Friedensforschung daheim

Die Zahl der Fälle von Kindesmißbrauch steigt drastisch. Nicht nur Experten meinen, daß die Insitution Familie in einer  Krise steckt

1989, unveröffentlicht 
von Tom Schimmeck 

Er sei ein "liebevoller Vater gewesen", berichten Bekannte. Doch die Beweisaufnahme vor einem saarländischen Gericht ergibt, daß die einjährige Tochter mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus mußte, weil sein Fausthieb sie aus dem Kinderstühlchen schleuderte. Aus geringem Anlaß, bezeugt die Mutter, schlug der Vater die Tochter "grün und blau"; machte die Kleine den Teppich naß, wurde sie mit der Nase über den Teppich gezogen, bis sie blutete - "weil man so einem Hund beibringt, stubenrein zu werden". 

Polizei und Feuerwehr brechen in Regensburg nach einem anonymen Hinweis eine Wohnungstür auf: Das fünfjährige Mädchen, von der Mutter mit den Füssen an einen Bettpfosten gefesselt, die Arme mit einem Bademantelgürtel verknotet, ist mit frischen und älteren Wunden übersät.  Nachbarn berichten, sie hätten seit einem Jahr immer wieder Schreie gehört. 

Der brüllende Säugling, gerade sechs Wochen alt, sei gegen die Wand geknallt, als er ihn wütend auf das Bett geworfen habe, sagt der junge Vater vor der Jugendkammer München I. Da er weiterschrie, habe er ihm dann auf den Kopf geschlagen.  Sein kleiner Sohn war schon tot, als man ihn mit Schädel- und Rippenbrüchen in einer Münchner Klinik einlieferte. 

Seine Frau sei "immer zickiger" geworden, erklärt ein 43jähriger Mann vor der Fünften Großen Strafkammer des Hamburger Landgerichts, der angeklagt ist, seine jetzt 15jährige Tochter seit ihrem sechsten Lebensjahr sexuell mißbraucht zu haben. Der Vater streitet, trotz erdrückender Beweislage, alles ab: Das sei "ein Racheakt" des Mädchens, wohl weil er ihr das Rauchen verboten habe. 

Auch der 44jährige, der in Stuttgart des sexuellen Mißbrauchs angeklagt ist, kann sich nicht erklären, warum die Tochter "das sagt". Wenn die Mutter spätabends noch arbeitete, berichtet die junge Frau, habe er sie seit ihrem zehnten Lebensjahr immer wieder massiv bedrängt, bis sie schließlich schwanger wurde. "Du darfst mit niemandem darüber sprechen", schärfte er ihr ein -sie ist seit zwei Jahren in psychotherapeutischer Behandlung. 

Spektakuläre Falle von Kindesmißhandlung und -mißbrauch aus dem Jahr 1988, die zumindest eine Gemeinsamkeit haben: Sie wurden bekannt.  Gehäufte Scheußlichkeiten, die als vermeintliche Ausnahmeerscheinung im Vermischten der Tagespresse entrüstet zur Kenntnis genommen wurden. Gewalt ist geschehen und entdeckt worden, die Täter sind abgestraft. Einzelfälle, die breiter Empörung sicher sein konnten, sind erledigt. 

So etwas kommt vor. Seit den 60er Jahren wird über Kindesmißhandlung gesprochen, seit Beginn dieses Jahrzehnts ist - vor allem Dank der Frauenbewegung - auch sexueller Mißbrauch von Kindern ein Thema.  Vorsichtig nähern sich Fachleute auch anderen Formen von Gewalt gegen das Kind: körperliche und seelische Vernachlässigung, Streß und Ausbeutung. In Schüben entsteht so ein Bild vom Ausmaß der Härten am heimischen herd. 

Es ist immens: Jährlich, so schätzen Experten, werden 20 000 bis 30 000 Kinder schwer mißhandelt, auch höhere Zahlen, bis zu 10 0000, werden genannt.  Einige Hundert Kinder - mehr, als an Kinderkrankheiten - sterben an den Mißhandlungsfolgen.  Wohl 50000mal, vermutet der BKA-Experte Michael Baurmann, werden Kinder, weit überwiegend Mädchen, sexuell mißbraucht - eine konservative Schätzung.  Das Gros der Sachkenner rechnet mit 200 000 bis 300 000 Fällen pro Jahr. 

Massive Züchtigungen kommen fast unterschiedslos in allen Gesellschaftsschichten vor, nur die Methoden werden nach oben hin ausgeklügelter. Die Bessergestellten, meint die Düsseldorfer Gerichtsmedizinerin Elisabeth Trube-Becker, bevorzugten subtilere Formen der Mißhandlung: Seelische Qualen, die kaum minder schwere Folgen zeitigen, aber noch leichter zu verbergen sind. 

Obwohl Gewalt gegen Kinder mit wachsender Aufmerksamkeit registriert wird, durch die steigende Zahl von Hilfsangeboten nicht nur offenkundige, sondern auch verborgene Rohheiten geortet werden, hält sich hartnäckig das Bild vom ausgeflippten Einzeltäter. Mißhandlung, Vernachlässigung, sexueller Mißbrauch wird noch immer gern ominösen Psychopathen zugeschrieben, die, wenn es denn der schnellen Deutung dient, vielleicht auch eine schwere Kindheit hatten. 

Nur zögerlich bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß die Fülle der Fälle von Familiengewalt, die beim Jugendamt, den sozialen Diensten und der Polizei auflaufen, bei Kindernotdiensten, Sorgentelefonen und Ärzten zur Sprache gebracht und in Kinderschutzzentren, Erziehungsberatungsstellen, bei Psychologen und in immer mehr Selbsthilfegruppen aufgearbeitet werden, andere Erklärungen verlangen. 

Wissenschaftler beginnen zu begreifen: Dem "prägnanten Bild spektakulärer Brutalität", schreibt der Münchner Forscher Michael-Sebastian Honig in seinem Buch "Verhäuslichte Gewalt", stehe die ebenso unermüdliche wie erfolglose Suche nach einem abgrenzbaren Typus von Familienproblemen, nach einem Typus der <Gewaltfamilie> gegenüber". Tatsächlich aber käme Gewalt in ganz normalen Familien vor, werde dort von ganz normalen Eltern verübt: "Alle Versuche, Gruppen von Risikofaktoren zu bestimmen, Risikopopulationen zusammenzustellen und Ursachen familialer Gewalt trennscharf zu bestimmen, müssen als gescheitert angesehen werden." 

Genau hier liegt die eigentliche Dramatik. Gewalt in der Familie, für viele schwer faßbar, läßt sich nicht mehr als Tat tobender Trunkenbolde und irrer Lusttäter abtun - sie ist gängiges Prinzip, allgegenwärtig, alltäglich. 

Im Schoß der modernen Familie, es läßt sich nicht länger leugnen, herrschen harte Sitten.  Vorsichtig formulierte der US- Forscher Straus schon 1974, er sehe das "Potential für Gewalt in Familien für ebenso fundamental an wie das Potential für Liebe". Wenige Jahre später, mit einer groß angelegten Studie über deren Ausmaß betraut, fand der Forscher: "Gewalt mag für die Institution Familie sogar typischer sein, als es Liebe ist." Denn die Familie sei "führend in jeder Form" - "von der Ohrfeige bis zu Folter und Mord". 

