Täter, Opfer,
Messias
Sektenführer Louis Farrakhan schürt
den schwarzen Zorn. Wollte eine Tochter von Malcolm X ihn umbringen lassen?
1995
von Tom Schimmeck
Der alte Verdacht kam immer wieder hoch: Hatte
der zornige Prediger vor 30 Jahren bei der Ermordung des schwarzen Führers
die Finger im Spiel? Hat er mehr getan, als die Täter anzustacheln,
zu schreiben, der Gegner sei „den Tod wert“?
Der Prediger ist Louis Farrakhan, ein enfant terrible des amerikanischen
Polit-Showgeschäfts. Die physische Erscheinung – Anzug, weißes
Hemd, Fliege – ist stets makellos. Um so deftiger die Sprache: Weißen,
Schwulen, Juden schenkt er, lächelnd, seinen ganzen Haß.
Der ermordete Führer hieß Malcolm X. Vor 40 Jahren begegnete
ihm Farrakhan alias Louis Eugene Wolcott, damals Calypso- und Country-Sänger,
der sich in Bostoner Nachtclubs sein Brot verdiente. Malcolm X erkor den
Entertainer zum Assistenten. So wurde er zu Louis X, Prediger der Nation
of Islam.
Sie blieben nicht ewig Brüder. Malcolm X fand heraus, daß
der Verkünder der Nation, Elijah Muhammad, sein Sekretariat in eine
Art Harem verwandelt hatte, aus dem ein ganzer Schwung Kinder hervorgegangen
war. Er brach mit dem geistigen Oberhaupt und ging. Zögling Louis
X, nun Farrakhan genannt, füllte die Lücke und kippte im Organ
der Sekte den Jauchekübel über dem Abtrünnigen aus. „Manche
Passagen“, sagt Larry Mamiya, Wissenschaftler am New Yorker Vassar College,
„lesen sich wie ein verschleierter Tötungsbefehl.“ Im Februar 1965
wurde Malcolm X erschossen, seine Frau und vier Töchter sahen zu.
Nun, drei Jahrzehnte später, ist eine der Töchter, Qubilah
Bahiyah Shabazz (34), der versuchten Rache angeklagt. Das FBI will ermittelt
haben, daß sie Michael Fitzpatrick, einen ehemaligen Schulkameraden,
über sieben Monate hinweg bearbeitete, Farrakhan zu töten, ihm
dafür sogar eine erste Rate zahlte. Am 12. Januar wurde sie in Minneapolis
verhaftet. Ende März soll der Prozeß beginnen. Sie beteuert
ihre Unschuld.
Der von ihr angeblich gedungene Killer wirft lange Schatten: Mit 17
wurde er wegen eines Bombenattentats angeklagt, soll hernach lange Jahre
als FBI-Informant gedient haben, ein Kokainabhängiger, der in linken
Gruppen den agent provocateur spielte. Wurde er auf sie angesetzt? Beim
Abhören von Shabazz und Fitzpatrick, berichtet die „Minneapolis Star
Tribune“, hätten die Fahnder vor allem Fitzpatrick reden hören.
Für den Mord an Malcolm X wurden drei Anhänger der Nation
of Islam verurteilt, die Führer wiesen alle Verantwortung von sich.
Farrakhan war nie bereit, ein böses Wort von einst zurückzunehmen
– auch wenn er vor Jahren einräumte, er habe „vielleicht ein Klima
geschaffen, das zu seinem Tod beigetragen hat“. Heute schmückt er
sich mit seinem Entdecker: „Malcolm war der Vater, den ich nie hatte, der
große Bruder, den ich nie hatte.“
Er erkannte flink, wie trefflich sich die Anklage in seine Propaganda
fügt. Die arme schwarze Schwester Qubilah, verkündete der Prediger
Mitte Januar in seiner Chikagoer Moschee vor 2000 Zuhörern, sei nur
das „Werkzeug eines diabolischen Komplotts“, „mißbraucht von der
US-Regierung“, um „Louis Farrakhan zu zerstören“ und so den „Aufstieg
eines schwarzen Messias zu verhindern“.
Es ist eine gute Zeit für Verschwörungstheorien, vor allem
bei Schwarzen, die sich vom amerikanischen Traum betrogen fühlen:
In ihren Augen wurde Aids von weißen Wissenschaftlern entwickelt,
um sie zu dezimieren, auch O. J. Simpson ist Opfer einer weißen Intrige.
Die öffentliche Meinung gerät in Rage, wenn sie Farrakhans Namen
hört. Seine Marktlücke ist das Elend: In manchem Schwarzen-Ghetto
der modernden US-Metropolen hat sich die Nation als Insel im Sumpf etabliert.
Sie gibt strikte Regeln vor, predigt jungen Desperados Disziplin. Farrakhans
Moscheen achten auf Ordnung, Sauberkeit und Würde, auch auf Respekt
gegenüber weiblichen Mitgliedern. Ihre Botschaft: Stoppt das Morden,
schmeißt die Drogen weg, krempelt die Ärmel hoch, seid stolz.
Das Produkt: Farrakhans Forces of Islam, Boys mit dunklem Anzug und
Querbinder, cool und kantig wie nach einer Gehirnwäsche. Ihr Einsatz
in den „Mayfair Mansions“, einem verkommenen Washingtoner Wohnblock, den
sie von Killern und Dealern befreiten, machte Furore. Heute vermieten Subunternehmen
der Nation die islamischen Garden als Beschützer von Wohnhäusern
und Baustellen an Privatleute und den Staat. Republikaner Bob Dole attackierte
unlängst die US-Regierung, sie lasse Sozialbauten in Baltimore, Chikago,
Philadelphia, Cleveland und Pittsburgh für 20 bis 30 Millionen Dollar
im Jahr von Farrakhan-Firmen bewachen.
