TOM SCHIMMECKs ARCHIV
1989

High Noon in Otjiwarongo

Ein namibisches Kaff in Zeiten des Umbruchs.

von Tom Schimmeck

G
enaugenommen ist Tim schon ziemlich betrunken, als wir mit Einbruch der Dunkelheit das Hotel Brumme verlassen, seinen weißen VW-Bus entern und zur Karnevalsfeier im Pfadfinderheim fahren. Er hat wohl, wie üblich, seit dem frühen Vormittag irgendeinen Whisky, vermengt mit Soda, durch seinen schütteren Bart gegossen, um gegen die trockene Hitze und dieses ganz generelle Gefühl von Leere anzukämpfen. Aber die hagere Gestalt des Hotelpächters Tim Wagener, Herr über 33 Angestellte und 21 Zimmer, hält sich aus purer Gewohnheit noch halbwegs aufrecht.

Die Stadt ist zu dieser frühen Abendstunde schon wie ausgestorben. Die weißen Einwohner haben sich hinter ihre Mauern und ihren Stacheldraht zurückgezogen und die Alarmanlage angeworfen. Wachköter schrammen kläffend an den Zäunen entlang; die Schilder, die vor ihrem zupackenden Biss warnen, sind durchaus ernst zu nehmen.

Auf dem Parkplatz des Pfadpfinderheims stehen eine Menge gepflegter Autos. Deutsche Schlagermusik weht vom mit bunten Glühbirnen erleuchteten Innenhof herüber, wo rund vier Dutzend zum Feiern entschlossene Deutschstämmige an langen, mit weißen Papierdecken und Plastikgrün verzierten Klapptischen niedergelassen haben. Ordentlich gekleidete weiße Kinder produzieren gedämpften Lärm. Zwei Paare versuchen sich kichernd beim Dart. Die Zielsicherheit scheint getrübt. Die Party währt schon eine Weile.

Skeptisch, wiewohl interessiert inspizieren Tims beste Kumpel den Eindringling aus Europa, reichen Bier zum Anwärmen und plaudern vom schönen Leben in Südwest. Das Wort führt Manfred Paetow, meist schlicht "das dünne M" genannt. Er ist Tischler und Vorsitzender der Rotarier Otjiwarongos, die in Tims Hotel jeden Freitag zum Lunch einkehren. Der schmächtige Frühfünfziger in Shorts und Polohemdchen versucht, den Blick eindringlich und ein wenig belehrend auf das Auditorium gerichtet, die Balance zwischen offenem Wort und diplomatischem Verschweigen zu finden. Europäische Ohren, das weiß man hier, sind manchmal ein wenig überempfindlich. Da will erst einmal sondiert werden, wes Geistes Kind der Fremde ist.

An den Wänden hinter der widerspenstigen Zapfanlage, die das Bier nur in dünnem Strahl freigibt, sind die Wimpel der Otjiwarongo Boy Scouts aufgehängt, Embleme der Sippen Reiher, Adler und Wildschwein. Ganz frisch eine Urkunde des südwestafrikanischen Hauptquartiers zum dreißigjährigen Bestehen vor einem Monat, die den Scouts einen wohlgesetzten Glückwunsch "für hervorragende Leistungen und den Beitrag zur Erziehung vorbildlicher Landesbürger" ausspricht. Ob denn das Pfadpfinderheim für alle offen ist? "Jaja, es ist für alle, aber faktisch...", das dünne M windet sich ein wenig. "Weisst du, die Eingeborenen schaffen die Organisation nicht, und die Beiträge..." Man dutzt sich gnadenlos in dieser kleinen Schicksalgemeinschaft, wo jeder jeden seit Jahrzehnten kennt. Die Frage ist nicht sonderlich willkommen.

Manfred Paetow hat es vor einem Vierteljahrhundert von Hamburg-Rissen nach Südwest alias Namibia verschlagen, wie genau ist nicht mehr so recht zu rekonstruieren. Bei denen, die nicht hier geboren sind, waren meist alte familiäre Bindungen im Spiel, oder eine Freundin in Südwest. Oder schlicht der Wunsch, der europäischen Hektik zu entfliehen. Tim etwa, geboren in Neumünster und jetzt fast 50, hat in jungen Jahren irgendwann beschlossen, daß die Jobs in Deutschland nichts für ihn sind und sich nach Afrika aufgemacht. Er versteht sich mit den Deutschen in Otjiwarongo, und auch mit den Buren, die er "Schlappohren" nennt. Die kleinen weißen Zirkel sind überschaubar, jeder hat seinen festen Platz. Man ist sich, meistens, einig. Eine Art dörflicher Gemeinschaft, geborgen in strengen, aber leicht erlernbaren Regeln, zusammengeschweißt in einem diffusen Gefühl der Bedrohung durch die Überzahl von Schwarzen. Da draussen in Orwetoweni, dem Township Otjiwarongos, abseits des weißen Zentrums gelegen, wo rund 11 000 Schwarze, vier Fünftel der Einwohner, sich ein Fünftel der Stadtfläche teilen. "Uns geht es gut, wir haben alles hier", sagt Tim und zählt gemeinsam mit dem dünnen M die soziokulturellen Errungenschaften des weißen Otjiwarongo auf: Zunächst die Rotarier und die Karnevalsgesellschaft natürlich und dazu den Reitverein, den Squash-, den Tennis-, den Golf- und den Faustballclub. Außerdem vier Kegelvereine. Das könne sich doch sehen lassen, meinen sie.

Und nun bricht die Demokratie herein und selbst die Karnevalsgesellschaft "Frohsinn und Humor" ist von ihr nicht verschont geblieben. Weil die Karnevalsprinzessin als Wahlhelferin eingespannt war, mußte der Eröffnungsabend dieser Saison um einen Tag verschoben werden - und nun ist sie doch nicht gekommen. Sitzungspräsident Dr. Tietz hebt trotzdem zur Büttenrede an, holpert Vers auf Vers in die klatschende, Helau-rufende Runde; müht sich, seinen irritierten Mitkarnevalisten in dieser unruhigen Zeit ein wenig entspannende Ablenkung zu verschaffen. Er spöttelt über Politiker, die im Wahlkampf das für ihn so geschwollen klingende Englisch bevorzugten. "Macht Euch also keine Sorgen, meine Lieben / Für uns ist das Wahlergebnis jetzt schon bekannt / Ab 11.11. regiert die KKP im ganzen Land!" KKP, erläutert Dr. Tietz im weiteren Verlauf seiner Reimattacke, das sei die Karnevalskoalitionspartei. Und die Zuhörer finden das brüllend komisch.