In 97 Prozent der US-Familien fand man Formen körperlicher Bestrafung, bei immerhin 3,8 Prozent der Kinder zwischen 3 und 17 machten Straus und Kollegen schwerste Formen von Mißhandlung aus. 

Auch in der Bundesrepublik hat eine wachsende Zahl von Fluchtstätten, zunächst die Frauenhäuser, nun verstärkt auch Mädchenhäuser und Notwohnungen für mißhandelte Kinder, die Illusion ausräumen helfen, daß die bürgerliche Familie, idealisierte Kreation des 19.Jahrhunderts, Hort von Eintracht und Frieden ist. 

Vor allem Kinderschutz-Praktiker verweisen darauf, welche Risse das Bild vom anständigen Bürger durch die zunehmende Publizität von Familiengewalt bekommen habe. Seitdem sich herausgestellt hat, daß das Gros alltäglicher Gewalt in der vermeintlich sicheren Privatsphäre stattfindet, daß etwa für sexuellen Mißbrauch meist nicht jene fiesen Bonbon-Onkels im Park, vor denen die Polizei immer gewarnt hat, sondern fast immer Väter, Stiefväter und allerlei nahe Verwandtschaft verantwortlich sind (der Anteil fremder Täter liegt unter zehn Prozent), bröckelt das Bild vom behütenden Familienbund. Es geht dort nicht berechenbarer zu als auf bundesdeutschen Autobahnen. 

Dabei hat es Gewalt bis zu Mord und Totschlag im trauten Kreise der Familie auch in vergangenen Zeiten stets gegeben.  Der französische Agronom und Autodidakt Philippe Ariès hat in seiner "Geschichte der Kindheit" die beeindruckende Bandbreite von Grausamkeiten aufgezeigt, zu der vor allem der als besonders zivilisiert geltende Teil der Menschheit gegenüber der Nachkommenschaft bislang fähig war. "Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen", befand auch der amerikanische Psychohistoriker Lloyd deMause ("The history of childhood"), "desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell mißbraucht wurden." 

Unendlich mühsam aber verbreitet sich jenes Fachwissen, das zum Erkennen von Mißhandlungen nötig ist. Zwar beschrieb schon 1946 der Ypsilon Arzt Ypsilon Caffey ein Grüppchen von sechs Säuglingen, daß ihm durch eigentümliche Knochenbrüche und Blutungen aufgefallen war. Zwar definierte vor bald dreißig Jahren H.C.Kempe, ein Kinderarzt aus Denver/Colorado, bestimmte Haut-, Schädel-und Knochenverletzungen als "battered child syndrome". 

Doch noch heute, meint Peter Lemburg, Akademischer Direktor für pädiatrische Intensivmedizin an der Uniklinik Düsseldorf, sind "viele Ärzte ziemlich arglos", wenn ihnen verletzte Kinder mit typischen Symptomen vorgestellt werden. 

Lemburg hat eine Liste von Verdachtsmomenten zusammengestellt, die auf Kindesmißhandlung hinweisen können. Auffällig sind insbesondere - Verletzungen ohne klare Ursache und   Hergang, - Verletzungen unterschiedlichen Alters, - Verletzungen mit ungewöhnlicher   Lokalisation am Körper, - Ausreden und Beschuldigungen Dritter, - Familiäre Konfliktsituationen, - Häufige Arzt- und Klinikwechsel, - Medikamentenmißbrauch bei Eltern oder Kind, - Frühgeburt und Hirnschädigung, - Verhaltensstörungen beim Kind, - Interesselosigkeit der Eltern und - Weggehen vor der stationären Aufnahme. 

"Es ist erstaunlich", rüffelte Lemburg in der Zeitschrift "Kinderheilkunde" die Kollegen, "wie oft deutliche Symptome schwerster körperlicher Mißhandlung einfach übersehen werden." Hämatome, schwere Schädel-Hirn-Traumata, Verbrennungen und Verbrühungen, die "immer wieder mit den absurdesten Behauptungen" erklärt werden. 

Meist sind die Kinder angeblich aus dem Bett, vom Wickeltisch oder die Treppe herab gestürzt, einfach hingefallen oder durch andere Kinder verletzt worden.  Die Offenlegung der wahren Umstände setzt beim behandelnden Arzt viel menschliches Fingerspitzengefühl voraus - nicht gerade die prominenteste Eigenschaft der Branche. 

Auch die Gerichtsmedizinerin Trube-Becker rügt, daß Ärzte noch immer auch offensichtlichste Anzeichen von Mißhandlung verschlafen, selbst bei mehrfacher Krankenhauseinlieferung. Wenig verständlich angesichts eklatanter Beispiele, die die Expertin in ihrem Standardwerk "Gewalt gegen das Kind" aufführt: Da werden Kinder gepeitscht und gebissen, verbrüht oder verbrannt, da sind Riemen, Kohlenschaufeln und Feuerhaken im Spiel. Kinder werden in eiskaltes Wasser getaucht, auf heiße Öfen gesetzt, in Kot und Urin liegengelassen. Einen Grund für die hohe Dunkelziffer sieht Trube-Becker "in der Tatsache, daß Opfer häufig Kleinstkinder sind". 

Mitunter aber sind die Verletzungen wirklich schwer zu erkennen. Blutungen unter der harten Hirnhaut etwa werden nicht selten durch ein sogenanntes "Schütteltrauma" hervorgerufen: Das Kind wird an den Armen, an der Brust oder an den Knöcheln gepackt und heftig geschüttelt oder herumgeschleudert, es bleiben dort allenfalls Griffmarken zurück. Symptome für dadurch verursachte Risse der Blutgefäße unter der Hirnhaut, die zu lebensbedrohlichen Zuständen führen können, treten womöglich erst nach Wochen auf. 

Zweithäufigste Todesursache sind stumpfe Schläge auf den Leib, die zu Magen-, Darm, Leber- oder Milzrissen, Lungenverletzungen oder Blutungen im Herzbeutel führen können. Äußerlich sichtbar aber ist manchmal nur ein kleiner blauer Fleck. 

Schon vor der Geburt kann es zu "fötalen Mißhandlungen" kommen. Der Arzt und Psychiater Eugen Jungjohann, Ärztlicher Leiter der Kinderschutzambulanz Düsseldorf, verweist darauf, daß nach neueren Untersuchungen bei etwa zehn Prozent der drohenden oder vollendeten Schwangerschaftsabbrüche das Ziel nicht Abbruch, sondern Bestrafung war. 

Bei psychiatrischen Untersuchungen stellte sich heraus, daß diese Schwangeren, so Jungjohann, das Kind als Fremdkörper von Anbeginn haßten, das Gefühl hatten, ausschließlich wegen des zu erwartenden Kindes geliebt zu werden.  Eine Mutter, die ihr Kind trotz Selbstmißhandlung gebar, schrie nach der Abnabelung: "Schmeißt doch den Balg an die Wand!" 