Als letztes Aufgebot gegen Gewalt und Verfall genießt die Sekte
selbst unter Zweiflern vorsichtigen Respekt. Bei einer „Time“-Umfrage nach
dem populärsten schwarzen Führer belegte Farrakhan voriges Jahr
nach Jesse Jackson den zweiten Platz. Steven Barboza, ein Islam-Experte
in den USA, schätzt die Zahl der Nation-Mitglieder auf 60 000, die
der Anhänger auf ein vielfaches. Farrakhans Predigten kommen über
viele Radio- und Fernsehsender. Zu seinen Live-Auftritten drängen
sich Zehntausende.
Die Show ist sehenswert. Wenn der talentierte Massenpsychologe sich
an die „Brüder, Brüder, Brüder“ wendet, grunzt er mit Reibeisenstimme,
ein Meister der Scheinlogik, der die Seelen der Zuhörer peitscht und
knetet. Dann stöhnt das Volk „Ja! Richtig!“, „Farrakhan!“ oder gleich
„Allahukbar!“
Nur mit dem Islam hat die Heilslehre wenig gemein. Gründervater
Elijah Muhammad, der Allah persönlich getroffen haben will, lehrte,
daß der Originalmensch schwarz ist, die Weißen erst später
von einem irren schwarzen Forscher namens Yakub zusammengemixt wurden.
Vor der kommenden Apokalypse würden rechtschaffene Schwarze von Ufos
in ein großes Mutterschiff gerettet, geformt wie ein Wagenrad, irgendwo
draußen im All.
Den Zorn der Gefolgschaft lenkt die Sekte auf einen altbewährten
Hauptfeind: die Juden. Khalid Abdul Muhammad, Farrakhans nationaler Sprecher,
versuchte schwarzen Studenten mit „theologischem Gangsta Rap“ (die New
Yorker „Village Voice“) einzuheizen. Juden, hörten sie an der Howard
University, seien verantwortlich für die Sklaverei, heute würden
sie Schwarze bespitzeln, die Medien, die Unterhaltungsindustrie und die
Federal Reserve Bank kontrollieren. Furchtbarer noch als die Botschaft
waren die Reaktionen. Jedesmal, wenn ein neues jüdisches „Verbrechen“
angeprangert wurde, brüllte das Publikum: „Juden!“ Am Kean College
in Union redete der Nation-Sprecher von „hakennasigen“ Juden, die „schwarzes
Blut saugen“. Er zeigte Mitgefühl für Hitler.
Das war zuviel. Die Anti Defamation League machte die Rede per Anzeige
in der „New York Times“ publik. Schnell drängten schwarze Führer
Farrakhan, seinen Sprecher abzusetzen. Der verlor seine Ämter – aber
nicht die Billigung des Mentors: „Ich stehe zu den Wahrheiten, die er aussprach“,
sprach Farrakhan, „aber ich muß die Art verurteilen, wie die Wahrheiten
präsentiert wurden.“
Die schwarzen Abgeordneten im Kongreß, die mit Farrakhan 1993
einen „heiligen Bund“ eingingen, zuckten zurück. Doch Benjamin Chavis,
damals Direktor der ältesten US-Schwarzenorganisation, der Nationalen
Vereinigung für die Förderung farbiger Menschen lud Farrakhan
kurz darauf zu einem Gipfeltreffen schwarzer Führer nach Baltimore.
Die Diskussion, ob die Nation integriert oder ausgegrenzt werden muß,
ist in vollem Gange.
Da kommt die Shabazz-Affäre gerade recht: Farrakhan kann sich als
Opfer präsentieren. Der Messias als Ziel einer weißen Intrige,
der dem schwarzen Werkzeug großherzig vergibt – das hat ihm gefehlt,
um in die Galerie der Großen aufzurücken. Die Witwe Shabazz
zeigt sich angetan über das „Ausmaß seiner Menschlichkeit“.
Selbst Coretta Scott King, Witwe des ermordeten Martin Luther King, glaubt
nun an ein Regierungskomplott.
Ein unheimliches Schauspiel. Als Farrakhan der Malcolm-Tochter öffentlich
verzieh, ließ er seine Frau und seine fünf Töchter vortreten.
Täte jemand ihm etwas an, deklamierte er, würden diese Frauen
„nicht zögern, mich zu rächen. Und sie würden niemanden
anheuern, es für sie zu erledigen. Sie würden es selbst tun.“
ZEITTAFEL
-
1930 Elijah Muhammad gründet die Organisation
-
1947 Malcolm X tritt der Nation of Islam bei
-
1954 Malcolm X leitet den Temple No. 7 (New York)
-
1955 Louis X geht bei Malcolm X in die Lehre
-
1962 Gerüchte über diverse Affären und uneheliche Kinder
des Propheten Elijah Muhammad
-
8. 3.1964 Malcolm X bricht mit der NOI
-
21.2.1965 Malcolm X wird ermordet
-
1966 Thomas Hagan, Norman 3X Butler und Thomas 15X Johnson werden als seine
Mörder verurteilt
-
1975 Elijah Muhammad stirbt
-
1976 Sohn Warith schlägt orthodoxe Richtung ein
-
1977 Louis Farrakhan gründet die Nation neu
-
1983 Nation-Boys dienen für Präsidentschaftskandidat Jesse Jackson
als Bodyguards
-
1994 Farrakhan wegen Antisemitismus umstritten
————————————————————————————————
©
Schimmeck |