Herr Remmert, der Leiter der deutschen Schule, ist da und Herr Brockmann, Besitzer des örtlichen Fahrradgeschäfts, Enkel eines der ersten deutschen Missionare im Land. Und das "Grosse M": der selbständige Buchhalter Manfred Mai, Tims besonderer Spezi, ein kerniger Kumpeltyp mit Vollbart und rotem Käppie über dem runden Gesicht. Ein Schulterklopfer aus Berlin. Nachdem die Büttenrede überstanden ist, wenden sich die Männer ein wenig der Politik zu. Ihr Deutsch ist mit afrikaansen und englischen Einsprengseln durchsetzt. Sie sagen mooi und lekker für alles gute und schöne, bikkie für ein bisschen und allright und bloody. "Kommunismus, das choppt nicht mehr", meint einer am Tisch, "es muss gearbeitet werden und das tun nur die Weißen." Nein, man sei beileibe nicht rassistisch gesonnen, erläutert Rotarier Paetow eilig. "Der Schwarze hat einfach eine andere Mentalität. Der kann auch den ganzen Tag unter einem Baum sitzen und sich mit dem Schatten bewegen. Das ist dann auch die einzige Bewegung, die er macht." Genau, findet ein rotgesichtiger Farmer. Einer seiner Arbeiter, der habe nach vier Jahren einfach gekündigt, weil er nicht mehr arbeiten wollte. "Das ist das", schnaubt der Farmer, "aufm Arsch sitzen und nix mehr tun."

Ein gefährlicher Pfirsichschnaps macht die Runde und spült die ganze Pein des weißen Arbeitgebers frei. "Wenn der Schwarze...", brummt einer, "mein Schwarzer...", sagt das dünne M und erzählt von einem Angestellten in seiner Tischlerei, der nach ein paar Monaten, höchstens anderthalb Jahren, stets einen Rappel kriegt und eine Zeit lang aufhört. Der verdiene, teilt er auf vorsichtige Nachfrage hin mit, 350 Rand im Monat, knapp 250 Mark. Und irgendwie ärgert sich das dünne M, daß der dann einfach so geht: "Wenn ich ihn nicht mehr haben will, muß ich ihm 14 Tage vorher Bescheid sagen." Eigentlich empfindet er es sowieso als ein ziemliches Unding, daß auch die Schwarzen mit 18 Jahren schon wählen durften. "Die hätten das auf 25 raufsetzen müssen, weil der Schwarze noch gar nicht so weit ist."

Tim, der in der Zwischenzeit energisch gegen das Absinken des Whisky-Gehalts in seinem Blut eingeschritten ist, bringt ein neues, nicht minder drängendes Problem ein - die Öffnung der deutschen Schulen im Lande nach der Unabhängigkeit. Bislang hatten die Deutschen in Otjiwarongo ihre eigene Lehranstalt, überwacht von der Administration für Weiße, im Wappen ein spitzes etwas, daß an ein Stück Stacheldraht erinnert und darunter den Sinnspruch "Bauet am Erbe". Vor allem in den Internaten sei die Aufhebung der Rassentrennung tückisch, orakelt das dünne M, "weil der Schwarze ja rein naturmäßig viel weiter entwickelt sei als die Weißen." Die Väter scheuen sich, das etwas konkreter auszuführen. Aber ihre Minen verraten, daß ihre Phantasie wahre Horrorszenen produziert. Die unschuldigen hellhäutigen Töchter, im gleichen Internat mit gutgewachsenen, potenten schwarzen Jungs - das sind die wahren Schrecken der Unabhängigkeit. Notfalls, meint Tim, könne man die Schulen ja kaufen und privatisieren. Und die Schwarzen würden die deutsche Aufnahmeprüfung sowieso nicht bestehen. "Im Gegensatz zu den Afrikaaner-Schulen", fällt ihm ein und ein schadenfrohes Grinsen huscht über sein Gesicht. "Die Buren-Schulen sind am Arsch, weil die Schwarzen Afrikaans sprechen. Die Südafrikaner haben sie schließlich dazu gezwungen."

Plötzlich ist Schluss. Die Frauen räumen auf, ihre Gatten müssen "auf Streife". Seit einer Woche umkreisen die weißen Männer der Stadt nachts in kleinen Gruppen mit ihren Autos die Häuserblocks, nur zur Sicherheit, für alle Fälle, zehn Trupps zur gleichen Zeit.

Lallend, alle Kernsätze zweimal wiederholend, disputieren Tim und das große M, allein zurückgeblieben, über die Zukunft des Karnevalsvereins. Vor vielen Jahren war der Hoteldirektor einmal Karnevalsprinz - "Prinz Tim 1 von Pils und Korn". Wir passen aufeinander auf", freut er sich. "Kennst du schon die Geschichte von Tim und der Todesspirale?", fragt das grosse M und erzählt: Als Tim einmal nachts ins Hotel zurückkam, wollte er der Geliebten des Hotelwächters, die sich mit ihrem Freund in einen Tischdeckenstapel zurückgezogen hatte, zur Strafe in den Hintern treten, wie es Sitte ist im Umgang mit dem schwarzen Personal. Aufgrund seines nun schon bekannt labilen Dauerzustandes verfehlte der Hotelier sie jedoch knapp, rotierte mehrfach um die eigene Achse und setzte sich schliesslich auf sein eigenes Hinterteil. Die Episode muß schon unzählige Male aufbereitet worden sein, aber das große M scheint immer noch recht begeistert von dem Vorfall. Und auch Tim lächelt trotz der traumatischen Niederlage fast ein wenig stolz. Auch jetzt kann er nicht mehr richtig laufen, aber seinen VW-Bus besteigt er wacker. "Besoffen", erläutert Tim mit schwerer Zunge, fahren wir Südwester am besten." An der Heckklappe klebt ein Sticker: "Deutschland ist größer als die Bundesrepublik."