Tückischer noch als die körperlichen Attacken ist die traurige Vielfalt seelischer Mißhandlungen. Der Psychoterror daheim: Techniken des Ignorierens, Verspottens und Drohens, der Erniedrigung und Isolation, aber auch das Umklammern - Ausdruck der Unfähigkeit, Kinder in die Unabhängigkeit zu entlassen. Notorischer Hausarrest bis zum Wegschließen der Kinder in dunkle Verschläge, ständige Beschimpfungen, die brüske Ablehnung jeder kindlichen Lebensregung, bis hin zu merkwürdig gespaltenen Botschaften: Wenn du gut wärst, könnte ich dich lieben - aber du  bis es nicht, deshalb lehne ich dich ab.    In der Summe, vermutet der Kinder- und Jugendpsychiater Gerhardt Nissen, wirkt solch weit verbreitete Nadelstich-Politik noch fataler, weil sie "Kinder zu wehrlosen Objekten psychisch gestörter Eltern macht, die sie lautlos und unauffällig zu masochistischen, depressiven oder aggressiven Neurotikern" erziehen oder durch permanente Herabsetzung "unselbständig, ängstlich und lebensuntüchtig" machen. 

Körperliche Gewaltanwendung ist immer mit seelischer und emotionaler Mißhandlung verknüpft, psychische Folgen aber können auch Kinder abbekommen, die selbst nicht aktiv angegriffen wurden. 

Ein achtjähriger Junge schildert seine heimische Atmosphäre: 
Bei uns war es so, daß die Luft in der Wohnung, besonders in der Küche, immer voll war von Messern, Tellern, manchmal Stühlen und immer voll von Gebrüll. Der Vater brüllte, die Mutter kreischte und wir Kinder weinten.  Geschlagen haben die mich nie, sondern nur sich selbst. 

Jedes fünfte Kind, schätzt der Anthropologe Klaus Conrad, Vorsitzender der "Deutschen Liga für das Kind", ist heute von "ernsthafter seelischer und sozialer Vernachlässigung betroffen". Daß Mißhandlung nicht nur als aktives Handeln, "sondern auch als passive Unterlassung zu beschreiben ist", hält auch Jungjohann für "außerordentlich wichtig". 

Ohne diese Diagnose, meint der Chef der Kinderambulanz, käme es beinahe zwangsläufig zu jenen Auffälligkeiten in Kindergarten und Schule, über die Erzieher und Lehrer so beredt klagen. Zu "einer neurotischen Verwahrlosung, zum Wiederauftreten von Einkoten und Einnässen, von depressiven neurotischen Entwicklungen, Angstneurosen und Phobien, besonders auch in Form der sogenannten Schulphobie". 

Ein Horrorszenario? Reine Panikmache? Allerorten ist von der Sinnkrise der Kinder und Jugendlichen zu hören, von irgendwie beunruhigenden Anzeichen seelischen Elends. Die Drogenabhängigen werden jünger, rund 20000 Zwölf- bis Vierzehnjährige etwa sind alkoholsüchtig. Die Selbstmörder werden jünger, Suizid ist bei den 15- 20jährigen nach Unfällen inzwischen die zweithäufigste Todesursache - die Selbstmordquote liegt deutlich über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung (siehe Kasten Seite xx). 

Zwanzig Prozent der Kinder, schätzt ... Bärsch, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, haben psychische Störungen, etwa ebenso viele seien von neuartigen Erkrankungen befallen, die die klassischen Kinderkrankheiten abgelöst haben: Erkrankungen der Atmungsorgane, Hautkrankheiten, Allergien. Fünf Prozent der Kinder, schätzt auch Joest Martinius, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, sind psychisch krank und behandlungsbedürftig. 

Auch bei einer im August veröffentlichten Untersuchung im Raum Göttingen, mit der 1205 Kinder und Jugendliche erfaßt wurden, stellten Mediziner fest, daß jedes fünfte Kind unter psychosomatischen Krankheiten, psychischen Problemen oder familiären Konfliktsituationen bis hin zur Mißhandlung litt. Psychosomatiker stürzen sich auf das Arbeitsfeld Familie. 

Ein Stoppelfeld. Denn die klassische Familie, noch heute in Sonntagsreden als letzte intakte Bastion in einer ansonsten tumultösen Welt gepriesen, ist vielfältigen Erosionserscheinungen unterworfen. Das zweitschwächste Glied dieses Gebildes, die Frauen, haben in den letzten zwei Jahrzehnten entscheidende Quer- und Stützbalken  dieser Konstruktion für morsch befunden, Rechte eingefordert, Gewalt angeprangert, die Rollenverteilung durcheinandergewürfelt.  Das Urbündnis, die Ehe, die doch nur der Tod scheiden sollte, wird, so sie überhaupt zustande kommt, immer öfter vorzeitig gelöst. 

Die Blütezeit der Norm-Familie, das hat sich rumgesprochen, ist vorbei. Bei Fortschreibung der derzeitigen Verhältnisse, meinte unlängst die Wiener Soziologin Marina Fischer-Kowalski, blieben bald 50 Prozent der Bevölkerung lebenslang unverheiratet, die "Scheidungswahrscheinlichkeit" steige ebenfalls bis auf 50 Prozent. Es zeichne sich ab, ergänzten die Dortmunder Bildungsforscher Hans-Günter Rolff und Peter Zimmermann, "daß fast jedes zweite Kind, das gegenwärtig geboren wird, nicht in der Familie aufwachsen wird, in die es hineingeboren wurde". Der Mensch in der westlichen Industriegesellschaft, da singen die Experten im Chor, bewegt sich vom Familienwesen zum Einzelindividuum, allzeit mobil nur der Suche nach dem eigenen Glück verpflichtet. 

Notfalls machen sich auch die Kinder schnell mal selbständig. Rund 40 000 Kinder und Jugendliche werden in der Bundesrepublik pro Jahr als vermißt gemeldet, vor allem Mädchen reißen deutlich häufiger von zuhause aus. Oft wird ihnen fälschlich Abenteuerlust unterstellt.  Eine amerikanische Untersuchung unter 149 Ausreißern zwischen 12 und 20 Jahren zeigte, daß 73 Prozent von ihnen geschlagen und 43 sexuell mißbraucht worden waren -bei den Mädchen waren es sogar 73 Prozent. 

Macht die Familie die Kinder krank? Konservative Freunde des alten Familienideals von der Wiege der Nation machen für sinkende Kinder-und steigende Scheidungszahlen moderne Irrungen und Wirrungen verantwortlich, denen es mit Macht gegenzusteuern gelte.  Doch ein Blick in die Menschheitsgeschichte lehrt, daß auch in grauer Vorzeit Klagen laut wurden, die uns heute wieder verdächtig bekannt vorkommen. Der griechische Geschichtsschreiber Polybios empörte sich im zweiten Jahrhundert vor Christi:  

Heute ist Griechenland gekennzeichnet durch eine niedrige Geburtenrate und eine allgemeine Abnahme der Bevölkerung, die dazu geführt haben, daß Städte verlassen liegen und das Land aufgehört hat, Frucht zu tragen, obgleich es weder fortgesetzte Kriege noch Epidemien gab. Die Menschen sind in einen solchen Zustand von Anmaßung, Habsucht und Trägheit verfallen, daß sie keine Lust mehr zum Heiraten haben, oder, wenn sie geheiratet haben, keine Lust zum Großziehen der von ihnen geborenen Kinder haben, und wenn doch, dann höchstens bei ein oder zwei Kindern.  

