

Kaum begannen die Anwohner sich zu organisieren, bot Florist Kurz eine Viertelmillion Mark für Spielplätze im Viertel. Hastig zog die Stadtstaat-Regierung die gesamte Entscheidungskompetenz an sich. Der neue Bürgermeister fand, nun müßten "Schularbeiten" gemacht werden, und versprach der Bevölkerung umfassende Information und Räume für ein lange gefordertes Stadtteilzentrum. Flora, dachte Bürgermeister Voscherau, sei "jetzt auf gutem Wege".

Doch der Befriedungsversuch ging gründlich daneben. Anfang letzten Monats verbürgte sich der Hamburger Senat, "niemand, keine Bewohnerin, kein Bewohner, keine Geschäftsfrau, kein Geschäftsmann" werde wegen des Musicaltheaters "aus dem Schanzenviertel ''heraussaniert''". Zeitgleich wurde bekannt, daß für Parkflächen hinter dem Theater über ein Dutzend Betriebe - Tankstellen und Autohändler, ein Bäcker, ein Restaurant und eine Jugendwerkstatt - von Staats wegen gekündigt werden.

Da trat auch die Geschäftswelt - vom Apotheker bis zur Zeitungshändlerin - gegen Flora an. Ein Möbelhändler verspürte "große Lust, eine Bombe zu legen". "Keiner von uns", erklärte der geballte Mittelstand, "geht für einen Herrn Kurz."

Ein Möbelhändler verspürte
"große Lust, eine Bombe zu legen"

Mit ruppigen Methoden ("Wenn Sie Schwierigkeiten machen, bekommen Sie gar nichts!") und der ungelenken Ausrede, die betroffenen Betriebe gehörten, weil hinter einer Bahnlinie gelegen, gar nicht mehr zum Viertel, schlitterte der Senat immer tiefer in den Konflikt.

Wieder einmal erlag die Hamburger Regierung ihrem Hang, "Probleme zu verstaatlichen", spottet ein führender Genosse. Beim hektischen Versuch, Entschlossenheit zu demonstrieren, machten sich die Senatoren zu Schildbürger-Häuptlingen. Der Zaun ums Flora-Karree, im Verlauf der nächtlichen Scharmützel längst umgelegt, sollte durch einen robusteren Schutzwall ersetzt werden. Riesige Stahlträger wurden tief ins Straßenpflaster eingelassen. Doch eine anliegende Firma konnte ihre Fahrzeuge wegen Platzmangels nun nicht mehr wenden - der Zaun blieb unfertig. Beim Absenken der Stahlträger wurde zudem die Kanalisation zertrümmert. Aufwendige Reparaturarbeiten sind vonnöten.

"Kultur mit dem Kopf durch die Wand geht nicht", erklärte die nachdenklich gewordene SPD-Landesvorsitzende Traute Müller, und selbst Henning Voscherau mühte sich hinter den Kulissen, die Kurz-Gruppe für einen anderen Standort in der Stadt zu gewinnen. Der SPD-Vorstand schaltete sich Ende August mit einem kernigen Sowohl-als-Auch in die Debatte ein: Die Theater-Pläne seien wohl "eher zu groß dimensioniert", der Stadt jedoch die Hände gebunden. "Diese 88er Müller-Voscherau Schanzenspätlese", ätzte das Wochenblatt "Hamburger Rundschau", "bringt selbst standhafte SPD-Genießer zum Kotzen."

Längst ist die Musicalfabrik nur mehr der Aufhänger für eine schärfer werdende Debatte über die "Yuppisierung" Hamburger Altbauviertel. Stadtteilinitiativler zeichnen das Schreckensbild einer Horde junger zahlungskräftiger Erfolgsmenschen in Designer-Klamotten, die, Drinks schlürfend, ständig nach schicken Luxusgütern Ausschau halten.