***

Otjiwarongo ist ein ganz gewöhnliches Städtchen in Namibia, gelegen zwischen riesigen Rinderfarmen an der Kreuzung zweier Hauptstraßen. Die eine führt vom einzig brauchbaren Atlantikhafen Walvis Bay, den die Südafrikaner auch nach der Unabhängigkeit des Landes gern behalten wollen zu den von den Kupfer-, Blei- und Zinkminen im Norden und weiter hoch ins Ovamboland. Bis vor ein paar Monaten war der Norden nur mit Passierscheinen von Polizei und Militär zu befahren, die Strasse fungierte als Rollbahn für Südafrikas Truppentransporte. Nachschub für den langen Krieg gegen die SWAPO und gelegentliche Ausfälle gegen Angolas Regierungstruppen und die ihnen beistehenden Kubaner. Die andere Teerpiste reicht von der Etosha-Pfanne, einen riesigen Nationalpark, wo Busladungen von Ahnungslosen wilden Tieren hinterherschauen, bis zur popeligen Haupstadt Windhoek.

Eine saftiggrüne, gut gewässerte Hecke umgibt Otjiwarongos weißen Friedhof. Die Kohls, Dieckmanns und Schäfers ruhen hier "in ihrer geliebten Südwester Erde", die van Rooyens, Du Plessis, De Klerks, van der Merwes und Bothas in „liefdevolle Herinnering". Es gibt eine Menge Doppelgräber für Ehepaare, nicht selten ist die eine Hälfte noch unbenutzt. Drei schwarze Arbeiter, erschöpft vom beständigen Harken des großen Areals, stützen sich in der Mittagshitze auf Grabsteine.

Vornan ist ein Plätzchen zum Gedenken an die Geschichte ausgespart. Drei nackte Fahnenmasten ragen in den blauen Himmel, drei sehr eckige Steine sind davor im Halbkreis aufgestellt. Der größere in der Mitte ist den in beiden Weltkriegen gefallenen Soldaten Südafrikas gewidmet. Am 26.Juni 1915 besetzten sie auch Otjiwarongo und machten der deutschen Herrschaft ein Ende :"At the going down of the sun / And in the morning / We will remember them". Die beiden kleineren Steine an den Außenflanken des Arrangements sind mit einer Art Cowboyhut verziert. Der linke dankt "den Pionieren von Südwest", der rechte "unseren gefallenen Kameraden der kaiserlichen Schutztruppe". Die haben am Waterberg, gar nicht weit entfernt, vor gut drei Generationen den aufständischen Hereros gezeigt, was gute deutsche Waffen sind. Als sich der Pulverqualm verzogen hatte, waren 80 000 Schwarze auf der Strecke geblieben, viele von ihnen verdurstet auf der Flucht.

Seine Existenz verdankt Otjiwarongo zuallererst der Bahnlinie, gebaut Anfang des Jahrhunderts von der deutschen Kolonialmacht, um die weiter nördlich gelegenen Mienen zu erschließen. Mitten in der dürren Wildnis ward 1906 eine Eisenstange in den Boden gerammt. Dort entstand die Hütte des Zugführer Krolls, der sich seine Perlhühner, den Reis und das Brot in einem Termitenhügel zubereitete. Er war der erste Weiße in jener Gegend, die die Hereros Otjiwarongo nannten - zu Deutsch: angenehmer Ort. Man hat ihm ein Denkmal spendiert. Das erste feste Haus war die Polizeistation.

Die heute dreieinhalb Tausend Weißen, gut die Hälfte Buren, knapp die Halfte deutschstämmig, beherrschen noch immer das Zentrum, die Van Riebeeck und die Vortrekkerstraat, die Bahnhofs- und die Hindenburgstrasse, mit ihren flachen Einfamilienhäusern, ihren Geschäften, Büros und Handwerksbetrieben. Entlang der sauber gefegten Hauptstrasse reihen sich Blumenhändler und Beerdigungsunternehmer, ein paar Banken und mindestens ebenso viele Bottlestores. In der Spielzeugecke des Schreibwarenladens gibt es für die Kinder Plastik-Casspirs zu kaufen, eine Miniaturversion der minensicheren Patroullienfahrzeuge, die ein Stück weiter im Norden zum Symbol südafrikanischer Unterdrückung geworden sind. In der Bäckerei Carstensen ziehen Mütter mit Dauerwellen frisch gekämmte blonde Kinder hinter sich her, auf weißen Tischdecken werden Kringel und Schweinsohren, Berliner, Bienenstich und Stollen serviert. Zehn Schritte daneben ein separater Eingang für die schwarze Kundschaft. Ein kleiner, pflegeleichter Raum mit klobigem Verkaufstresen, Resopaltischen und robustem Gestühl - die Schlichtversion ohne Topfpflanzen.

Otjiwarongos Ambiente erinnert an Wildwest-Filme der B-Klasse, in denen hart schuftende, selbstgewisse Siedler ruppig aber gerecht für Ordnung sorgen: Die Wilden sind bezwungen, alle Gewalt geht von den Zivilsatoren aus. Die endlose Weite der riesigen Rinderfarmen rund um die Stadt strahlt etwas beruhigendes, ewiggültiges aus. Wenn diese Ungewißheit nicht wäre, die Stimmung wäre fast gelassen. Der Büttenredner hat es gesagt: "Macht euch keine Sorgen, meine Lieben". Keine Spur von Schuld.

Das weiße Otjiwarongo wartet ab. Viele hatten anfangs nicht recht glauben wollen, daß die SWAPO wirklich die Wahlen gewinnen wurde. An den Laternenpfählen der Stadt waren nur die Fahnen der siegessicheren Turnhallen-Allianz zu sehen gewesen, jenes weiß-schwarzen Koalitionskonstrukts, das jahrelang "Übergangsregierung" spielte, gefördert und gefüttert von Südafrika, und plötzlich ganz eigenständig sein wollte. Aber man ist auch nicht wirklich entsetzt. Diejenigen, die sich partout nicht vorstellen konnten, je einem Schwarzen auch nur die Hand zu geben, sind ohnehin längst abgehauen, in aller Regel nach Südafrika. Doch die meisten blieben und haben behutsam ihre alte Angst abgebaut, von den schwarzen Guerilleros nach der Machtübernahme alle an die Wand gestellt zu werden. Kein Vergleich mit dem nördlichen Nachbarn Angola, wo - Mitte der 70er Jahre - schon vor der Unabhängigkeit von Portugal der Run auf die Flughäfen einsetzte und sich fast alle Weißen in Windeseile verkrümelten.