Die Familie ist durch das Auseinanderdriften von Arbeit, Einkauf, Freizeit und Wohnen in gesellschaftliche Isolation geraten. Die individuelle Suche nach Glück und Komfort, versinnbildlicht durch immer mehr Singles, kollidiert mit dem Kind, das den Eltern in spe nicht nur materielle Einbußen, Verlust an Freiheit und den Verzicht auf persönliche Lebensplanungen abverlangt.  Kinderkandidaten erklären bei Umfragen auch, es gäbe für ein Kind keine lebenswerte Zukunft in dieser Welt (24 Prozent), äußern häufig die Angst, daß Kind könnte behindert sein (72 Prozent). Wenn überhaupt Kinder, dann reicht eins: Die Zahl der Einzelkinder ist auf 40 Prozent angestiegen. 

"Wir haben die individuelle Freiheit in einem solchen Umfang entdeckt, wie das früher nie der Fall war", meint Klaus Schmidt, Chef des Hamburger Kinder- und Jugendnotdienstes. Dagegen sei an sich nichts einzuwenden, für die Kinder aber "ist es eine Katastrophe". 

Zugleich steigt, nicht zuletzt wegen der rapide gesunkenen Gesamtzahl, die Bedeutung des einzelnen Kindes, es hat gegenüber früheren Zeiten ein hohes Prestige, wird gehegt und gepäppelt und dabei, so der Kinderschützer Bärsch, immer mehr "über den Modellathlet Erwachsener definiert". Daß der Kinderstatus hoch, die Familie aber kräftig in Frage gestellt ist, erscheint dem französischen Autor Didier-Jacques Duch‚ als paradoxes Zeichen eines tiefgreifenden Wandels mit ungewissem Ausgang: "Das Kind ist ein Risiko für die Familie, und die Familie ist ein Risiko für das Kind." 

Das Kind - zugleich Schmusetier und Klotz am Bein? Immer öfter scheinen die raren Nachkommen zur Projektionsfläche elterlicher Ansprüche zu werden. Das Kind soll nicht stören und nicht schmutzen, es soll klug, schön und erfolgreich sein, vor allem soll es die Eltern lieben - ein Luxusartikel, der die Anschaffung lohnt.  Das Kind, beobachtet Bärsch, gerate verstärkt in die Funktion, "die Eltern glücklich zu machen". 

Das könnte ein Grund dafür sein, daß Kinder heute so außerordentlich üppige Streßsymptome zeigen, am Schauplatz Schule etwa. Dort klagen Lehrer zunehmend über die nervösen und oft aggressiven Schützlinge, Eltern und Erziehungsberatungsstellen melden Leistungs-, Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten. "Eine Verwandlung geht vor sich", stöhnte die Fachzeitschrift "Pädagogik" im Frühjahr, das Klassenklima werde "zunehmend hektischer, ein Schüler nach dem anderen ist in seinen Reaktionen nicht mehr wiederzuerkennen". 

Norddeutsche Kinder- und Jugendpsychiater befanden auf einem Treffen Ende November, daß immer mehr Kinder panische Angst vor der Schule haben. Anstatt per Bußgeld den Schulbesuch zu erzwingen, sollten die Lernanstalten das Schwänzen endlich als Hilferuf begreifen und Rat einholen. "Wir kennen Kinder", berichtete der Osnabrücker Psychiater Horst Trappe, "die ein bis zwei Jahre lang nicht zur Schule gehen konnten." Die "Aktion Humane Schule" fordert zwecks Streßabbau: "Arbeitszeitverkürzung für Schüler!" 

Immer drastischer schildern Schüler und Lehrer das Chaos im Schulalltag. Ratgeber empfehlen Meditation, autogenes Training und körperliche Ertüchtigung.  Schulsozialarbeit kommt in Mode, angestoßen durch die, so der Ludwigsburger Pädagogikprofessor Karl Zenke, "schier erdrückenden Problemlagen der Schüler" -Null-Bock und Verweigerung, Drogen, Diebstahl und verbale wie körperliche Attacken. Die Schule, resümiert Zenke, sei "mit ihrem erzieherischen Latein am Ende". 

Erklärungen sind wohlfeil: Der Druck der Leistungsgesellschaft, verschärft durch Jugendarbeitslosigkeit; der massive Medienbeschuß, angereichert durch Video und Kabel; zuviel, zuwenig, die falsche Erziehung; die allgemeine Sinnkrise im Abendland, gepaart mit Zukunftsangst und innerer Leere. 

Das alles mag ein bißchen wahr sein, gesicherte Erkenntnisse aber sind Mangelware. Bielefelder Forscher meinen neben Mißhandlung, Vernachlässigung und Mißbrauch eine vierte Form kindesfeindlicher Haltung isolieren zu können: die Ausbeutung. Mit dem Begriff sollen all die Akte umrissen werden, mit denen Eltern oder auch Institutionen die Bedürfnisse der Kinder behindern und unterdrücken, ihnen angemessene Entschädigung für ihre Handlungen und Leistungen verweigert. Eine Art aktive Vernachlässigung. 

Aus der Phase der Leugnung von Kindesmißhandlung und Ausbeutung, hofft der Bielefelder Forscher Klaus Hurrelmann, "sind wir wohl heraus". Nun beginne die "die sehr schmerzliche Phase der schrittweisen Erschließung und - hoffentlich -Bewältigung des Phänomen <Gewalt gegen junge Menschen>". Die Sache ist dringend: Denn offenbar, so Hurrelmann, sei "in einer wachsenden Zahl von Familien" die psychische und soziale Pflege der Kinder "schon rein organisatorisch nicht mehr gewährleistet". Das Risikopotential wächst. 

Rund 1700 Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen im Alter zwischen 13 und 16 Jahren haben Hurrelmann und Kollegen mehrfach befragt, um die Höhe der psychosozialen "Kosten" - psychosomatische Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten - zu erforschen.  Gehäuft stellten sie Kopfschmerzen und Nervosität, Kreuzschmerzen und Schwindelgefühl fest.  Bei den Krankheitsbildern dominieren Verdauungsbeschwerden, Kreislaufstörungen und Allergien. Bei elterlichem Druck und Schulversagen zeigten sich, so Hurrelmann, "deutlich höhere Häufigkeitswerte in der Ausprägung von psychosomatischen Störungen". 

Medikamente, zeigt die Untersuchung, werden in der Schule reichlich geschluckt. Ein Drittel der Jungen und die Hälfte der Mädchen geben an, zuweilen oder sogar täglich Kopfschmerzmittel zu nehmen. Gut ein Viertel der Jungen und mehr als ein Drittel der Mädchen greifen auch zu anderen Schmerzmitteln. Auf der Pharma-Hitliste folgen Mittel gegen Magenbeschwerden mit 16 (Jungen) bis 22 Prozent (Mädchen), gegen Allergien (21 Prozent), Herz- und Kreislaufmittel (10 bis 13 Prozent) und Beruhigungs- und Schlafmittel (10 Prozent). Medikamente zum Anregen, Abführen, zum Zügeln der Blutdrucks oder auch des Appetits waren immerhin noch mit jeweils runf fünf Prozent vertreten. 