Allmählich, aber unaufhaltsam, sagen die alternativen Mahner, würden ganze Bezirke einer "Schickimickisierung" anheimfallen. Der Effekt: höhere Mieten, neue Läden, Kneipen und Restaurants, die den gehobenen Ansprüchen der Einwanderer genügen können - mit gravierenden Folgen für die Sozialstruktur des befallenen Stadtteils.

"Der Kern der Befürchtungen ist real", bestätigt Walter Seeler, Sanierungsbeauftragter im Hamburger Bezirk Altona. Verdrängung vollziehe sich in Stadtteilen wie dem Schanzenviertel allenfalls langsamer, weil "Punks, Arbeitslose und Ausländer in reichlichem Maße vorhanden sind". Doch das Musicalhaus, prophezeit Seeler, "wird für lange, lange Zeit ein Fremdkörper bleiben".

Magrete Wulf, in Ingo von Münchs Kulturbehörde für die Stadtteilkultur verantwortlich, wendet sich gegen die "aggressive Nutzung" zum Nachteil der Anwohner. Die Hamburger Stadtteilkultur versuche, so Magrete Wulf, das Angebot auf die Tendenz des Stadtteils - "Lachs oder Fladenbrot" - abzustimmen. "Standortkultur" a la Flora nehme auf die Bedürfnisse der alteingesessenen Mieter keine Rücksicht.

Stadtsoziologen haben das Phänomen auf einen Begriff gebracht: "Gentrification". Akteure dieses Wandlungsprozesses, die "Gentrifier", haben amerikanische Forscher schon vor langer Zeit ausgemacht: kinderlose junge Paare, vor allem aber die wachsende Zahl der Singles, die in attraktive Bezirke vordrängen, stets auf der Suche nach einem adäquaten Lebensumfeld für ihre ausgeprägten Kultur- und Konsumbedürfnisse.

Auch bundesdeutsche Wissenschaftler beschäftigen sich seit einigen Jahren mit den neuen Städtern. In Metropolen, wo "Mode, Kultur, Banken und High-Tech prosperieren", schreiben die Stadtsoziologen Hartmut Häußermann und Walter Siebel, tragen die erfolgreichen Yuppies gemeinsam mit den Alternativen die "Reurbanisierung". Das vereinfachte Schema: Zunächst tritt die alternative Szene mit Intellekt und Kreativität an, um sich eine passende Infrastruktur mit Läden, Kneipen und Kulturangeboten herzurichten. Auf dem Nährboden der Alternativen entwickelt sich später dann, so das Autorenpaar, "ihr Erfolgszwilling, die Yuppie-Kultur".

"Die Trumpfkarte" unter den städtischen Standortfaktoren, sagen die beiden Soziologen, "ist die Kultur" - für diesen Zweck werde überall trotz Geldknappheit investiert. Mit Kulturangeboten soll die Anziehungskraft für hochqualifizierte Arbeitskräfte, moderne Betriebe und auswärtige Besucher gesteigert werden: "Es ist ein Angebot weniger für die, die bereits am Ort wohnen, als für jene, die noch kommen sollen."

Das Zusammenwirken der Yuppies und Alternativen bei der Veränderung des Stadtviertels haben auch die Hamburger Soziologen Jürgen Friedrichs und Jens Dangschat beobachtet. Ihre empirische Untersuchung über "Gentrification in der inneren Stadt von Hamburg", die erste in der Bundesrepublik, zeigt den Einfluß von Modernisierungen, Miethöhe und Infrastruktur auf die Zusammensetzung der Stadtbevölkerung.

"Gentrification in der inneren Stadt"

Konkrete Anzeichen einer Gentrification-Entwicklung macht auch Tobias Behrens, Geschäftsführer des Stadtteilzentrums "Motte", in seinem bislang bunt durchmischten Stadtteil Ottensen aus. Die Ladenmieten, berichtet Behrens, seien so abrupt gestiegen, daß es ihm seit Monaten nicht gelinge, Räume für einen dringend benötigten Kinderladen anzumieten. Die ersten türkischen Familien wanderten wegen steigender Mieten in ärmere Viertel ab. "Aus jeder Hundehütte", sagt der Stadtteilkenner, "wird ein Appartement gemacht."