Die Bedrohung ist eher abstrakt. Was heißt schon Unabhängigkeit?, fragen sich die Weißen und fühlen sich unverzichtbar. "Wir brauchen die Schwarzen und die Schwarzen brauchen uns", meint der Inhaber des Souvenierladens in der Vortrekkerstraat, ein giftig dreinblickender Zeitgenosse. Seinen Namen möchte er lieber nicht nennen - "wegen der vielen Lügen, die über Südwest geschrieben werden", sagt er. "Hier ist es still und ruhig, alles gibt's zu kaufen."

In seinem Laden türmen sich Berge von "Eingeborenensachen" - holzgeschnitztes Getier, Masken, Geflochtenes - , fast alles importiert aus Südafrika. Dazwischen einige gläserne Humpen und Aschenbecher mit aufgedruckten Hakenkreuzen. An prominenter Stelle ist eine kaiserdeutsche Reichsfahne an die Wand gepinnt. "Ach, das ist lange her", murmelt der Souvenirkrämer betont beiläufig.

Er blickt durch das Schaufenster und verfolgt eines der allgegenwartigen weißen Autos, auf die in schwarzen Großbuchstaben UN gepinselt ist, die Dienstwagen der UNTAG, der United Nations Transitional Assistance Group. "Die UNTAG-Leute aus dem Ostblock essen sich hier erstmal richtig satt", brummelt er und seine Gattin hinterm Ladentisch meckert: "Für die ist das ein wunderbarer Urlaub." Dann schimpft der Finsterling über Südafrika, daß Namibia jahrzehntelang abhängig gehalten habe. Es gebe keine einzige Getreidemühle im Land, keine Käsefabrik, eigentlich überhaupt keine nennenswerte Produktion außer von Rindfleisch und Bier. "Die Großen", die Diamanten- und Uranbosse, hätten ihren Frieden mit der SWAPO längst gemacht. "Egal, wer drankommt, deren Geschäft geht weiter", macht er seinem mittelständischen Generalgroll Luft. Rundrum: Die Buren hätten keine Kultur und würden sich an ihre Posten bei Verwaltung, Post und Bahn klammern und die primitiven Schwarzen machten alles kaputt ("Wenn die nur 'ne Schraube reindrehen"), auch wenn da, ein kleiner Anfall von Liberalität, "gutmütige und gutherzige Leute bei sind". Und jetzt würden auch die Schulen, wo noch "echtes Deutschtum gepflegt" werde, für alle geöffnet. Das sei dann wie in Deutschland, wo wegen fünfzehn Türkenkindern... Ich türme. "Politik ist Scheiße," ruft er mir noch hinterher.

***

"Es gibt schon eine Menge Leute, die Rache nehmen wollen, aber die Führung sagt Nein", meint Alfred, ein charmanter Junge aus dem Township. Die Führung, daß ist mitnichten der Townshipverwalter Johann Meyer, ein bulliger Bure mit Knubbelnase, Anfang 50, der irritiert in seinem Büro in Orwetonweni sitzt und hofft, daß ihm die schwarzen Bewohner nicht an die Kehle gehen.  "Ich glaube nicht, daß es so drastische Änderungen geben wird", sagt er, wie um sich selbst zu beruhigen und starrt auf den Plan an der Wand, wo die Stammeszugehörigkeit in der Schwarzen-Siedlung nach alter Apartheid-Sitte fein säuberlich mit verschiedenen Farben markiert sind. Vor allem ist Meneer (Herr) Meyer ratlos. Seine Amtskarriere hat er bei der Sicherheitspolizei im südafrikanischen Potchefstroom begonnen, 1968 kam er nach Namibia - oder, wie er sagt, "Suidwes-Afrika". Und nun geht es ihm wie seinen Kollegen im Rathaus, die lustlos mit ihren Büroklammern spielen und nicht wissen, was wohl aus ihnen werden wird.

Die Führung, daß ist für Alfred und seine Freunde die SWAPO. Weil sie den Mund zu weit aufgemacht hatten, sind sie von der Schule geflogen und ziemlich weit gerannt, als der Direktor ihnen noch die Polizei hinterherschickte. Wenn Alfred, gerade 16, "wir" sagt, meint er die Befreiungsbewegung, Er zeigt mir die elendsten Ecken von Orwetoweni, wo Menschen, die vor dem Krieg im Norden flüchteten, unter Blech und Pappe hausen. Einige grüßen mit "Hi Comrades" und recken die Faust. Wir durchqueren die Okomboni, eine Ansammlung von Baracken, wo Arbeitslose, alte Frauen und Kinder den Tag vorüberziehen lassen. Hier und da bruzzeln auf verrosteten Tonnen und anderem improvisierten Kochgerät dürftige, wenig verlockend riechende Mahlzeiten. Die schiere Verzweifelung.  An einem einsam in der Mitte des Platzes stehenden Baum ist eine SWAPO-Fahne befestigt. "Wir müssen hier viel ändern", meint Alfred sehr bestimmt. Ob das weiße Otjiwarongo und das schwarze Orwetoweni je eine Stadt sein werden? "In fünf Jahren", glaubt der durch nichts zu entmutigende Junge, "wird das vielleicht zusammenwachsen."

Wir hatten uns an einem Dienstagvormittag kennengelernt, in jenem kurzen, aber historischen Augenblick, da das stille, gesittete Straßenleben von Otjiwarongo aus den Fugen geriet. Übers Radio war das letzte Ergebnis der Wahlen gekommen - aus dem Ovamboland, dem dichtbesiedelten Gebiet im Norden, wo die SWAPO über 90 Prozent der Stimmen bekam. Der Sieg der SWAPO stand fest. Im nächsten Moment ertönte draußen auf der Straße ein vielstimmiges Hupkonzert.  Schwarze Auto- und Lastwagenfahrer kurvten jauchzend durch die Stadt. Mitten auf der Vortrekkerstraat knäulte sich eine Ansammlung begeisterter SWAPO-Anhänger. Etwas abseits stand ein vereinzelter Polizist, ein älterer Mann, der sich am Gurt seiner über die Schulter gehängten Maschinenpistole festhielt. "Die Ladendiebstähle gehen gleich los", haspelte er, dem inneren Weltuntergang nah. "Dann gehen sie überall rein und sagen: 'Jetzt gehört uns alles.'"