Auch beim Konsum von legalen Drogen - Alkohol und Zigaretten - geht es im Jugendalter flott voran. Schüler der achten Klasse geben zu einem Drittel gelegentlichen, zu drei Prozent dauernden Konsum von Bier, Wein und Sekt an. Sechzehn Prozent trinken auch schon mal Schnaps, zwölf Prozent rauchen regelmäßig. Zwei Jahrgangsstufen höher verdoppeln sich die Zahlen: Mehr als ein Drittel trinkt da schon gelegentlich, zwei Prozent sogar ständig Hochprozentiges, auch der Kundenstamm der Zigarettenindustrie erweitert sich beträchtlich. 

Angesichts der Tücken des heutigen Arbeitsmarktes bleibt Eltern womöglich oft gar nichts anderes übrig, als mit verschärftem Druck auf gute Schulleistungen zu drängen. Auch von der Schule erwarten die Eltern, wie andere Untersuchungen nachweisen, seit Jahren in wachsender Zahl höhere Leistungsanforderungen an die Schüler. Nur wenige Eltern meinen noch, daß die Schule ihr Kind wirklich überfordert. Gefragt sind zuvörderst Allgemeinwissen, Disziplin und Höflichkeit. 

Nicht immer sind die Eltern selbst schuld, wenn ihnen eine wichtige Erziehereigenschaft, die Gelassenheit abhanden kommt. Soziale Faktoren etwa können das Familienklima nicht unerheblich verschärfen. So sind zum Beispiel nach Schätzung von Fachleuten rund 1,4 Millionen Kinder in der Bundesrepublik von Arbeitslosigkeit mitbetroffen. 

Die Folgen sind, wie so viele Kinderprobleme, kaum erforscht. Doch auch mit wenig Phantasie kann man sich einige Effekte ausmalen. Vor allem durch Dauerarbeitslosigkeit der Väter, kein seltener Fall, geraten Familienstrukturen schnell durcheinander. Väter sitzen mit Minderwertigkeitskomplexen daheim, die Mütter sind chronisch überfordert, weil sie die knappe Kasse verwalten, Streit schlichten und als Puffer und Blitzableiter herhalten müssen. Ein Klischee? 

Berichte von Wohlfahrtsorganisationen und Sozialhelfern deuten darauf hin, daß es sich, vor allem bei ärmeren Familie, tatsächlich oft genau so abspielt. Die Kinder zeigen Abschottungstendenzen und psychische Labilität und Zukunftsängste, sie fühlen sich herabgesetzt, wenn die Eltern das passende Outfit, die Kinokarte oder die Klassenreise nicht mehr zahlen können. "Blöd ist das einfach", erzählt eine Tochter arbeitsloser Eltern, es gebe ständig Streit, vor allem ums Geld, die Mutter sei immer aufgeregt.  "So wie bei anderen Schülern, die ständig neue Sachen haben, läuft das nicht". 

Je länger der Zustand anhält, meint der Luwigsburger Pädagogik-Professor Zenke, desto eher würden "Schwachstellen und Konfliktpotentiale im Familienverband heftig aktiviert und vermehrt". Mitarbeiter des Berliner Kinderschutzzentrums erleben häufiger "seelisch halb verhungerte Eltern" mit allen Anzeichen psychischer Entwurzelung. Durch wachsende Sozialprobleme sehen sie "eine Verschärfung heraufziehen". 

Doch materielle Nöte sind meist nur Anlaß für Familienkrisen. Es braucht nicht die Abhängigkeit von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe, auch bei gut geregeltem Einkommen erzählen Eltern viel von Orientierungslosigkeit und dem eigenen Unvermögen: "Ich weiß überhaupt nicht, was das Kind will", "ich versteh' die Welt nicht mehr", "ich fühl‘ mich unheimlich alt". 

Daß Eltern trotz aller guten Vorsätze immer wieder zuschlagen, ist nicht nur durch Streß, sondern auch in ihrer persönlichen Lebensgeschichte begründet.  "Selbst solche Eltern, die intellektuell konsequent eine bestimmte Erziehungsform vertreten", beobachtet der Psychologe Nissen, "sind dazu oft emotional nicht imstande." Geprägt durch die eigene Erziehung hätten sie "in der aktuellen Situation gar nicht die Wahl" - die Prägung ist stärker als die Einsicht. Autorität und Gewalt in der Kindererziehung würden sich so "über Generationen hinschleppen", meint Nissen, "als Niederlagen empfunden und von Schuldgefühlen begleitet werden". 

Kategorischer noch erklärt die Autorin Alice Miller das gewalttätige Tun.  Mit dem Gerede vom "Einfluß enger Wohnverhältnisse, der Arbeitslosigkeit oder der Angst vor der Atombombe", sagt Miller, "schützen wir die Taten unserer Eltern".  Einziger Grund für Mißhandlungen sei die Verdrängung des selbst Erlittenen: "Nur wer selbst Opfer solcher Taten war und sie in der Verdrängung beläßt, ist in Gefahr, seinerseits Leben zu zerstören." 

Erwachsener contra Kind - auf fatale Weise verdrehen sich die Rollen.  Die US-Forscher Steele und Pollock haben beobachtet, daß sich der Mißhandler "wie ein angstvolles, ungeliebtes Kind verhält, daß sein eigenes Kind erlebt, als sei es ein Erwachsener, der Trost und Liebe vermitteln könne". Ihre Klienten hatten als Kinder alle den "Eindruck intensiver, allseitiger, ununterbrochener Ansprüche seitens ihrer Eltern". Sie hatten, so die Forscher, "guten Grund zur Annahme", ungeliebt zu sein. Ihr Grundgefühl: "falsch, nutzlos, untauglich". 

Schlagende Eltern fühlen sich von Kindern oft zum Narren gehalten, können nicht verstehen, daß der Kinderalltag andere Regeln hat. Sie sehen die Kinder plötzlich als Monster, Ungeheuer, die egal wie in Schach gehalten werden müssen - oder einfach als Gegenstände, wasserdicht und stoßfest. Schläge sind Prinzip ("es muß sein"), wobei das Kind, so der Ypsilon Honig, "erscheint als ein irrationales Bündel von Eigenschaften, die moralisch qualifiziert und von außen gesteuert werden müssen". Oder gelegentlich bis dauernd auftretende Ausrutscher. Der Täter entschuldigt sich, er sei "durchgedreht", habe "rot gesehen", sei "nicht beieinander", "nicht bei Verstand" gewesen. 

Bei der Untersuchung eines fünfjährigen Kindes: 
Wann wirst Du geschlagen? Kind: Wenn ich böse bin, wenn ich mich ausziehen muß, wenn ich mich nicht ausziehe, muß ich auf der Treppe schlafen. Wenn ich den Löffel nicht richtig halte. Die Mutter hat mich mit der Hand an den Kopf geschlagen, weil ich den Löffel nicht richtig gehalten habe.  