Einen Auslöser für die "Ladengründerzeit", durch die Bilderrahmen-Shops, Läden für Naturkosmetik und moderne Plattengeschäfte verstärkt vordringen, sieht Behrens im "Filmhaus", einem rasch wachsenden Zentrum von Filmschaffenden, das vor einigen Jahren im Stadtteil gegründet wurde. Gleich gegenüber entstand später ein "Medienhaus", zwei schicke, schnell gutbesuchte Restaurants eröffneten. Die Veränderung, sagt Behrens, geschah "schnell und explosionsartig": Ein Treffpunkt für schnittige Großstadtmenschen erblühte, die Fußwege sind abends mit Fahrzeugen der gehobenen Mittelklasse zugeparkt.

Auf der anderen Seite, so Behrens, würden "starke Verelendungstendenzen" spürbar. Jugendbanden verschafften sich über Kleinkriminalität Geld, das sie nicht mehr in die Spielhallen trügen, sondern oft in Drogen anlegten. Im kommenden Monat soll dieser "Ottensen-Effekt" der Veredelung und Verelendung erstmals im Stadtteilzentrum öffentlich diskutiert werden.

Anderswo hat dieser Konflikt schon handfeste Folgen gezeitigt. Als im Kiez von Berlin-Kreuzberg neue Lokale und Läden eröffneten, reagierten Teile der ortsansässigen Szene äußerst unwirsch. Kneipiers und Ladenbesitzer erfuhren im vergangenen Jahr aus einem Flugblatt: "Wer von diesen Leuten keine Abgaben zahlt, fliegt hier raus." Die Gruppe "Kübel" goß in ein "Nobelfeinschmecker-Restaurant" schließlich "15 Liter edelwürzige Scheiße/Pisse" - der Laden machte dicht.

In Paris machen sich mittellose Minderjährige an schicke Altersgenossen ran, um ihnen unter Androhung unmittelbaren Zwangs ihre Markenbekleidung abzunehmen. Das Modemagazin "Elle" riet den Wohlbetuchten: "Geht nicht wie kleine Prinzen auf die Straße."

In Großbritannien dröhnt den Yuppies, die "wie ein Heuschreckenschwarm" in Arbeiterviertel einfallen, "Rock Against The Rich" entgegen. Fensterscheiben von neuen Luxuswohnungen im Londoner East End wurden mit Baumsetzlingen eingeworfen. Parole der Gruppe "Class War": "Feine Pinkel, verpißt euch."

"Feine Pinkel, verpißt euch."

Seit einigen Wochen ist auch in Hamburg-Ottensen der Kulturkampf ausgebrochen. Eine Gruppe "Rote Bohra" frohlockte, nachdem Scheiben der "Schickikneipen" am Filmhaus zu Bruch gegangen waren, in einer Kommandoerklärung: "Was im Schanzenviertel knallt, macht auch in Ottensen nicht halt." Am vorletzten Wochenende eröffneten 300 Unzufriedene im Edellokal "Eisenstein" kurzerhand eine "Volxküche", futterten im "Leopold" in einer Art gemeinschaftlichem Mundraub der zahlenden Klientel das Menü vom Tisch. Zum Dessert wurde Randale gereicht.

Der Wirt, der die ungebetenen Gäste mit Freibier milde zu stimmen suchte, erklärte zur allgemeinen Verblüffung, er habe nur eine "nette Kneipe" eröffnen wollen, ihm sei "auch kotzübel geworden, als dann die Typen mit den Porsches vorfuhren".

Anmerkung: Der Text erschien im Spiegel 36/1988. Bei der Heftkritik echauffierte sich zu meiner Überraschung vor allem das Auslandsressort. Warum nur? Bald stellte sich heraus, dass der Ressortleiter zu den Stammgästen des "Leopold" zählte. Ob er Porsche fuhr, ist mir entfallen.


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