Doch die Spontandemo fiel nicht über die Bottlestores her, sie zog im Laufschritt Richtung Township, begleitet von ein paar hupenden Autos, an denen kreischende Jugendliche in dichten Trauben hingen. Vorbei am Hauptquartier der unterlegenen Turnhallenallianz, wo sich ein Häuflein verschanzt hatte, daß trotzig, aber recht verzagt "Viva DTA" rief, hielten die Jubelnden Einzug in Orwetoweni. Staub aufwirbelnd stapften sie in Schlängellinien durch das Viertel, pfeifend, klatschend und singend im Rhythmus der Schritte: "One Namibia - one Nation!" "Auf diesen Augenblick", brüllte Alfred mir ganz stolz ins Ohr, "haben wir verdammt lange gewartet."

Ein paar Tage später feiert die SWAPO von Otjiwarongo den Erfolg ganz still im Kreise der Aktivisten. Im Garten von Mose Tjitendero, Chef des örtlichen Büros und nun auch gewähltes Mitglied der verfassunggebenden Versammlung in Windhoek, bruzzelt einiges auf dem Grill. Er baut sich in seinem kurzärmeligen, beigen Anzug, einer Mischung aus Safari und Zentralkomitee, im Mondlicht auf und unterbricht das gedämpfte Plaudern. Tjitendero spricht sehr eindringlich von Verantwortung und Mäßigung, von Spielregeln und dem guten Beispiel, was die SWAPO nun zu geben habe. "Wer am Boden liegt, wird nicht auch noch getreten" Es ist eine lange Ansprache, mit deutlich pädagogischen Zügen, aber nicht langweilig und alle lauschen andächtig. Der Professor kann gut reden, er hat Psychologie studiert und sein Vierteljahrhundert Exil auch sonst nicht verbummelt. "Das soll kein SWAPO-Land werden, meine Freunde", sagt der Chef richtig scharf, "macht da keinen Fehler."

In seinem Wohnzimmer hatten wir zuvor über die Zukunft geplaudert. "Wir brauchen jeden", sagt Mose Tjitendero, Chef des örtlichen SWAPO-Büros, "aber die Weißen fürchten immer noch die schwarzen Horden, die ihr Leben und ihren Besitz zerstören. Man darf ihre Angst nicht unterschätzen. Für sie ist sie real. Wir müssen ihnen zeigen, daß sie grundlos ist."

In den letzten Monaten hat er sich ziemlich abgestrampelt, um, wie er sagt, "den Mythos der blutrünstigen Terrortruppe zu zerstören". Er war beim Bürgermeister und hat auch die Geschäftsleute Otjiwarongos eingeladen. "Die sollten uns sehen, die menschliche Seite." Die Resonanz war ziemlich bescheiden. "Das ist eine kleine Stadt, die auf sehr engen Familienbeziehungen fußt", Tjitendero wirft die Arme resignierend in die Luft. "Aufgrund seiner Lage könnte es ein Nervenzentrum sein, aber es ist keins. Hier gibt es nur Sauberkeit und Konservativismus."

Am Mittag war ein Termin mit der Polizeiführung der Stadt anberaumt worden, sicher deren erste Begegnung mit der SWAPO ohne gezogene Waffe. "Ich glaube, die haben riesige emotionale Probleme", lacht Tjitendero, "die waren etwas demoralisiert." Die Polizisten fragten ihn, was denn künftig ihre Rolle sei. Er hat ihnen den Unterschied zwischen Ordnung und Unterdrückung zu erklären versucht. "Die fundamentalen Änderungen", doziert er, "werden Veränderungen der Haltung sein. Früher glaubte ich immer, wie seien von schlaueren Leuten unterdrückt worden. Aber unsere Unterdrücker sind genauso ignorant wie die Unterdrückten."

***

Als ich Tim zum ersten Mal in seinem kleinen Büro hinter der Public Bar des Hotel Brumme beim Geldzählen störte, hatte er etwas von einer gespannten Lage gemurmelt. Die Wahlen waren voll im Gange. "Alle sind nervös, jeder ist gereizt", befand er, über kleine Häuflein von Rand-Noten gebeugt, "ich bin froh, wenn es vorbei ist".

Er war deutlich in Sorge um die wirtschaftliche Zukunft des Hotels. "Rein wirtschaftlich ist ja noch alles in Ordnung, auch wenn das südafrikanische Militär weg ist. Den stand Namibia finanziell bis hier", sagte Tim und rasierte sich mit dem Handrücken über die Kehle. Die vielen UNO-Soldaten und -Polizisten, die mit ihren weißen Autos überall herumstreunen, haben einen kleinen neuen Boom ausgelöst. Tims Hotel verköstigt jeden Abend ein paar uniformierte Aufpasser, die von irgendwo zwischen Dänemark und Kenia kommen. "Was früher das südafrikanische Militär an Umsatz gebracht hat, bringt jetzt die UNTAG", meinte Tim und warf einen beruhigten Blick auf den stabilen Tresor in der Ecke seines Büros.

Nun steht das Wahlergebnis fest, aber das Hotel Brumme kann sowas nicht erschüttern. Vielleicht werden ein paar Bier mehr als sonst getrunken. Tim steht in der Bar, noch deutlich angeschlagen von den Exzessen der Karnevalsfeier. Sein vorsichtiges Begrüßungslächeln entblößt schlechte Zähne. Der Brauereivertreter aus Swakopmund, den sie den weißen Riesen nennen, kommt energisch durch die schwingende Kneipentür geschritten.  Er hat das Endergebnis im Autoradio vernommen.  "So eine Scheiße", sagte er zur Begrüßung und schüttelt Tim die Hand.

"Ja, wir haben verkackt", meint Tim.

"Aber 'ne gute Oppositionspartei ist auch was schönes", tröstet sich der weiße Riese.

"Genau. Jetzt müssen die machen und wir gucken zu. Mal sehen, ob die das besser können."

