Stacheldraht und Käseigel

Rezension: Steffen Mau: "Sortiermaschinen - Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert", C.H. Beck Verlag, 189 Seiten, 14,95 Euro (ISBN 978-3-406-77570-3)

Die Globalisierung lasse Grenzen keineswegs verschwinden, sie verfeinere nur ihre Filterwirkung. Das ist Steffen Maus zentrale These in seinem neuen Buch "Sortiermaschinen - Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert". Mau, Professor für Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität, analysiert diesen Verfeinerungsprozess, der einer kleinen Schar von "Erwünschten" viel Freiheit gew‰hrt, während er die wachsende Schar der "Unerwünschten" immer raffinierter ein- und ausgrenzt, mit Hilfe von Abkommen, Grenzschützern, neuen Zäunen und immer "smarterer" Technik.

von Tom Schimmeck

(Radioberichte …verteidigen griechische Polizisten und Soldaten die Staatsgrenze mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Flüchtlinge)

Zitat „Die dramatischen Bilder von der türkisch-griechischen Grenze, die im Frühjahr 2020 über unsere Fernsehschirme flimmerten, waren an Wucht nicht zu überbieten: …türkische Sicherheitskräfte, die Menschen auf die Grenze zutrieben, dazwischen Elendslager…, eine griechische Grenzpolizei, die hektisch Betonsperren aufstellte und Stacheldraht ausrollte, aufflackernde Blendgranaten, dazu mannshohe Hochleistungsventilatoren, die Tränengaswolken auf die türkische Seite hinüberbliesen.“

„Borders are back!“ – die Grenzen sind zurück – so ist das erste Kapitel dieses Buches überschrieben. Steffen Mau führt uns schnurstracks an einen Ort, wo das deutlich wird. Und wehtut. Wo in den vergangenen Jahren immer wieder auch die Grenzen des Anstands und der Rechtsstaatlichkeit der EU getestet wurden: die Südostgrenze Europas. Uns glücklichen Schengen-Bürgern wird schnell klar: Wir sind einer Illusion aufgesessen. Dass die globalisierte Welt allen mehr Freiheit schenken wird.

Zitat „Die Grenze schaffte es 2009 sogar zusammen mit dem Paternoster, dem Käseigel und dem Kassettenrecorder in das ‚Lexikon der verschwundenen Dinge‘.“

Mau: „Und dann sind wir in diese Globalisierungseuphorie hineingegangen und haben gedacht: Jetzt entgrenzt sich die ganze Welt. Jeder kann mobil sein, wir können überall hin. Grenzen sind Relikte der Vergangenheit und werden vielleicht dann in einer postnationalen Gesellschaft keine Rolle mehr spielen. Und heute muss man eben sagen: Das war eine sehr einseitige Sicht auf die Prozesse, die da abgegangen sind. Und ich würde heute sagen: Neue Grenzen oder Fortifizierung von Grenzen, auch neue Grenztechnologien, sind keine Antiglobalisierung, auch kein Zurückdrehen der Globalisierung, sondern die haben von Anfang an zu diesem Globalisierungsprozess dazugehört. Also es gibt sozusagen eine Janusköpfigkeit des Prozesses, es gibt Öffnungsglobalisierung und Schließungsglobalisierung.“

Der Forscher beschäftigt sich schon lange mit modernen Grenzregimen. Mau, geboren 1968 in Rostock, weiß, wovon er redet. Auch er erlebte als junger Mann plötzlich diese Freiheit, die Welt zu entdecken. Und tatsächlich wurden viele Grenzen, virtuell und physisch, ja durchlässiger. Dafür sorgten das Internet, die Kultur, der Massentourismus, die Globalisierung von Produktion und Handel, die Weltfinanzströme. Doch dem Soziologen Mau fiel bald auf, wie ungleich auch schrankenlose Mobilität verteilt ist, wie sehr dieses Glück ein Privileg von wenigen ist.