Die Experten tun sich schwer, eine Grenze nach unter zu ziehen, über der Kindesmißhandlung anfängt.  Eine einzelne Ohrfeige ist sicher keine gravierende Attacke. Doch angesichts der Fülle übler Methoden jenseits der körperlichen Züchtigung, mit denen man Kinder malträtieren kann, kommt es bei der Beurteilung auch auf das sonstige Verhalten der Eltern an. Ein Kind kann schweren Schaden nehmen, ohne jemals eine geknallt zu kriegen. 

Kann auf Schläge, auf die Ohrfeigen und Klapse, auf Hiebe, Haue, Prügel und Senge nicht gut verzichtet werden, müssen Eltern die Kinder versohlen, verdreschen, bimsen, durchbläuen, übers Knie legen, müssen sie ihnen die Hosen strammziehen, eine langen, herunterhauen oder verpassen? 

Bislang sind alle Versuche gescheitert, das elterliche Züchtigungsrecht nach skandinavischen Vorbild zu schleifen. Nur "entwürdigende Erziehungsversuche" sind nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch "unzulässig". Die körperliche Züchtigung, lehrt der Palandt, meistgenutzter BGB-Kommentar, sei nicht schon als solche entwürdigend. Der "Klaps auf die Hand", ja selbst eine "wohl erwogene", nicht dem bloßen Affekt entspringende "Tracht Prügel" seien durchaus "zulässige Erziehungsmaßnahme". 

Doch die privaten Gewalttätigkeiten sind ins Gerede gekommen. Beim Bundeskriminalamt wird derzeit die alltägliche Gewalt in der Bundesrepublik erforscht. Juristen debattieren über mehr Rechte für das Kind. Der Ältestenrat des Bundestages beschloß im Frühjahr, eine "Kommission für die Wahrnehmung der besonderen Belange der Kinder einzusetzen". Alle vier Fraktionen haben jetzt einen Kinderbeauftragten. 

Moderne Kinderschützer sehen die Ursache für Gewalt in der Familie in vielfältig verkorksten zwischenmenschlichen Beziehungen. Im Berliner Kinderschutzzentrum, der ersten, 1975 gegründeten Einrichtung dieser Art, müht sich eine Expertencrew, die Verwicklungen in vielen Gesprächen zu entknoten. Ihr Arbeitsprinzip: "Helfen statt strafen." 

Zentren mit gleichem Konzept sind auch in München, Köln und Bremen, in Mainz, Gütersloh, Kiel und Heidelberg entstanden. In sechs weiteren Städten zwischen Lübeck und Stuttgart gibt es Gruppen, die sich für neue Zentren stark machen. 

Allein in Berlin melden sich pro Jahr rund 750 Anrufer, etwa ein Fünftel davon sind Kinder.  Auch Jugendämter der Stadt nehmen die unabhängige Einrichtung in Anspruch. An Arbeit besteht kein Mangel.  "Berlin", meint Pieter Hutz, Familientherapeut und Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutzzentren, "könnte gut ein zweites Zentrum gebrauchen." 

In anderen Städten sieht es noch weit dürftiger aus. Zwar gibt es eine Reihe von Beratungsstellen, hie und da ist auch von Staats wegen ein Hilfsangebot geschaffen worden. Kindersorgentelefone helfen als erste Anlaufstelle, Ärzte spezialisieren sich auf Hilfe bei Mißhandlungen. Der Andrang ist beträchtlich. Der städtische Kindernotdienst in Berlin wurde 1987 3033mal in Anspruch genommen, die Zahl ratsuchenden Schüler stieg um 153 Prozent, der Jugendnotdienst meldete 2108 Fälle. Der Hamburger Kinder- und Jugendnotdienst hat 1987 6682 Hilfe geleistet, 860 Minderjährige wurden vorübergehend untergebracht. 

Allerorten werden Unterbringungsmöglichkeiten für akut gefährdete Kinder geschaffen. Staatliche Einrichtungen wie das Hamburger Mädchenhaus, Kinderwohngruppen der Kinderschutzzentren. Auch Selbsthilfegruppen wie "Wildwasser", ein Berliner Projekt zur Betreuung von Opfern sexuellen Mißbrauchs, richten nun Wohnungen ein, um schutzbedürftige Kinder unterzubringen. 

Und trotzdem, findet Pieter Hutz, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Kinderschutzzentren, sei die Bundesrepublik - verglichen mit den USA, Großbritannien, Dänemark und den Niederlanden, ein "Kinderschutz-Schlußlicht". 

Staatliche Förderung für die freien Einrichtungen und die steigende Zahl von Selbsthilfegruppen wird nur in einigen Fällen gewährt.  Die Düsseldorfer Kinderschutz-Ambulanz etwa, die nach ähnlichen Prinzipien wie die Kinderschutzzentren arbeitet, ist finanziell nur zwei Jahre abgesichert.  Eigentlich, meint Leiter Jungjohann, müßte eine solche Ambulanz zu je einem Drittel aus Mitteln des Jugendwohlfahrtsgesetzen, des Sozialhilfegesetzes und der Krankenkassen finanziert werden. Doch großzügigere Unterstützung scheint vierlerorts schwer durchsetzbar. 

Dabei sind die vertrackten Familienkonflikte oft wirklich nur durch spezialisierte Therapeuten, durch den Verbund von Psychologen, Pädagogen, Ärzten und Sozialarbeitern lösbar. Die Hilfe ist kompliziert, muß auf verschiedenen Ebenen ansetzen und nimmt nicht selten erhebliche Zeit in Anspruch. 

Das Berliner Kinderschutzzentrum etwa hat eine eigene Kinderwohngruppe, um ihre Schützlinge in akuten Notsituationen außerhalb der Familie unterbringen zu können. Gespräche mit Eltern und Kind laufen paralell, mal gemeinsam, mal getrennt, ohne daß es anschließend daheim zu bösen Überraschungen kommen kann. 

Zur Freude der Berater steigt die Zahl der "Selbstmelder", die sich direkt an Kinderschutzeinrichtungen wenden. Zeichen dafür, daß betroffene Eltern selber spüren, wie gefährlich die Situation zuhause ist. 

"Ich selber hab' oft genug einen draufgekriegt", erzählt eine Mutter, die in der Düsseldorfer Kinderschutzambulanz behandelt wird. Sie wirkt verstört, sie stottert. Das kleinere ihren beiden Kinder, ein Mädchen, ist ihr weggenommen worden, als es nach einem vermeintlichen Unfall ins Krankenhaus kam. Mit drei Monaten hatte es schon einen Schädelbruch gehabt, dann einen Oberschenkelbruch - Folgen schwerer Mißhandlung durch die Mutter. Die Tochter lebt jetzt bei einer Pflegefamilie. 

Ihr Sohn ist in der Familie geblieben. Die Eltern haben selbst erkannt, daß sie derzeit alleine nicht zurechtkommen, die Mutter ging zum Jugendamt und sagte: "Ich kann nicht mehr." Mehrmals in der Woche macht nun eine Familienhelferin "kontinuierliche Alltagsbetreuung". Die Mutter geht einmal wöchentlich in die Kinderschutzambulanz. 

Ihr Sohn, Andreas*, sitzt im Spielzimmer der Ambulanz, umringt von Puppen, Legosteinen und Kuscheltieren. "Wo willst Du wohnen?" fragt Therapeut Jungjohann. Andreas spielt am Ofen des Puppenhauses herum, knipst den Lichtschalter an und aus: "Im Kindergarten." Er soll die Mutter hereinholen, zögert, geht dann ins Nebenzimmer, wo sie wartet. 