Am Abend lassen Männer in kurzärmeligen Hemden die Knobelbecher in der Bar auf den Tresen knallen. Wimpel fast aller bundesdeutscher Fussballvereine hängen über dem Getränkeregal, der Busen eines Pin-Up-Girls auf einem Kalender ist mit zwei kleinen Aufklebern der Turnhallen- Allianz verziert, der in dieser Kneipe favorisierten Partei. "Besser Fremdenverkehr als gar keinen", verkündet einer der vielen Sticker, ein anderer zeigt Franz-Josef Strauss. In einer Zigarrenkiste im Schrank verwahrt Tim ein Autogramm des verblichenen Bayern.

Die würfelnden Stammkunden machen nicht viele Worte, Politik ist tabu, außer daß sie sich gelegentlich in bitterem Scherz mit Comrade anreden. Ein kleiner Steppke hockt auf dem Tresen und saugt mit verdrehten Augen an Vatis Zigarette. Der Vater, ein Polizist, starrt versunken in die Flaschenansammlung hinter dem Tresen. In gemessenem Abstand von der Würfelrunde sitzen zwei schwarze Frauen, die Kleider in den rot-grün-blauen Farben der SWAPO tragen, darauf ein Bild vom Anführer Sam Nujoma.  Schweigend, mit einem sehr entschlossenen Gesichtsausdruck, pfeifen sie ein paar Flaschen Windhoek Lager ein. Keiner beachtet sie. Die Schlacht ist geschlagen.

***

Schräg gegenüber, bei ST Motors, versucht man schon, sich auf die neue Zeit einzurichten. Der alte Van Pittius ist noch ein bißchen verschreckt. "Das ist unser Land, ich bin über sechzig Jahre hier, ich kämpf das aus", sagt er starrsinnig und betrachtet mißtrauisch seine schwarzen Angestellten. "Als die Sklaven in Amerika frei wurden, waren sie auch nur einen Tag betrunken und kamen dann wieder zur Arbeit."

Aber sein Sohn Jan Grey, 43 Jahre alt, ist der lebende Wandel. Als guter Bure hat er natürlich ACN gewählt, die rein weiße Aksie Christelik Nasionaal, doch die SWAPO flößt ihm keine Angst mehr ein, seitdem er Mose Tjitendero einige Male zum Kaffeetrinken traf. "Er hat uns versprochen, daß das hier kein kommunistisches Land wird. Er hat zugegeben, daß sie auch Fehler gemacht haben. Mein Bild von der SWAPO hat sich völlig verändert." Nachdenklich, fast ein wenig weggetreten, sitzt Jan Gey Van Pittius in seinem durch Glaswände abgeteilten Büro. Er hat Zeit, die Ungewißheit im Lande lähmt das Geschäft. "Wir verkaufen fast nichts, weil alle warten. Wir warten, wir wollen jetzt von jemandem etwas hören."

Er ärgert sich über "die ganz Rechten", die sich aus dem Staub gemacht haben. Zweihundert ungefähr, schätzt er, Farmer und Bürokraten vor allem, die aus Angst vor der Unabhängigkeit Namibias schon seit 1978 abwanderten. Es erscheint ihm einfach unlogisch. "Wenn wir nach Südafrika gehen, sind wir in ein paar Jahren in der gleichen Situation. Namibia ist doch ein Test für Südafrika." Und über Südafrika, daß für seinen Geschmack viel zu spät nachgegeben hat: "Erst als die Kubaner nach Angola kamen, wurde es für sie zu teuer. Wir haben eine Menge Zeit und Geld verloren."

Als Van Pittius junior noch jünger war, ist er viel im Norden herumgereist, um Autos zu verkaufen. "Ich hatte gute Freunde im Ovamboland, wir haben oft diskutiert. Einige sind später zur SWAPO gegangen, um zu kämpfen. Die waren nicht dumm, sie müssen einen Grund gehabt haben." Wenn schon eine schwarze Regierung, dann SWAPO, meint Van Pittius: "Die haben die besseren Leute."

Als die UNTAG vor einigen Monaten in Otjiwarongo einzog, hat Jan Gey Van Pittius eine Party gegeben. Er hatte unmittelbaren Anlaß dazu, denn schließlich ist er Besitzer des Hauses, das nun das Hauptquartier der Vereinten Nationen beherbergt - eine ehemalige Garage, frisch getüncht, an deren Wänden bunte Plakate Namibia eine freie und faire Zukunft versprechen. Doch Van Pittius Party war keine reine Formsache, sie hatte symbolische Bedeutung. Zum allerersten Mal in der Geschichte der Stadt feierten Schwarze und Weiße gemeinsam. Der Juniorchef war zuvor ein bisschen in Sorge, daß die weiße Kundschaft ihn ob dieses Frevels boykottieren würde. "Ich wußte nicht, wie das ausgeht", erklärt er ein wenig verschämt und guckt, als ob er das Abenteuer seines Lebens bestanden habe. "Ich hatte tatsächlich einigen Ärger hinterher. Aber für mich ist das ganz normal - jetzt."

"Ich möchte die Vergangenheit vergessen", sagt der Autohändler, "und einen neuen Anfang machen."

Für Ismat Steiner, den UNTAG-Chef aus Tanzania mit Wohnsitz in New York, war diese Party ein echter Hoffnungsschimmer. "Als wir hier ankamen, stand einfach fest, daß die verschiedenen Hautfarben sich nicht mischen, nichts gemeinsam machen", sagt er. "Am Anfang haben uns speziell die Weißen nicht gemocht.  Sie haben uns vor die Autos gekackt und uns übel beschimpft, von fok off (afrikaans für "fuck off") bis..., oh das waren ziemlich schlimme Worte. Sie haben uns Autos besprüht, die Reifen aufgeschlitzt und die Spiegel zerbrochen. Irgendwie sind diese weißen Autos ein Symbol geworden. Physisch haben sie uns nichts getan, aber unsere Autos haben verdammt viel Prügel abbekommen. Wir haben viele solcher Fälle an die örtliche Polizei weitergemeldet, aber die waren nicht besonders scharf darauf, das zu verfolgen. Ich versuche, das zu vergessen."