Zitat „Die Grenze als Sortiermaschine ist ein Ungleichheitsgenerator, wie es vermutlich keinen zweiten gibt.“

Hier die „Habenichtse“, die Verfolgten, die Staatenlosen, die sich im Schutz der Dunkelheit auf Schlauchboote drängen oder unter rostigem Stacheldraht durchzwängen, in steter Angst vor Entdeckung, Prügel und „Pushbacks“. Dort die die „Powerpassport“-Besitzer, die auf der „fast lane“ an allen Hürden vorbeiwehen. Die Oligarchen, die sich einen „goldenen Pass“ kaufen, auf Malta, Zypern, vielleicht auch in Portugal oder Österreich.

Mau: „Das heißt letzten Endes, dass für diejenigen, die willkommen sind und die zu diesen privilegierten Gruppen dazugehören, eine Grenze nicht anders funktioniert als eine gläserner Kaufhaustür: Sie öffnet sich, wenn sie da herangehen, und sie schließt sich hinter ihnen. Und für alle anderen ist diese Grenze dann eine unüberwindbare Barriere.“

„Moderne“ Grenzen, zeigt uns Mau, werden immer rigider, ihre Kontrolltechnologie immer perfekter. Kein Mensch ist illegal? Leider doch. Mau erklärt uns in allen Facetten, wen diese modernen Sortiermaschinen ausgrenzen, wie ihre Filter funktionieren, wem dies alles nützt. Sein Buch hilft, Weltentwicklungen besser zu verstehen. Auch weil es verschiedene Ebenen zusammendenkt: soziale, politische, militärische, technologische. Und so manches, das man schon irgendwie zu wissen glaubte, in ein helleres Licht, einen klaren Kontext rückt.

Zitat „Wer nicht nur den Pass kontrolliert, sondern auch Zugriff auf Daten zu Konsum, Bewegung oder sozialem Medienverhalten hat, der muss sich nicht mit pauschalen Zuordnungen begnügen, sondern kann über Scoringverfahren individualisierte Bewertungen vornehmen. Formen der algorithmischen Regulierung entstehen dann, wenn diese Daten dazu benutzt werden, um automatisierte Entscheidungen zu fällen und ein dauerhaftes Monitoring zu installieren.“

Da kommt einem etwa das berüchtigte chinesische System der Sozialkredite in den Sinn. Gepaart mit biometrischer Erkennung allerorten entstünde so ein System, in dem jede Tür zur Grenze wird. Nur die „Guten“ kommen durch. Ihr Gesicht ist ihr Pass.

Mau: „Man kann dann natürlich auch Risikoklassifikationen individualisieren. Das ist sozusagen der Weg in die individualisierte Grenze, wo wir Information über bestimmte Personen mit Möglichkeiten verknüpfen können.“

Nachfrage per Email an den Autor: Was denkt er über den gerade so häufig gehörten Satz: „2015 darf sich nicht wiederholen“?

Mau: „Das ist eine Abgrenzungsformel. Afghanistan ist mich ein besonders eindrückliches Beispiel für die Immobilisierung von Menschen durch Pässe und Visa. Wer nirgendwo rein darf, kommt auch nicht raus...“

80 Prozent der Menschheit, so Maus grobe Schätzung, haben noch nie eine Grenze überquert, noch nie ein Flugzeug bestiegen. Was wir Privilegierten jetzt unter Corona sehr moderat als temporäre Einschränkung erfahren, ist die Grunderfahrung der allmeisten Menschen auf diesem Globus.

Steffen Mau schreibt als Wissenschaftler, aber auch als Bürger und Mensch. Das tut dem Text sehr gut. Er analysiert die Zusammenhänge kühl und präzise, aber sie lassen ihn nicht kalt. Seinem Buch hat er ein Zitat aus Berthold Brechts Flüchtlingsgesprächen vorangestellt:

„Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann. und doch nicht anerkannt wird.“


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