Im Spielzimmer ist der Streit sofort da. Mutter und Sohn brüllen, weil sie sich nicht einig sind, wie mit einem Spielzeug umzugehen ist. "So geht das - "nein" - "Ja" - "Nein". Jungjohann schaut zu und fragt die Mutter dann ganz ruhig, warum sie ausrastet. "Weil ich ziemlich schnell den Geduldsfaden verliere", sagt sie nach kurzem Überlegen. "Gibt's dann auch blaue Flecken ?" fragt er. "Nicht immer", äußert sie etwas kleinlaut, bei der Tochter habe es das öfter gegeben. 

Schon gibt es wieder Geschrei. Andreas will einen Schrank im Spielzimmer öffnen, prompt verbietet der Mutter es ihm. Er kreischt und nölt, fegt durch die Legosteine, schmeißt einen angebissenen Apfel vom Tisch. Der Krach zwischen Mutter und scheint tausendfach eingübt, läuft wie automatisch nach einem simplen Schema ab. Nein - Ja - Nein - Doch - Nein. 

Nur ab und zu interveniert der Therapeut, beruhigt den Jungen und versucht der Mutter, während sie wieder mit dem Kind spielt zu erklären, warum es zwischen ihr und Andreas ständig knallt, wie sie es verhindern kann, sofort wütend zu werden.  Zum Schluß gibt er der Familienhelferin ein paar Tips und verabschiedet sich bis zum nächsten Mal. 

Um das Vertrauen der Hilfesuchenden nicht zu verspielen, werden in den Kinderschutzzentren und der Düsseldorfer Ambulanz, aber zum Beispiel auch beim staatlichen Kinder- und Jugendnotdienst in Hamburg grundsätzlich keine Anzeigen gefertigt. Ein nicht unumstrittener Grundsatz. Der Düsseldorfer Intensivmediziner Lemburg hält dagegen, er brauche "die ganze Autorität des Staates", um zu verhindern, daß Kinder, die durch Mißhandlungen "halbtot hier ankommen", von ihren Eltern einfach wieder mitgenommen werden. 

"Die Tendenz geht dahin, den armen Täter zu bedauern", meint auch die Gerichtsmedizinerin Trube-Becker. Der Grundsatz Therapie statt Strafe sei ein "Schmarrn", gerade beim sexuellen Mißbrauch könne Familientherapie beim Täter wenig bewirken: "Die lachen sich darüber kaputt." 

"Wer uns vorwirft, daß wir die Täter verhätscheln hat keine Ahnung", kontert Therapeut Hutz, gerade in den Kinderschutzzentren würden die Täter gezwungen, Verantwortung für ihr Tun zu entwickeln, den Konsequenzen ins Auge zu sehen. Auch die Kinder, meint der hamburger Notdienstleiter Schmidt, wollten meist nicht Strafe, sondern nur, daß sich zuhause die Verhältnisse ändern, damit sie wieder zurück können. 

Der Konflikt, obwohl vehement ausgetragen, ist wohl nur ein scheinbarer.  Er entzündet sich an den unterschiedlichen erfahrungen der Widersacher: Therapeuten erleben eine größere Bandbreite von Krisen, in denen Hilfe möglich ist. Für Notärzte dagegen bestimmen die Schwerletzten das Bild. Und Gerichtsmediziner, die ab und an Leichen von zu Tode geschundenen Kindern in der Hand haben, dürfen ein Recht auf zornige Vereinfachung geltend machen. 

Unbestritten aber ist auch bei Vertretern des therapeutischen Ansatzes, daß es Fälle gibt, in denen die Familie nicht zu retten ist. Bei schweren Vernachlässigung oder bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit der Eltern etwa kann es schon sein, daß eine Rückkehr des Kindes in die Familie nicht zu verantworten ist. 

Besonders der sexuelle Mißbrauch, in vielerlei Hinsicht die perfideste Form von gewalt gegen das Kind, wirft beim therapeutischen Bewältigungsversuch eine Unzahl von Problemen auf. 

Mit Vehemenz leugnen die Täter, meist die Väter, nicht selter aber auch ein Onkel, der Groß- oder Stiefvater, die Tat, deuten die Aussage des Kindes als Racheakt, oder ersinnen abstruse Ausflüchte. Ein Vater, zu sechs Jahren Haft verurteilt, weil der mit seiner Tochter seit ihrem zehnten Lebensjahr mehr als hundertmal geschlafen hatte, erklärte vor Gericht, er habe sie nur gelegentlich mal "durchgekitzelt". 

Das ungeheure Ausmaß des sexuellen Mißbrauchs an Kindern, daß sich in den letzten Jahre durch immer neue, durchweg drastische Untersuchungsergebnisse bestätigt, stellt das Fassungsvermögen selbst in der Fachwelt auf eine harte Probe. Jede dritte Frau, zeigte in diesem Jahr etwa eine Studie in den Niederlanden, werde vor ihrem 16. Geburtstag sexuell mißbraucht. Der holländische Sozialminister sprach nach Lektüre des Berichts von einer "Epedemie". Erste medizinische Langzeitstudien aus Großbritanniern lesen sich, so die Zeitschrift "Psychologie Heute", "wie Folterberichte diktatorischer Regimes". 

Väter als Täter: Je enger die verwandschaftliche Beziehung, desto intensiver ist der Mißbrauch, desto wahrscheinlicher die Gewaltanwendung, desto gravierender die Folgen. Sexuell mißbrauchte Mädchen, davon künden mittlerweile eine Serie von Untersuchungen, zeigen noch viele Jahre später Anzeichen von Ohnmacht und Selbstdestruktion, laufen deutlich größere Gefahr, auch als Erwachsene Opfer eine Vergewaltigung zu werden. Unter Psychatriepatientinnen, Prostituierten, Alkohol- und Drogenabhängigen finden sich überdurchschnittlich viele Frauen, die im Kindesalter sexuell mißbraucht wurden. 

Keine andere Form von Gewalt gegen das Kind bewirkt solche Zerrüttungen, rückt die Familie, vor allem aber ihre vermeintlichen Oberhäupter, so sehr ins Zwielicht. 

Die Versuche, das Verhalten der Täter, der Väter, Stiefväter, Großväter, Brüder und Onkel zu erklären, bilden ein gigantisches Potpourri. Unbefriedigte Männer, gestreßte Komplexbündel, vom Trieb gebeutelte? Manch Psychodeuter sieht sie als vom Kinde verführt, womöglich erpreßt - nach Freud`scher Methode, die Autorinnen wie Alice Miller als "System des Selbstbetrugs" ansehen: "Wer die Wahrheit über sein Leben nicht kennen will, wird in der Psychoanalyse Hilfe finden." 

Feministinnen sehen den sexuellen Mißbrauch eher besonders eklatantes Zeichen einer auch sonst verbreiteten Männergewalt. Die Täter, jene ganz normal wirkenden, oft als gute Familienväter gelobten Männer, gelten ihnen als gar nicht untypische Vertreter des Patriarchats, die nicht nur über erwachsene Frauen, sondern eben auch über Kinder nach Gutdünken und Belieben verfügen. 