In dieser Zeit kam die Einladung zu Party. Steiner hatte ihn gewarnt. denn die erste UNTAG-Crew bestand aus aus einem guten Dutzend Ägyptern, Nigerianern, Ungarn plus einer Russin. "Ich habe ihm gesagt: 'Es kommen nur Schwarze und Kommunisten'. Er hat gesagt: 'Kein Problem'. Ich sagte: 'Wir kommen, aber wir wollen nicht nur in weiße Gesichter gucken, deswegen sind wir nicht hier.'" Van Pittius versprachs und hielt Wort. "Wir haben bis tief in die Nacht getrunken und getanzt", berichtet Steiner, erst hinterher habe ich erfahren, daß dies in der Geschichte der Stadt das erste soziale Ereignis war, wo Menschen verschiedener Rassen zusammenkamen." Er hat den Vorfall zur allgemeinen Ermutigung ans Hauptquartier in Windhoek weitergemeldet.

Mister Steiner ist ein entspannter Typ, realistisch mit einem Schuß Zynismus. Wir plaudern über die Geschichte seiner ostafrikanischen Heimat Tansania, auch eine ehemalige deutsche Kolonie, und die merkwürdigen Anwandlungen des Julius Nyerere, der sein Vorbild irgendwann in China ausmachte. "Ich sage meinen Freunden von der SWAPO immer: Macht nicht die gleichen Fehler, das haben die Leute verdient." Der UNTAG-Boss glaubt daran, daß Otjiwarongo eine Chance hat. Innerhalb eines halben Jahres habe sich viel getan. Zuerst hätten ihn zum Beispiel alle Schwarzen mit Master angeredet - obwohl er selbst schwarz ist, aber eben sichtbar Chef. "So war das hier eben.  An der Tankstelle hieß ich vor einigen Monaten auch Master und nun brüllen die Leute: 'Hey, Steiner!'."

Selbst die örtliche Polizei arbeitet jetzt zuweilen mit seinen Leuten zusammen - seit August, als ein junger weißer Polizist draußen bei den Okomboni-Baracken nach einer Schießerei erschlagen wurde. "Das ist eine herbe Gegend, die Polizei ist da nicht sonderlich willkommen", meint Steiner trocken. "Und es war Sonntagnacht, wo Leute hier traditionell eine Menge trinken. Angeblich wollten sie einen geflohenen Einbrecher verhaften. Die Leute dort haben uns das ganz anders erzählt. Ich weiß es nicht, ich war nicht dabei." Er zuckt mit den Schultern.

"Es ist eine nette Stadt, trotz Wasserknappheit", sagt Ismat Steiner zum Abschied. "Ich würde nicht behaupten, daß ich sie liebe, aber sie ist o.k."

Auch Bruder Norbert, katholischer weißer Priester im schwarzen Township, ist nicht übermäßig entsetzt oder auch nur verwundert über den Tod des Polizisten gleich nebenan. "Das war pure Dummheit der Polizeiführung, im Dunkeln da einen jungen Polizisten hinzuschicken, so ein Blödsinn."

Seit vier Jahrzehnten lebt der Priester in schwarzen Gemeinden, die Welt der weißen Siedler ist ihm fremd geworden. Nur nebenher bedient er noch die weiße Gemeinde "da drüben", Bruder Norbert macht eine verächtliche Handbewegung Richtung Stadt - "zwei bis vier Getreue, nur wenn mal jemand bekanntes stirbt, ist es voll".  Diese "Apartheidgemeinde", findet er, dürfe es eigentlich nicht geben. Aber die Weißen würden ums Verrecken nicht zum Gottesdienst ins Township kommen. "Das ist keine Weigerung, das ist Dummheit", flucht ihr Priester.  "Die Gottesdienste hier sind lebendig, da drüben" - noch so eine Handbewegung - "muss man sich abrackern."

"Wat hat sich geändert?", fragt Bruder Norbert aus Mülheim an der Ruhr in seiner kleinen, mit Papierstapeln vollgepackten Studierstube und wedelt mit einem blümchenbedruckten Lineal. Das Resümee fällt bescheiden aus. "Gut, bei Banken und der Post gibt es mehr Einheimische und keine getrennten Schalter für Schwarze und Weiße mehr." Aber die Welten sind nach Rassen getrennt wie eh und je, und die Löhne, wenn überhaupt Arbeit da ist, grundverschieden. Er ist wenig zuversichtlich, daß sich das in naher Zukunft ändern wird. "Der Ton macht die Musik. Zwischenmenschliche Beziehungen kann keine Regierung ändern", sagt er, "und es gibt Spannungen und sehr viel Skepsis."

Wie es ihm als Priester beider Seiten ergeht? "Naja", sagt er fast entschuldigend, "ein Farmer, der von morgens bis abends seine Analphabeten anschreit, hat ein anderes Verhältnis zu Schwarzen. Das is klar, daß die mir sagen: Du bist ein Kommunist."

***

Manchmal ist es nicht ratsam, den Weißen Otjiwarongos zu nahe zu kommen. Jener dubiosen Combo etwa, die am Abend der Stimmenauszählung vor der Stadiontribüne am Stadtrand herumlungert. Drinnen hantieren die Beamten der südafrikanischen Generaladministrators und die UNTAG- Aufpasser seit Stunden mit den Wahlurnen. Draußen im grünen sitzen ein Polizist und eine junge Frau in Zivil, die mit besorgter Mine die Ergebnisse aus allen Bezirken des Landes notieren, die das Radio vor ihnen jedesmal mit dramatischem Gepiepe angekündigt. Ein zweiter Polizist, schwer bewaffnet, Kippe im Mund, gesellt sich zu ihnen. Sie starren auf ihre Notizen und diskutieren in Afrikaans. Ein kleiner, dicker Wichtigtuer in zu engen Jeans watschelt um die Gruppe herum, eine Diet Coke in der einen, ein Walkie Talkie in der anderen Hand. Ab und an tätschelt er dem Schäferhund auf seinem Jeep die Schnauze.

Als ich mich näher heranwage, um mit ihnen zu plaudern raunzt der Fettwanst auf deutsch: "Das ist kein guter Zeitpunkt, hier irgendwelche Beobachtungen zu machen." Wer er denn sei, versuche ich zu erfahren. Er dreht sich brüsk um, sein Schäferhund knurrt, die Polizisten heben alarmiert die Köpfe. Auch er ist bewaffnet. "Das ist ein Beobachter der Acsie Christelik Nasionaal", flüstern mir später ein Schwarzer zu, der die Szene beobachtet hat. "Vergiß es."