Die Täter selber machen das Verstehen nicht leichter. Schon bei den anderen Formen von Kindesmißhandlung sind meist nicht die Väter, sondern Mütter, Bekannte oder professionelle Helfer, die nach außen treten, um einen Ausweg zu suchen. Beim sexuellen Mißbrauch spitzt sich das Mißverhältnis noch zu. Die Väter streiten selbst offensichtlichste Fälle kategorisch ab. Dabei wissen die Berater: Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Kind einen Mißbrauch erfindet, geht gegen null. Die Loyalität der Kinder ihren Eltern gegenüber ist beinahe erschreckend groß. 

Systematisch entziehen sich viele Täter jeder Therapie. Die Rückfallquote ist hoch, egal ob der Täter verurteilt wurde oder nicht. Ihr Repertoire an Ausreden und Bagatellisierungen ist beeindruckend: Die Frau war krank, die Kindheit schwer, ihre Tochter eine kleine Nutte. Die holländische Autorin Josephine Rijnaarts, die in ihrem Buch "Lots Töchter"* eine Reihe männlicher Erklärungen nachzeichnet, würde sich "nicht wundern, wenn eines Tages inzestuöse Väter feministische Interpretationen vor ihren Karren spannen und sich zu Opfern des Patriarchats erklären". 

"Es passiert immer wieder", berichtet die Sozialpädagogin Maria Gerhardt, beim Hamburger Kinder- und Jugendnotdienst für Grundsatzfragen des Kinderschutzes zuständig, "auch wenn die Väter Stein und Bein schwören, es werde nie wieder vorkommen." Sie sind wenig bereit, von sich zu erzählen, weichen auf Allgemeinplätze aus und haben eine "rigide Vorstellungen, wie das Leben zu sein hat". 

Der Glaube an die Therapierbarkeit von Familiengewalt wird durch diese Klientel erschüttert. 

Eine immer wichtigere Rolle spielt daher die Präventionsarbeit. Um Kindern frühzeitig einen Weg zu zeigen, mit Mißbrauchssituationen umzugehen, aber auch, um einen Anstoß zu geben, über schon gemachte Erfahrungen zu sprechen . folgenschwere Geheimnisse frühzeitig zu lüften. 

Das Hamburger "Fundus Theater" etwa versucht dies mit dem Stück "Das Familienalbum", ein in Berlin entwickeltes Puppenspiel. Die Akteure, ein Kater und eine Mäusefamilie, bestehend aus Mutter, Vater, zwei Töchtern und Onkel, führen die Kinder spielend in Mechanismen ein, die für sexuellen Mißbrauch typisch sind, in die besonderen Zwiespältigkeiten am Tatort Familie. Über 200mal ist das Stück schon aufgeführt worden. 

Die erste Überraschung: Nicht der große Kater, sondern der liebe Mäuseonkel Watia macht der Mäusetochter Mischen zu schaffen, als er sie in einem trauten Augenblick einlädt, ein "süßes, kleines Geheimnis" mit ihm zu teilen und mal seinen Mauseschwanz anzufassen. Mischen tut es widerwillig und irritiert, hat der gute Watia ihr doch eben erst eine Puppe geschenkt. (In diesem Augenblich, berichtet Sylvia Deinert vom Fundus Theater, könne man bei jeder Aufführung "eine Stecknadel fallen hören".) "Daß Du mir ja nichts erzählst", droht der Onkel hernach, andernfalls würde das schöne Familienalbum vom Blitz in Stücke gerissen werden. 

Der Onkel bedrängt das Mädchen erneut, so gerät es in eine Falle, die der Kater aufgesetllt hat - der Onkel hilft ihr nicht heraus und wird selbst Beute des Katers. In ihrer Not erzählt Mischen ("Ich hasse Geheimnisse"), Onkel Watia drängele immer, "daß ich sein Schwänzchen anfassen soll". Zu ihrer Erleichterung stellt sie fest, daß das Familienalbum, Symbol der Harmonie, trotzdem heil geblieben ist. 

Projekte wie "Wildwasser"(Berlin), "Zartbitter"(Köln) und "Zündfunke"(Hamburg) haben sich zu einem "Verein zur Prävention von sexuellem Mißbrauch an Mädchen und Jungen" zusammengeschlossen, um von der Bösen-Onkel-Propaganda wegzukommen. "Sinnvolle Prävention", meint die Pädagogin Ursula Enders, Mitbegründerin des Vereins, "darf weder Angst erzeugen noch die Abhängigkeit der Kinder und Jugendlichen von den Erwachsenen erhöhen, darf kein Vermeidungsverhalten empfehlen." 

Stattdessen soll Stärke und Unabhängigkeit der Kinder aufgebaut und gefördert, ihre Mobilität und Freiheit vergrößert werden. Erste Bücher und Spiele, mit denen Kinder lernen können, ihren Körper und ihre Gefühle zu schätzen, zwischen schönen und unangenehmen Berühungen, zwischen guten und gefährlichen Geheimnissen zu unterscheiden, vor allem aber: Nein zu sagen. 

Vorbild solcher Vorbeugungsprogramme ist das in den USA entwickelte "Child Assault Prevention Project" (CAPP), das in Kindergärten und Schulen seit zehn Jahren durchgeführt wird. Eltern, Lehrer und Erzieher werden in Workshops einbezogen. Botschaft für die Kinder: "Safe, strong, free". Sie lernen einen Selbstverteidigungsschrei und Hilfstechniken, vor allem aber, daß ihnen Schweigen nicht dient. Doch die Übertragung des Konzepts auf hiesige Verhältnisse schafft auch Probleme.  Die Zahl der Hilferufe von Kindern und Eltern steigt durch CAPP erfahrungsgemäß kräftig, das Beratungsangebot in der Bundesrepublik, schon jetzt lückenhaft, dürfte diesem Ansturm nicht gewachsen sein. In einem Kindergarten oder einer Grundschule will der Hamburger Verein "Zündfunke" im kommenden Jahr dennoch einen ersten Versuch starten. 

Das Patentrezept zur Verhindern von Gewalt gegen Kinder behauptet bislang noch niemand gefunden zu haben. Doch durch die Aufdeckung des Gewaltpotentials, die Diskussion seiner Ursachen, biete sich, meint Klaus Schmidt, Chef des Hamburger Kinder- und Jugendnotdienstes, ähnlich wie mit der gewandelten Haltung gegenüber der Umwelt und der Rechte der Frauen eine "reale Chance für eine bewußtere Gestaltung der Zukunft". 

Im September 1990 wollen Kinderschützer aus aller Welt sich zum achten Internationalen Kongreß über Kindesmißhandlung und -vernachlässigung in Hamburg treffen, um eine Zwischenbilanz zu ziehen und über Erfolg oder Folgenlosigkeit des bislang praktizierten Kinderschutz zu streiten. Eine Grundfrage: "Warum haben die Hilfen nur geringe präventive Bedeutung? 

"Was wir betreiben", meint Klaus Schmidt, "ist ein erster Ansatz von Friedensforschung in den privaten Verhältnissen." 

© Schimmeck