In der Bar im Obergeschoß des Hotel Brumme eifert eine kleine Runde alteingesessener Weißer über die schmackhafteste Zubereitung von Gemsbock- und Kudu-Fleisch, um sich sogleich den aktuellen Gallenbeschwerden zuzuwenden. Lange wird die Frage ventiliert, wieviel Whisky und Korn man unbeschadet trinken darf und warum man vor dem Fleischverzehr besser das Fett abschneidet.

Die Atmosphäre trübt sich schlagartig, als Eddy Kaugummi kauend den Raum betritt. Auch er trägt jenen SWAPO-Stoff mit dem Konterfei von Sam Nujoma, verarbeitet zu Hemd und Hose, ein schmucker Dress. Wiegenden Schrittes durchquert er die Lounge, seine ganze Erscheinung ein einziges Ihr-könnt-mich-mal. Bis vor kurzem war Eddy Kämpfer der PLAN, der People's Liberation Army of Namibia, der militärische Flügel der SWAPO. Die Damen und Herren an der Bar, die das wohl ahnen, nehmen seinen Auftritt mit ungnädigen Minen auf und schweigen.

Ein paar Tage zuvor hatte er sich zusammen mit zwei befreundeten Hotelboys unten in der Halle fotografieren lassen, breit grinsend und in Victory-Pose. Eddy erzählt vom Guerilla-Krieg im Norden, von nächtlichen Touren durch matschiges Terrain, von Hunger und Übermüdung, von den Casspirs und Helikoptern der Südafrikaner. Er war dabei, als am 1.April, dem Tag, da das UN-Arrangement endlich in Kraft treten sollte, eine große Gruppe von SWAPO-Kämpfern über die Grenze nach Namibia kam: "Man hat uns gesagt, wir sollten uns sammeln, um uns bei der UNTAG zu melden." Die Südafrikaner aber interpretierten das als Großangriff und ballerten, was das Zeug hielt. "Wir haben mit den Leuten getrunken und gefeiert.  Plötzlich hat's geknallt," sagt Eddy. "Wir sind verdammt weit gerannt.  An meinen Füßen kann man das noch sehen." Mehr als 300 Plan-Fighter starben, über tausend flohen wie Eddy zurück nach Angola. Kein furioser Start für den Unabhängigkeits-Fahrplan der UNO.

Hobbyboxer Eddy, gerade 28, hat eine Freundin in der DDR und einen Sohn, der jetzt sechs sein dürfte. Er hat dort eine Buschkrieg-Pause eingelegt, in Dresden, Magdeburg und Leipzig, und dank Vermittlung der SWAPO Maschinenbau studiert. Freundin und Kind haben seit Jahren nichts von ihm gehört - und er nichts von ihnen. "Im Busch geht nichts, man denkt nur daran, zu überleben."

Vor zwei Monaten ist er in seine Geburtsstadt zurückgekehrt und seither angenehm überrascht. "Die Atmosphäre ist ziemlich in Ordnung hier," meint er und linst über seine Schulter zu der 15 Schritte entfernten Runde an der Bar hinüber, "selbst bei den Weißen. Vor ein paar Jahren hätte ich hier noch nicht sitzen dürfen. Aber wir brauchen sie, ihr Wissen, ihren Erfahrung, ihre bessere Ausbildung. Und viele von ihnen sind hier geboren und, verdammt, Bürger dieses Landes. Ich hoffe, wir können bald zusammen Bier trinken, in ein, zwei Jahren."

Je länger wir reden, desto mehr verfliegt sein Optimismus. Eigentlich, meint er plötzlich, sei es noch immer fast unmöglich, einen weißen Freund zu haben. "Die sind ziemlich agressiv hier, vielleicht, weil sie primitiv sind. Für die ist ein Schwarzer wie ein Hund.  Aber sie werden sich verändern. Einige laufen jetzt weg, ich weiß nicht warum. Wir nehmen ihnen nichts weg und bringen sie schon gar nicht um. Ich habe keine Probleme mit den Weißen und ich beschimpfe sie auch nicht", grinst Eddy und riskiert einen zweiten, resignierteren Blick Richtung Bar. "Da ende ich nur im Krankenhaus."

Im Keller geht derweil alles den gewohnten Gang. Der Kegelclub "Goldene Neun" grüßt sich wie immer mit "Gut Holz". Am Ende der beiden alten, abgeschrammten Holzbahnen stehen zwei schwitzende schwarze Boys mit nacktem Oberkörper, die nach jedem Wurf die Figuren aufrichten, die Kugel zurückbefördern und die Punktzahl anzeigen müssen. Fallen alle Neune, wird eine Glocke geläutet.

Die Kegelbrüder sind ausgelassen. Angst vor der Zukunft? "Wir fühlen uns prima", verkünden sie und ordern eine neue Runde Bier. Der Zeitungshändler aus der Vortekkerstraat landet einen guten Wurf und stößt ekstatische Schreie aus. Im Radio läuft nebenher das Ausscheidungsspiel Wales gegen Deutschland, wo Rudi Völler gerade das erlösende 1:1 schießt. Jubel.

Die Stimmung steht auf Und-wenn-schon. "Den Blackies, den geht‘s doch gut", gröhlt einer, aber "der Sam" - SWAPO-Chef Nujoma ist gemeint - "der hat keine Ahnung, der war ja fast 30 Jahre nicht im Land." "Wir Zugereisten", sagt der alte Bäcker Carstensen, der auch schon ein paar Jahrzehnte hier ist, "haben sowieso einen besseren Draht zu den Schwarzen." Und diese Apartheid wär ja ein Fluch gewesen, meint der Pensionär. Klar gebe es große Rassenunterschiede. "Aber sowas per Gesetz festzuschreiben, ist doch Quatsch.  Ich persönlich hab keine Bammel." Wir, sie sind sich wieder einig, sind es nicht gewesen.

Bei der Abreise am nächsten morgen schaut mir die schwarze Putzfrau, die nie einen Ton von sich gab, in die Augen. "Ich hatte solche Angst, daß die SWAPO es nicht schafft. Ich weiß nicht, ob jetzt viel passiert. Aber wir wissen, wie es vorher war." Sie lächelt. "Es kann nur besser werden. Gute Reise."


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